Die rosa Farbe war von der Feuerwehr schon abgewaschen, als sich die „Spitzen aus Politik und Verwaltung“ am Ehrenmal vor dem Neuen Rathaus versammelten. Es ist nicht davon auszugehen, dass jemand von diesen Offiziellen ohne die Verpflichtung ihres Jobs an einer Volkstrauertagsverstaltung teilnehmen würde – die Empörung über die „Schändung“ war entsprechend „professionell“. Man zeigte sich fassungslos und erschüttert.

Am Ort des Geschehens war ein Bekennerschreiben einer „Aktionsgruppe Deutsche Opfermythen Schottern“ hinterlegt (siehe S. 26). Darin wird kritisiert, dass beim Volkstrauertag Deutschlands Verantwortung für zwei Weltkriege und Auschwitz heruntergespielt würden – aus Täter_innen würden Opfer gemacht.

Dies nahm der SPD-Ratsfraktionsvorsitzende, Jens Rejmann, zum Anlass zu behaupten: „Die haben von der Geschichte offenbar keine Ahnung, wenn sie behaupten, dass an diesem Tag aus Tätern Opfer gemacht werden sollen.” Und Oberbürgermeister Mende ergänzte: „Ich bin ja selber eher einer vom linken Spektrum – das war für mich aber immer selbstverständlich, auch in der Jugend, dass wir zum Volkstrauertag hingegangen sind.“ Merkwürdig: Teile unserer Redaktion gehören zur Generation Mendes – aber wir kennen keinen einzigen Jugendlichen, der je mit einer anderen Absicht zum Volkstrauertag gegangen wäre als der zu stören. Und die Geschichte des Volkstrauertages lässt sich nun wirklich nicht als sozialdemokratische Friedensveranstaltung lesen.

 

Von Helden und Opfern

Eine von Alexandra Kaiser im Herbst vergangenen Jahres veröffentlichte Studie „Von Helden und Opfern“ zur Geschichte des Volkstrauertages belegt, dass dieser Gedenktag bei allen sich wandelnden Bedeutungen und Inszenierungen nie unpolitisch war und immer auf die „Opfer der Volksgemeinschaft“ abzielte.

Anders als es der ausrichtende Volksbund für Kriegsgräberfürsorge (VDK) glauben machen will, genoss der Volkstrauertag zu keiner Zeit Rückhalt in der gesamten Bevölkerung: So mischte sich in der Weimarer Republik die Trauer um die Soldaten mit der Trauer um das untergegangene Kaiserreich - und es ging darum, den Soldatentod mit Sinn zu belegen. Das war ein Programm der politischen Rechten und durchaus nicht kompatibel mit den Vorstellungen der Arbeiterbewegung.

„Die revanchistische Deutung des Soldatentodes, die der Volksbund bereits in den 1920er Jahren propagiert hatte [...], war unmittelbar anschlussfähig für den NSOpferkult“, schreibt die Historikerin Alexandra Kaiser. Und so erfuhr der Volkstrauertag 1934 eine Aufwertung zum reichsweiten Gedenktag. „Heldengedenktag“ hieß er nun, was der gleichgeschaltete VDK enthusiastisch begrüßte: „Heldentag statt Volkstrauertag! Bedeutsam ist diese Namensgebung, die vom ganzen deutschen Volke auf das wärmste begrüßt wird, und nun auch äußerlich das ausdrückt, was der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge von Anfang an angestrebt hat.“ Mit den im Nationalsozialismus pompös gestalteten Feiern verfestigte sich übrigens die Formgestalt des Gedenktages, etwa die „stille Kranzniederlegung“ – sie setzte sich erst im NS durch.

Das „Lied vom guten Kameraden“ bildet seit 1924 einen festen Bestandteil der Feiern. „Ich hatt' einen Kameraden' / einen bessern findst du nit. / Die Trommel schlug zum Streite, / er ging an meiner Seite / In gleichem Schritt und Tritt. // Eine Kugel kam geflogen: / „Gilt's mir oder gilt es dir?" / Ihn hat es weggerissen, / er liegt mir vor den Füßen / Als war's ein Stück von mir. // Will mir die Hand noch reichen, / derweil ich eben lad': / „Kann dir die Hand nicht geben; / bleib du im ew'gen Leben / Mein guter Kamerad." Das Lied verkörpert, schreibt Alexandra Kaiser, „eine unkritische Glorifizierung der soldatischen Kameradschaft und verklärt das Sterben im Krieg zum stillen, tapferen Heldensterben“.

Nach den Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges stellte sich die Frage nach einem öffentlichen Totengedenken neu. Denn dem Schmerz um die „eigenen Toten“ stand das Wissen um die ungeheuren Verbrechen der Deutschen gegenüber. So konnte sich zunächst sogar mit dem „Gedenktag für die Opfer des Faschismus“ ein Gegenkonzept entwickeln. Dieser von Verfolgtenorganisationen wie der VVN ins Leben gerufene Gedenktag hatte aus Sicht der Bevölkerungsmehrheit im Westen aber den Makel, nicht die deutsche Opfer, sondern nur die Opfer der Deutschen zu ehren. Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten wurde der OdF-Tag in der DDR ein offizieller Gedenktag, während er in der Bundesrepublik aus dem Gedenkkalender verschwand.

1952 wurde der Volkstrauertag durch eine Innenministerkonferenz der Länder in der Bundesrepublik offiziell wieder eingeführt. Die symbolischen Ehrbezeugungen blieben auf die gefallenen Soldaten ausgerichtet: „Noch angesichts des Wissens [...] um den von den Deutschen geführten völkerrechtswidrigen Krieg, vertrat der Volksbund also den Gedanken des [...] heldischen Opfertods des Soldaten“. (Kaiser, 232) Wobei der VDK sich nach Auffassung Kaisers zum einen dem Ziel der „Befreiung der Deutschen vom Verdacht der Täterschaft und Schuld“ verschrieb; zum anderen sei es um die „Sinnstiftung und Ehrung des Soldatentods“ gegangen. (Vgl. Kaiser, 293)

Erst in den 1960er Jahren wurde auch das Gedenken an die NS-Verfolgten eingebunden. Im Jahr 1973 führte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) die bis heute prägende Formulierung „Opfer von Krieg und Gewalt“ ein, was „eine Öffnung des Gedenktages und eine Abkehr vom einseitigen Fokus auf die in den Weltkriegen gestorbenen Soldaten“ signalisierte. (Vgl. Kaiser, 276)

Imagewandel und Re-Heroisierung

Alexandra Kaiser konstatiert einen „Imagewandel“, der um 1968 herum den generellen Umbruch in der bundesrepublikanischen Gesellschaft spiegelt:

„Vor dem Hintergrund einer deutlich stärkeren Thematisierung der NS-Verbrechen in der Öffentlichkeit wurde es immer schwieriger, die deutschen Kriegstoten – und hier vor allem die gefallenen Soldaten – durch eine besondere Form der öffentlichen Ehrung auszuzeichnen. Angesichts dieser »Problematik« sollte sich das zusammenfassende Gedenken an alle Toten der Jahre 1933 bis 1945 – der britische Literaturwissenschaftler und Historiker Bill Niven spricht vom »all-victims-together«-Paradigma – als eine höchst funktionale Form des Umgangs mit der Vergangenheit erweisen, die sich als charakteristisches Modell der Bundesrepublik etablierte. Denn (nur!) durch eine Nivellierung der Unterschiede zwischen denjenigen, die für das Dritte Reich gekämpft hatten, und denjenigen, die als Verfolgte des Dritten Reiches starben, war es letztendlich auch möglich, der ersteren Gruppe – und auf die kam es dem Volksbund in erster Linie an – weiterhin »in Ehre« zu gedenken.“ (Kaiser, 281 f.)

In Afghanistan sind bis Ende 2010 45 Bundeswehrsoldaten gestorben, 27 von ihnen durch Fremdeinwirkung. Die Errichtung des Ehrenmals im Berliner Bendler- Block ist eine Reaktion, die andere besteht in der Re- Herosisierung des Volkstrauertages. Alexandra Kaiser lenkt den Blick hierzu auf einige Details: „Während man die Bonner Spitzenfeiern [...] bewusst von einer offiziellen Beteiligung des Militär freihielt, wird die Bundeswehr jetzt wieder aktiv einbezogen: Seit 2001 nahm (anders als zuvor) regelmäßig das Musikkorps der Bundeswehr am Programm teil; das Lied vom guten Kameraden zum Abschluss der Feier wurde seither von den Streichern der Bundeswehr gespielt. 2006 setzte man zum ersten Mal (auch) im Plenarsaal einen Bundeswehrtrompeter zur Intonierung des Kameradenliedes ein – allein in diesem Wechsel drückt sich die stärkere Betonung eines soldatischmilitärischen Charakters der Feier aus.“ (Kaiser, 396)

Kaiser zieht deshalb ein äußerst kritisches Fazit: „Anders als es die Propaganda des Volksbundes (spätestens seit den 1970er Jahren) suggeriert, stand die Funktion als Gedenktag für die gefallenen und die eigenen Opfer beim Volkstrauertag immer im Vordergrund; damit ist seine Kernbedeutung benannt. [...] Durch die Aufnahme des Gedenkens an die getöteten Bundeswehrsoldaten [...] verstärkte sich diese Tendenz noch einmal; gleichzeitig wurde der sakrifizielle, heroische Aspekt des Gedenktages wieder betont. [...] In jüngster Zeit geht es dabei nicht zuletzt um den Versuch einer Aufwertung des Soldatentods in Deutschland: Das Kämpfen und Sterben im Krieg soll, insbesondere mit Blick auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr, nicht mehr nur als sinnlos oder gar verwerflich, sondern auch wieder als aufopferungsvoll und ehrenhaft gelten können.“ (Kaiser, 408 f.)

"Gedenken ist Friedenserziehung", sagte OB Mende. Die Farbattacke zeige, dass sich die Verantwortlichen nicht mit dem Inhalt des Volkstrauertages auseinandergesetzt haben. Wer die Studie von Alexandra Kaiser liest, dürfte den gegenteiligen Eindruck bekommen.

Alexandra Kaiser: Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertages. Frankfurt/New York (Campus) 2010. 45 EUR

Bekennerschreiben Aktionsgruppe "Deutsche Opfermythen Schottern":


"Wir haben in den Nacht auf den 14. November 2010 das sogenannte Ehrenmal vor den Neuen Rathaus in Celle mit rosa Farbe angegriffen, weil wir ein grundsätzliches Problem mit der hier stattfindenden „Gedenkfeier“ und dem nationalen Rumgeheule am Volkstrauertag in ganz Deutschland haben.


Wenn am 14.11. kollektiv um gefallene deutsche Soldat_innen getrauert wird, passiert ganz praktisch Geschichtsrevisionismus. Deutschlands Verantwortung für zwei Weltkriege inklusive Faschismus, Vernichtungskrieg und Auschwitz und die muntere Eingliederung in das mörderische System kapitalistischer Nationalökonomien spielen nur noch eine Nebenrolle, aus Täter_innen werden Opfer. Das ist Bullshit!

Weder wurden die nationalsozialistischen Angriffskriege durch eine elitäre Führungsclique herbeigezaubert, noch wird heute irgendjemand dazu gezwungen, im Dienste der Bundeswehr Deutschlands wiederentdeckte hegemonialen Weltmachtansprüche zu befriedigen.

Rosa Farbe gegen die Inszenierung Deutschlands als geläuterte Nation und in Erinnerung an 6 Millionen tote Juden_ Jüdinnen und alle anderen Opfer deutscher Zustände.

This is not the End, it’s a Beginning – Say Goodbye to your German Dreamland“

Aktionsgruppe Deutsche Opfermythen Schottern