Abschalten und Lebensstil ändern!

Schon vor Fukushima hatte das Forum gegen Atomenergie eine Podiumsdiskussion mit Landtagsabgeordneten geplant. Vor dem Hintergrund des 25. Jahrestages von Tschernobyl sollte über die Laufzeitverlängerung und die Endlagerproblematik diskutiert werden. Der GAU in Japan setzte den Sofortausstieg ganz oben auf die Tagesordnung. Für die SPD war der Celler Wahlkreisabgeordnete Rolf Meyer auf dem Podium, Bündnis’ 90/Die Grünen waren durch Miriam Staudte, Abgeordnete aus Lüneburg, vertreten und aus dem Wendland Kurt Herzog war für Die Linke anwesend.

Die Landtagsabgeordneten waren sich darin einig, dass Fukushima für die deutsche Energiepolitik eine Zäsur bedeutet. Miriam Staudte wies darauf hin, dass der Begriff »Restrisiko« gesellschaftlich neu diskutiert werde. Die Beschwichtigungen nach Tschernobyl, wonach dies in einem Hochtechnologieland nicht passieren könne, seien hinfällig.„Im Vergleich zu Tschernobyl fällt ins Gewicht, dass Japan ein sehr dicht besiedeltes Land ist. Diese Vorstellung, dass vielleicht eine Stadt wie Tokio evakuiert werden müsste, ist erschreckend. Das schafft eine neue Betroffenheit. Die Nachdenklichkeit zieht weite Kreise. Für Deutschland bedeutet dies das Ende der Atomkraft. Die Frage ist jetzt noch: Wie lang ist dieses Ende? Aber selbst CDU und FDP haben gemerkt, dass ihr Kurs nicht zu halten ist.“ Auch für Rolf Meyer war klar, dass nicht mehr das »Ob« diskutiert wird, sondern nur noch das »Wie« und das »Wie schnell«. Und er versah dies mit der Bemerkung: „So einfach wird das natürlich auch nicht sein, wie uns das einige Leute glauben machen wollen.“ Für die SPD sei die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl die Wegscheide gewesen. Bis dahin seien weite Teile der SPD glühende Befürworter der Atomenergie gewesen, weil man gedacht habe, damit endgültig das Energieproblem zu lösen. Aber mit dem jetzt neu zu organisierenden Ausstieg könne Deutschland Vorreiter sein: „Wir können diese Chance nutzen und wir können anderen Industriestaaten zeigen, dass man mit dem Ausstieg nicht zu Ackerbau und Viehzucht zurückkehrt, sondern ein modernes Industrieland bleiben kann.“

Der Anti-AKW-Bewegung sei es zu verdanken, so Kurt Herzog, dass die Diskussion in Deutschland weiter sei als in anderen Ländern. „Lernen tun die Menschen offensichtlich nur durch Katastrophen. Aber ob das international Wirkungen zeigt?“ Er verwies aber auch auf Österreich und Dänemark, die viel früher auf einen Kurs ohne Atomenergie gesetzt hätten und damit nicht schlecht gefahren seien. „Dänemark ist Vorreiter bei Erneuerbarer Energien, insbesondere auch der Kraft-Wärme-Kopplung. Österreich bei der Holznutzung. Das sind Dinge, da könne wir lernen. Österreich hat es auch in der Verfassung verankert. Da können auch wir lernen.“

Alle Landtagspolitiker sahen die ersten Schritte der Bundesregierung als äußerst unglaubwürdig. Rolf Meyer, der zusammen mit Kurt Herzog im Asse- Untersuchungsausschuss sitzt, sieht angesichts der dort gemachten Erfahrungen einen »atomindustriellen Komplex « am Werk, das heißt ein interessengeleitetes Zusammenspiel von Politik, Industrie und Wissenschaft, das durch Fukushima nicht aufgehoben sei. Das Moratorium könne keine gesetzlichen Maßnahmen ersetzen und sei deshalb so nicht durchzuhalten. „Was wir erleben, sind nur Scheinreaktionen, um Zeit zu gewinnen. Man hofft, weitermachen zu können wie bisher, wenn das Thema wieder aus den Schlagzeilen verschwunden ist.“

Auch Kurt Herzog sprach von einer »Drei-Monats- Mogelpackung«: „Wer will denn glauben, dass diejenigen, die sich bis Fukushima die Wunschzettel der Energiewirtschaft unter das Kopfkissen gelegt haben, plötzlich anders ticken.“ Man wolle versuchen, Gras drüber wachsen zu lassen. Aber das werde nicht gelingen, weil die kompetenten Menschen wie der frühere Leiter Reaktorsicherheit, Renneberg, die Diskussion beherrschten und mit Sachverstand die Notwendigkeit des Ausstiegs einfordern würden.

Dass es aktuell nicht mehr um ein Zurück zum alten »Atomkonsens« gehen kann, war klar. Miriam Staudte und Rolf Meyer hielten auf Grundlage der bekannten Gutachten einen vollständigen Ausstieg bis zum Jahr 2017 für machbar und realistisch. Miriam Staudte sprach sich dafür aus, den Ausstieg so schnell zu vollziehen wie möglich. Sie forderte in diesem Zusammenhang auch eine Vertiefung der so genannten Suffizienzdebatte, also die Umsetzung von Einsparpotenzialen. Der Ausstieg müsse so organisiert werden, dass die Erhöhung der Sicherheitsstandards ein rechtssicheres und schnelles Abschalten ermöglichen würde. Auch Rolf Meyer bezog sich auf das Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen, das einen Ausstieg bis 2017 ohne Verwerfungen in der Versorgung als machbar einschätzt. Ein sofortiges Abschalten aller AKW lasse sich aber ohne Stromimporte und radikale Einschränkungen im Verbrauch von Haushalten und Industrie nicht machen. Atomstrom aus Frankreich zu importieren, diene aber kaum der Glaubwürdigkeit der Debatte. Und die Friktionen, die große Schnitte beim Verbrauch mit sich bringen würden, würde er sich auch nicht wünschen.

Die Position der Partei DIE LINKE, die da lautet „unverzüglich und unumkehrbar“, erläuterte Kurt Herzog unter Bezugnahme auf das von Hermann Scheer für Hessen entwickelte Konzept. Darin sei nachvollziehbar für das Bundesland mit seinem aktuell 60 %-igen Atomstromanteil ein Ausstieg bis 2013 projektiert gewesen. Die modulare Sichtweise dieser Konzeption gelte es auf die ganze Republik zu übertragen. Sowohl Erzeugung als auch Verbrauch müssten dabei kleinräumiger, also regionaler gedacht werden. Dafür müssten die Südländer ihre Blockade der Windenergie aufgeben und es müssten die oligarchischen Strukturen der Energiewirtschaft mit vier großen Konzernen, die den Staat erpressen könnten, gebrochen werden. Bei dem Problem der Unumkehrbarkeit kritisierte Herzog die Basis des alten Atomkonsenses, also Verhandlungen mit Energiekonzernen: „Man hätte es machen müssen wie bei der Kohle. Durch sachlich begründetes Verschärfen der Auflagen und Prüfbedingungen hätte man die AKW weggekriegt. Und was wir jetzt erleben mit dem kerntechnischen Regelwerk und dem Geheimkatalog, der in der Tat etliches, was in Fukushima passiert ist, jetzt erst aufnimmt – wo man sich an den Kopf fasst, was haben die eigentlich bisher an Prüfauflagen gehabt. Also: Es wäre möglich gewesen, ohne die permanenten Fragen, ob die Atomwirtschaft mit Klagen oder ähnlichem alles zurückholt. Aber das war nicht der Weg, den man wollte.“

Strittig war in der Veranstaltung die Frage der Stromimporte für den Fall in Deutschland entstehender Versorgungsengpässe. Miriam Staudte lehnte es ab, hierfür zum Beispiel Atomstrom aus Frankreich zu nutzen. Sie sprach sich dafür aus, schnell das Projekt NorGer-Kabel nach Norwegen umzusetzen. Dies hätte den Nutzen, dass zum einen norwegische Überkapazitäten bei der Wasserkraft genutzt werden könnten, zum anderen könnten die dortigen Pumpspeicherwerke als Energiespeicher für deutsche Windüberschüsse dienen.

Kurt Herzog machte darauf aufmerksam, dass Niedersachsen überhaupt kein Problem habe, Atomkraft zu ersetzen. Aber: „Wir müssen trotzdem dringend mit der Energiediskussion eine Ressourcendiskussion verbinden. Wir müssen den industriellen westlichen Lebensstil in Frage stellen. Ich füge hinzu: unter sozialen Gesichtspunkten. Wir können selbstverständlich nicht von Menschen Verzicht verlangen, die sowieso gebeutelt sind. Aber insgesamt war der Zeitpunkt vielleicht noch nie so gut wie jetzt.“ Er machte beispielhaft anschaulich, wie rasant sich der Lebensstil geändert hat: „Ich hatte in meiner Kindheit einen Teddy, mein Sohn kam von allen Tanten, Omas auf 200. Das ist so ungefähr die Quote des Ressourcenverbrauchs innerhalb von zwei Generation. Auch die Wohnfläche pro Person hat sich innerhalb einer Generation verdoppelt. Jeglicher Effizienzgewinn wird dadurch aufgewogen. Bei der Mobilität gibt es zum einen technisch keine Probleme mehr mit dem 2-Liter-Auto, aber wir haben das Phänomen, dass nach wie vor beim Neukauf auf das nächstgrößere Modell zurückgegriffen wird. Lebensstiländerung bedeutet weiter, dass es selbstverständlich werden muss, in der Kleinstadt auf das Rad zurückzugreifen, wofür es eine entsprechende Verbesserung der Infrastruktur braucht. Neben der ganz persönlichen Verhaltensänderung sind immer auch flankierend ordnungspolitische Maßnahmen erforderlich. So muss z.B. in der Bauleitplanung Standard werden – und zwar von heute auf morgen: Nahwärmekonzepte, Südausrichtung.“

Miriam Staudte unterstützte diese Argumentation mit Hinweisen auf die Möglichkeiten, die z.B. in der Kennzeichnungspflicht der Energieeffizienz von Elektrogeräten liegen. Und sie stellte die Preisstruktur und Steuervergünstigungen für industrielle Großverbraucher in Frage; in der Industrie würden Anreize zu Effizienz und Einsparung nur über den Preis funktionieren. Rolf Meyer ergänzte diesen Ansatz mit der Überlegung, dass es durchaus auch möglich wäre, mit gesetzlichen Auflagen zu einer kontinuierlichen Senkung des Verbrauchs zu kommen.

Hochinteressant waren die Argumente zur Frage des erforderlichen Netzausbaus. Das Podium war sich weitgehend einig, dass die eingeforderten Größenordnungen von rund 4000 km sich an der bisherigen Struktur orientieren, Entscheidungen über den Netzausbau aber erst sinnvoll sind, wenn ein energiepolitisches Gesamtkonzept vorliegt. Kurt Herzog verwies auf die durch die Abschaltung der AKW frei werdenden Kapazitäten, die in keinem der bisherigen Modelle mitgedacht worden sind. Und Rolf Meyer sprach an, dass unterschiedliche Faktoren der Effizienzsteigerung bisher kaum eine Rolle gespielt hätten wie Netzmonitoring oder die Umstellung von Wechsel- auf Gleichstromleitungssysteme.

Hinsichtlich der von der Bundesregierung einberufenen Ethik-Kommission befand Rolf Meyer: „Wir haben kein Erkenntnisdefizit, wir haben ein Umsetzungsdefizit.“

Darin fand er die Unterstützung des allergrößten Teils des Publikums. Aber: Bei all den in der Diskussion genannten Möglichkeiten, sei nicht nachzuvollziehen, dass Grüne und SPD den Ausstieg bis 2017 zu ihrer Linie zu machen scheinen. Bei einer »Probeabstimmung« im Publikum waren mehr als 90 % der Anwesenden dafür, jetzt abzuschalten – und damit war gemeint: sofort!