Fremde – Frauen - Freundinnen

„Da ist eine Ecke in diesem großen Raum, wo ich nicht jeden Tag aufräume, dort haben sich Staub, Spinnengewebe und Vergessenes angesammelt. Dieses Erlebnis, nach dem du fragst, der Abschied und die Reise nach Deutschland, das ist diese Ecke. Verstehst du, was es bedeutet?“

Mit diesem Bild beschreibt die heute 45-jährige Roza ihre Gefühlswelt im Hinblick auf die Erinnerungen an ihr Erleben als 12-Jährige im Jahr 1978. Ein starkes Bild, von dem sich viele finden in dem Buch »Fremde – Frauen – Freundinnen«. Entstanden ist dieses Buch im Rahmen einer »Interkulturellen Schreibwerkstatt« als Integrationsprojekt der Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises Celle unter Beteiligung des Kreisverbandes der LandFrauen und von Êzidinnen aus dem Landkreis. Das Projekt hat Frauen aus beiden Kulturen über die Biografiearbeit ins Gespräch gebracht.

Zentrale Projektidee war die Vernetzung von jeweils einer Landfrau und einer Ezidin als »Tandem«. Die Paare trafen sich über ein Jahr hinweg und tauschten sich über ihre Lebensgeschichten aus. Für Ulrike Brinken, Projektleiterin und Ideengeberin, war dies für den Erfolg des Projektes ausschlaggebend: „Für die meisten der Frauen war es der erste private Kontakt zu einer Frau aus dem anderen Kulturkreis. Für einige war es ein schwieriger Schritt, aber für alle war er von großer Bedeutung. Aus fremden Frauen wurden auf diese Weise Freundinnen.“

Die Lebensgeschichten der Ezidinnen wurden von den Landfrauen zu Papier gebracht. Herausgekommen sind spannende Einblicke in die kurdische Vergangenheit, in die Schwierigkeiten der Integration – wie auch den Spagat zwischen den Anforderungen der ezidischen (Familien-)Kultur und dem »deutschen« Alltag.

Es sind Frauen der »ersten Generation«, die ihren »Tandem«-Partnerinnen von den LandFrauen berichten. Einige kamen allein noch unter dem Regiment der »Anwerbeabkommen« als Gastarbeiterinnen, andere im Rahmen des Familiennachzugs, einige als Flüchtlinge vor dem Hintergrund der türkischen Kriegsrechts über die ostanatolischen Provinzen. Immer ist es ein Sprung über mindestens ein halbes Jahrhundert – weg von weitgehend auf landwirtschaftlicher Subsistenz gegründeten Großfamilien, hinein in die hochtechnologisierte Industriegesellschaft. Es überrascht, wie dies von einem auf den anderen Tag gelingen sollte:

„In Istanbul schickte ich meine langen Röcke und Kleider heim – hier ist Europa, hier ist alles anders – und kaufte mir Hosen. Das Kopftuch aber blieb vorerst. Nach einer ärztliche Untersuchung flog ich mit vielen anderen Frauen nach Deutschland, der deutsche Arbeitgeber bezahlte den Hinflug. Während der Zugfahrt von Frankfurt nach Hannover schenkten uns Mitreisende Bananen: Wir waren empört: wie ekelhaft, das dürfen wir nicht, das ist Sünde, das ist Schweinewurst und warfen sie aus dem Fenster. Wir kannten so etwas nicht. Man schickte mich nach Hameln. Die erste Nacht verbrachte ich im Frauenheim. Als ich in die Pilzfabrik kam, oh Schreck, es stank entsetzlich! Zu Hause musste ich auch arbeiten, aber hier: in einer großen Halle, bei dem Gestank, nein! »Oh, die feine Dame«, sagten die anderen. Ich hielt es nicht aus. Meine Kusine aus Celle kam sofort, löste mich aus und nahm mich mit. Dort bekam ich bei Telefunken einen Vertrag und hatte eine saubere Arbeit für viele Jahre.“

Gar nicht so selten finden sich Geschichten mit solchem Eigensinn, und hier und da mündet der Eigensinn in eine Emanzipationserzählung. Das muss nicht repräsentativ sein, denn wahrscheinlich beteiligt sich an einem solchen Projekt nur, wer der Konfrontation mit den Fragen der Mehrheitsgesellschaft nicht meint ausweichen zu müssen. Deutlich wird aber auch, wie (Frauen-) Emanzipation in der ethnischen Religion des Ezidentums eine zur Zeit innerhalb der Gemeinschaft unüberwindbare Grenze findet. Trotzdem überwiegen die stark identitären Bezüge auf die Religion; Ambivalenzen gibt es nur dort, wo die »Flucht« der Töchter sich mit Verlusterfahrungen und Trauer verbindet.

Egal ob in den Landkreisgemeinden oder der Kreisstadt –das Verhältnis zwischen Kurd_innen und »Bio- Deutschen« hat sich deutlich entspannt, doch das Nebeneinander überwiegt nach wie vor. Bücher können wahrscheinlich wenig zur Veränderung beitragen, aber sie können – wie dieses – Verständnis wecken für die Lebenssituation von Frauen der »anderen Kultur«.

FREMDE - FRAUEN –FREUNDINNEN.

LandFrauen und Êzidinnen im Gespräch. Hg. von Ulrike Brinken in enger Zusammenarbeit mit Behiye Alkus, Elisabeth Cramm, Annemarie Strüber, Nursen Yavsan, Tambiye Yavsan. Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Landkreises Celle Band 9 - Celle 2010.
ISBN 978-3-9805636-8-0. 129 Seiten. 8,90 Euro.