Hähnchenteile aus Europa ruinieren Kleinbauern in Westafrika

Damit hatte der Verband Entwicklungspolitik Niedersachsen (VEN) nicht gerechnet: Ein voll besetzter Anne-Frank-Saal im Urbanus-Rhegius-Haus zum Thema »Fleischexporte nach Afrika – Fluch oder Segen?« Noch vor zwei Jahren wäre wohl nicht mal ein Viertel der Besucher_innen gekommen. Aber: Die Diskussion um den Wietzer Schlachthof und die damit für die Region zu befürchtenden Geflügelmastställe haben die Ernährungsfrage in den Fokus des Interesses gerückt. Neben der Lehrstunde über europäische Agrarexportpolitik waren es am Ende vor allem »Ungleichzeitigkeiten« der Probleme, die nachdenklich machen konnten.

 

Der Evangelische Entwicklungsdienst (EED) fährt seit gut fünf Jahren eine Kampagne unter dem Motto »Keine Chicken schicken«, in deren Rahmen von der EU eine Regulierung der Geflügelexporte nach Westafrika gefordert wird, um die dortigen Märkte nicht noch weiter zu zerstören. Zum Ev. Kirchentag in Dresden hatte der EED Samuel Onnallo Akpa, Geschäftsführer des nigerianischen Geflügelverbandes, und Dr. King- David Amoah, Direktor der Ecumenical Association for Sustainable Agriculture and Rural Development / ECASARD und Vorsitzender des Dachverbands der Ghanaischen Bauernverbände, eingeladen. Nach der Veranstaltung in Celle nahmen sie am nächsten Tag noch an der Abschlusskundgebung des Bauerntrecks (siehe S. 23) teil.

Seit 1996 ist eine rasante Steigerung der Geflügelimporte in fast allen westafrikanischen Ländern zu beobachten. Die Ausfuhr von Geflügel aus der EU in Länder Afrikas verdreifachte sich von etwa 48.000 Tonnen (1996) auf knapp 200.000 Tonnen 2004. Die gesamte Ware wird tief gefroren eingeführt, zu 80 Prozent sind es Hähnchenteile – Reste, die auf dem europäischen Markt nicht abgesetzt werden können. Im 1957 unabhängig gewordenen Ghana war bis in die 1980er Jahre die Versorgung der Bevölkerung über die einheimische landwirtschaftliche Produktion gesichert. Die Wende kam mit den Strukturanpassungsprogrammen von Weltbank und IWF, die eine Öffnung der Märkte und die Einschränkung der nationalen Subventionierung erzwangen. Die damit einhergehende massive Einfuhr von Geflügelfleisch machte die einheimischen Märkte nahezu vollständig kaputt. Die Geflügelzüchter konnten gegen die europäischen Billigprodukte nicht bestehen. Betroffen waren nicht nur die Geflügelfarmer selbst, sondern auch die Futtermittelproduzenten und –händler. Im Jahr 2003 beschloss die Regierung, die Importzölle von 20 auf 30 % anzuheben und die Farmer zu subventionieren. Doch die EU erzwang sofort die Rücknahme der Gesetze. So wurde der einheimische Sektor der Geflügelproduktion geopfert, um die Vergabebedingungen für neue Kredite zu erfüllen. King-David Amoah forderte einen »fairen Handel« und den Stopp der »Dumping-Importe«. Unter Anspielung auf die Fluchtbewegungen nach Europa meinte Amoah: „Wenn die EU nicht bereit ist, ihren Reichtum mit uns zu teilen, müssen wir unsere Armut mit der EU teilen.“

Über die Situation im größten Land Westafrikas, Nigeria, berichtete Samuel Onnallo Akpa. Auch hier hatte die von Weltbank und IWF erzwungene Öffnung der Märkte zunächst katastrophale Wirkungen. Anfang der 1990er Jahre mussten unter dem Konkurrenzdruck viele der großen Geflügelproduzenten ihre Anlagen schließen und die Produktion der Kleinproduzenten kam komplett zum Erliegen. Daraufhin beschloss die Regierung ein Importverbot. Doch die europäischen Händler fanden schnell eine Lücke: Den Export ins kleine Nachbarland Benin, von wo aus bis heute im großen Maßstab ein Schmuggel nach Nigeria stattfindet. Akpa erläuterte dies mit Zahlen. 1996 importierte Benin 12,5 Megatonnen Geflügelfleisch, 2003 waren es 86 Megatonnen und im vergangenen Jahr 115 Megatonnen. Würde diese Ware in Benin verkauft, wäre der Pro-Kopf-Verzehr auf europäischem Niveau. Die Regierung versucht zwar, den illegalen Schmuggel einzuschränken, aber erforderlich wäre eine von der EU gesteuerte Regulierung der Exporte nach Benin. Akpa forderte eine Änderung der EU-Agarpolitik, die Dumping- Exporte unterbinden müsse. Denn für die westafrikanischen Länder bedeutet dies Arbeitslosigkeit und Armut mit der Konsequenz eines zunehmenden Auswanderungsdrucks.

Akpa machte auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: Die gefrorenen Hühnerteile aus Europa gefährden die Gesundheit der Bevölkerungen, denn in den Ländern Westafrikas gibt es in Folge von Stromausfällen keine geschlossene Kühlkette. Wenn das Fleisch an den Verkaufsständen ankommt, ist es häufig aufgetaut und ein idealer Nährboden für Bakterien. Schwere Durchfall- und Magen-Darmerkrankungen sind die Folgen. Deshalb waren Lebendverkäufe bis zur Durchsetzung der EU-Dumpingstrategie der Standard. Für Ghana nannte King-David Amoah Zahlen: Während einheimisches Geflügel rund 5 $ pro Kilo kosten, würden die Geflügelreste aus Europa für 50 Cent auf den Markt geworfen. Bei durchschnittlichen Stundenlöhnen von 2 $ sei dies trotz der miserablen Qualität für Verbraucher_innen eine zu große »Verlockung«.

Stig Tanzmann, Referent für Landwirtschaft beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED), erläuterte die Ziele der Kampagne »Keine Chicken schicken«. Die europäische Kommission müsse die handels- und lebensmittelrechtliche Verantwortung für die Folgen der Exporte übernehmen. Dort würde aber entschuldigend auf den »freien Markt« verwiesen, der Eingriffe nicht erlaube. Zentrale Forderungen des EED sind deshalb eine freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie, kein gefrorenes Fleisch in Länder ohne Kühlkette zu schicken und das Versagen von Exportgenehmigungen durch den europäischen Zoll auf Basis des europäischen Lebensmittelrechtes. Die so genannten Exporterstattungen für landwirtschaftliche Produkte sind in den vergangenen 8 Jahren allerdings schon erheblich zurückgefahren worden: Wurden 1993 noch gut 10 Mrd. EUR gezahlt, waren es 2009 insgesamt »nur« noch 648 Mio. EUR; bei Geflügelexporten ging dieser Zuschuss von 250 Mio. EUR auf 91 Mio. EUR. zurück.

In der Diskussion prallten überraschenderweise unterschiedliche Perspektiven aufeinander. Die Sichtweise der Kritiker_innen der Agrarindustrie setzt neben einer Regionalisierung der Märkte und der Tierrechtsaspekte vor allem auch auf die Veränderung der Lebensweisen, d.h.: Weniger Fleischkonsum, Abschaffung der industriellen Landwirtschaft. Dabei können sie sich auch stützen auf den Weltagrarbericht, der diese Sichtweise global zu verankern sucht. Aber: Die westafrikanischen Referenten und auch der EED-Vertreter setzten in Teilen auf ein Entwicklungsparadigma, das sich an europäischen Standards orientiert. Und das betrifft nicht nur die Frage hygienischer Standards, sondern sie verweigern sich auch agraromantischen Vorstellungen. Kein Wunder: Nigeria hat rund doppelt so viele Einwohner wie Deutschland, Lagos ist eine Zehn-Millionen Stadt, die Bevölkerungsdichte pro qkm gleicht vielen Regionen Deutschlands. Ernährungssouveränität lässt sich mit Hinterhofhaltung von Geflügel und ausschließlich kleinbäuerlicher Landwirtschaft aktuell wahrscheinlich nicht herstellen. Und im Geflügelsektor wird nicht von ungefähr von »Zucht« gesprochen, denn selbstverständlich geht es den westafrikanischen Verbandsfunktionären auch um Effektivität. Insoweit aber waren vielleicht die Beiträge der Veranstaltungsbesucher_innen für sie interessant, die Tierrechts- und Klimaaspekte thematisierten.

Die Broschüre »Keine Chicken schicken« gibt’s hier: www.eed.de