Identität in der Fremde
Die Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland (YEK-KOM e.V.) sammelt bis zum 15. September 2011 Unterschriften für eine Petition an den Bundestag zur »Anerkennung der Kurdischen Identität in Deutschland«. Von der Website der Kampagne (www.kurdenindeutschland.de) haben wir folgenden Text von Riza Baran. Er zeigt, warum »Identität« ein wichtiger Faktor der Integration sein kann. Wir sind in der Redaktion skeptisch gegenüber ethischen und religiösen Identitätsdiskursen (»die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik«), aber: Die größte Celler Migrationsgruppe sind die (yezidischen) Kurden. Deshalb sollten wir uns für diese Diskussion interessieren.
Unter den rund 2,7 Millionen Migrant_innen türkischer Staatsangehörigkeit, die heute in Deutschland leben, sind schätzungsweise, analog zu ihrem Anteil in der Türkei etwa 800.000 Kurd_innen. Hinzu kommt eine kleinere Anzahl kurdischer Flüchtlinge und Student_ innen aus der Türkei, dem Iran, dem Irak und aus Syrien.
Bis vor einigen Jahren wurden sie mit ihrer indoeuropäischen Sprache und ihren eigenen kulturellen Traditionen kaum bewusst wahrgenommen. Entsprechend ihres Passes wurden sie als Türken, Iraner oder Iraker betrachtet, auch von Seiten der Behörden, die für sie z.B. infrastrukturelle Maßnahmen hätten treffen müssen. Nicht verwunderlich daher, dass es kaum spezifische, auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Angebote im sozialpädagogischen, schulischen und kulturellen Bereich gab.
Erst im Verlaufe der 1970er Jahre, in denen sie sich selbst zu Wort meldeten und Defizite benannten, drangen ihre Anwesenheit und ihre kulturelle Besonderheit allmählich ins öffentliche Bewusstsein. Nun endlich finden sie immerhin in der breiten Diskussion um die Migrant_innen und ihre Probleme, um Multikulturalität, interkulturelle Erziehung und die Perspektiven dieser Gesellschaft Berücksichtigung.
Wie bildet sich Identität in der Fremde?
Die Kurd_innen als handelnde, in die hiesige Gesellschaft eingebundene Menschen, die ihre Stärken haben und unter noch mehr Defiziten leiden, stehen also im Zentrum dieser Diskussion. Was wir uns wünschen, sind stabile Persönlichkeiten, die ihre kulturellen Wurzeln ebenso kennen wie ihren Standort in dieser Gesellschaft, welche sie demzufolge aktiv mitgestalten können. Wie ist aber die Realität? Identität in der Fremde - wie ist diese für Kurden zu beschreiben?
Identität, wenn wir schon diesen Begriff benutzen müssen, sei definiert als das Wissen um die eigene Person, als Fähigkeit, die personale Kontinuität zu wahren, dabei aber gleichwohl die Balance zwischen personalem Ich und sozialem Ich, d.h. einen Ausgleich zwischen den Ansprüchen des Selbst und den Erwartungen der anderen, zu halten. Hier wird schon deutlich, dass Identität als dynamisch zu begreifen ist, als sich entwickelnd im Rahmen und analog zu sozialen Veränderungen. Diese Entwicklung findet statt, ob bewusst oder unbewusst, ob durch soziale Maßnahmen gestützt oder behindert. Dementsprechend können ihre Ergebnisse außerordentlich widersprüchlich sein, immer aber zurückzuführen auf konkrete Erfahrungen innerhalb dieser Gesellschaft.
Voraussetzung für eine stabile Persönlichkeit, die gesellschaftliche Prozesse positiv beeinflussen kann, ist zunächst deren soziale Anerkennung. Diese drückt sich in Gleichberechtigung, Chancengleichheit und in einer multikulturellen Gesellschaft aus. Ebenso in der Anerkennung der jeweils eigenen kulturellen Werte, angefangen bei der Sprache. Die Sprache als wesentliches Mittel zur Kommunikation, zum Lernen und zum Austausch von Erfahrungen ist daher auch ein wesentliches Instrument gesellschaftlicher Veränderungen.
Aus welcher Vergangenheit kommen die kurdischen MigrantInnen?
Die meisten von uns kommen aus der Türkei und lebten dort, anders als viele Türken, im Agrarbereich mit seinem bäuerlichen Kollektivbewusstsein. Den ersten Bruch in unserer Entwicklung erlebten wir spätestens beim Schuleintritt, wo wir lernen mussten, dass wir Türken seien. Die Sprache, die wir bis dahin als Muttersprache gelernt hatten, durften wir auf einmal nicht mehr sprechen. Mit dem Erlernen des Türkischen fingen wir sprachlich noch einmal bei Null an. Klar, dass dieser Rückstand im Vergleich zu türkischen Muttersprachler_ innen kaum aufzuholen war.
Hinzu kamen und kommen die Verbote, bestimmte kulturelle Traditionen zu pflegen, etwa Lieder in kurdischer Sprache zu singen, kurdische Namen zu benutzen, in kurdischer Sprache zu publizieren. Inzwischen sind auf Druck der EU diese Verbote in eine Duldung umgewandelt worden, die aber immer die Gefahr einer Duldungsrücknahme mit sich tragen. Gleichzeitig gab es keine Amnestie, sondern es sind immer noch diesbezügliche Verfahren anhängig.
Kurdische Dörfer bekamen ohne Kenntnis der Bewohner_ innen türkische Namen. Die Liste der Maßnahmen zur Assimilation, zur Anpassung der Kurden an die herrschende türkische Kultur, ist noch viel länger und leider auch nicht ohne Gewalttaten. Der negative Höhepunkt war das in der Verfassung verankerte Verbot der kurdischen Sprache in der Türkei. Dieses "Sprachverbotsgesetz" von 1983 ist inzwischen aufgehoben worden.
Bis 1991 waren Kurden in der Türkei Unpersonen, bestenfalls "Bergtürken", ihre Sprache ein Sammelsurium entlehnter Wörter, die kurdische Kultur eine Unkultur. Von sozialer Anerkennung, Gleichberechtigung usw. keine Rede! Ein kontinuierliche, durch pädagogische und sonstige Maßnahmen gestützte Persönlichkeitsentwicklung wurde so verhindert. Ständige negative Eingriffe schränkten die Entfaltungsmöglichkeiten der Kurden drastisch ein.
Die Lockerungen und Erleichterungen sollen nicht klein geredet werden, aber sie beziehen sich zunächst einmal auf den individuellen Menschen, auf den Privatbereich. Im öffentlichen Bereich von Gruppen, Vereinen, Versammlungen oder anderen Zusammenschlüssen jedoch gibt es immer noch kein Recht auf die Ausübung der Muttersprache, weil es an einer eindeutigen Rechtsgrundlage fehlt.
Hier, wie auch für die oben erwähnten Beispiele gilt: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein. Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen" (Goethe)
Die erste und teilweise auch die zweite Generation der kurdischen Migrant_innen steht unter dem Eindruck dieser Repressionserfahrungen, wie sie auch andere kolonisierte Völker machen mussten. Wie viele deformierte Persönlichkeiten mit abgebrochenen Entwicklungslinien und verschütteten Fähigkeiten dies hervorgebracht hat, wagt man kaum zu fragen.
Wie ist die aktuelle Situation der Kurden in Deutschland?
Der Wechsel von einer Agrar- in eine Industriegesellschaft bringt zwangsläufig eine mehrfache Umorientierung mit sich. Da heißt es, sich neue Arbeitstechniken anzueignen; in ein völlig verändertes Zeitbudget eingepresst zu leben; familiär-verwandtschaftliche Anforderungen und Bedürfnisse dem industriellen Arbeitsrhythmus unterzuordnen; sich auf sich selbst und die eigenen Fähigkeiten gestellt wiederzufinden; auf einmal bewusstseinsmäßig den Sprung vom Kollektiv (der Großfamilie, dem Dorf, dem Stamm) zum Individuum vollziehen zu müssen.
Hinzu kommen diskriminierende, angstmachende Umstände der Übersiedlung in die neue Umgebung. Die Hilfen zur Eingliederung in die hiesige Gesellschaft sind minimal und entsprechen auf keinen Fall den Notwendigkeiten. Mangelnde Sprachkenntnisse behindern die Kommunikation mit der Aufnahmegesellschaft und verhindern ein aktives Eingreifen in gesellschaftliche Prozesse.
Wieder einmal werden Entwicklungslinien abgeschnitten, Entfaltungsmöglichkeiten begraben. Die Geschichte wiederholte sich und wurde sogar noch dadurch verschärft, indem bei den Kurd_innen an eine fremde, uns aufgezwungene "Identität", angeknüpft wird. Sozialberatung in türkisch, muttersprachlicher Unterricht in türkisch usw. gehen nicht nur an unseren Bedürfnissen vorbei, sondern sie erschweren uns das Leben häufig noch zusätzlich.
Nun ist aber Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft und ein paar ganz Verwegene finden dies positiv - im Gegensatz zu den ewiggestrig Deutschnationalen. In der Vielfalt liege die Würze. Es gelte, diese zu erhalten und, orientiert an den humanistisch-demokratischen Idealen der Menschheit, weiterzuentwickeln. Sie setzen das Recht auf Andersartigkeit den Vorstellungen von Assimilierung, sprich Germanisierung, entgegen. Sie meinen, und dazu gehöre auch ich, dass eine Akzeptanz der hier lebenden Minderheiten der Demokratie und der allgemeinen Entwicklung dieser Gesellschaft nur förderlich sein könne. Inklusive Gleichberechtigung und politischer Partizipation auf allen Ebenen.
Diese kreative Beteiligung der Migrant_innen setzt aber voraus, dass sie in ihrer eigenen wie der deutschen Sprache und Kultur "zu Hause" sind; dass sie die Wurzeln der eigenen und die der deutschen Kultur kennen und sich mit beiden kritisch auseinandersetzen können. Kulturelle Entfaltung vollzieht sich in erster Linie durch Lernen. Die daraus folgende Erweiterung der Bedürfnisse der Menschen ist die Antriebskraft für die Entwicklung der gesamten Gesellschaft. Will sie nicht stagnieren, muss sie entsprechende Möglichkeiten bereitstellen. Und zwar langfristig und kontinuierlich und nicht reduziert auf die ihr womöglich genehmen zwei Drittel, während der Rest ausgegrenzt wird.
Für uns Migrant_innen heißt dies, dass wir uns auf diese Gesellschaft einlassen müssen, mit Hilfe ihrer Sprache zu ihren kulturellen Wurzeln vorzudringen. Die insbesondere unter der ersten Generation weitverbreitete Ignoranz gegenüber den Realitäten in diesem Lande hatte zwangsläufig ein "falsches" Bewusstsein zur Folge. Von dieser Gesellschaft abgekoppelte, womöglich ausschließlich auf das Herkunftsland orientierte Aktivitäten müssen zu Orientierungslosigkeit und irrationalem Handeln, auf der politischen Ebene sogar zu reaktionärem Handeln, führen. Die erste Generation, soweit sie nicht bereit ist, sich zu öffnen und sich die Teilhabe an dieser Gesellschaft zu erkämpfen, kann als sozusagen reduzierte Persönlichkeiten für die zweite und dritte Generation der Migrant_innen keine Vorbildfunktion mehr beanspruchen. Die Kommunikation zwischen ihnen wird abbrechen.
Die erste Generation hat dann auch ihre Chance verspielt, als Brücke zwischen den Kulturen und als Vermittlerin zwischen den Völkern wirken zu können. Viele Angehörige der ersten und teilweise auch der zweiten Generation stellen so mit ihrer sturen Heimatorientierung ein Entwicklungshemmnis ersten Ranges für die Migrant_innen insgesamt dar. Sie stehen damit gleichzeitig gegen die sich gegenwärtig verstärkenden Tendenzen zur Internationalisierung. Globales Denken setzt voraus, Zusammenhänge und Abhängigkeiten erkennen zu können. Dazu gehört geistige Offenheit.
Jenes Entwicklungshemmnis wirkt für uns Kurden noch verschärfend, denn wir könnten uns hier, wie einige Beispiele zeigen, vom aus der Heimat mitgeschleppten Ballast und seinen Defiziten befreien. Hier haben wir die Möglichkeit, unsere Sprache zu sprechen und in ihr zu publizieren. Vieles mehr bleibt jedoch zu erkämpfen. Dies ist aber nur durch die Einbettung entsprechender Forderungen in ein breites internationales Bündnis möglich, welches die globale Entwicklung zur Multikulturalisierung voranbringt. Dazu muss sich allerdings jede Minderheit überall auf dieser Welt auf diese jeweilige Aufnahmegesellschaft einlassen, sie als ihr (neues) Zuhause betrachten und sie aktiv mitgestalten, um sie sich so anzueignen.
Das ist der Weg, der zu bewussten, zu selbstbewussten und stabilen "Identitäten" und Persönlichkeiten führt und der die multikulturelle Gesellschaft zur globalen Norm machen kann.
Forderungen der Kurdischen Community an die deutsche Mehrheitsgesellschaft:
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Der Autor, Riza Baran, ist prominenter Vertreter der ersten Generation von Zuwanderen aus der Türkei. Baran ist seit den 1990er Jahren Mitglied der Grünen in Berlin-Kreuzberg und gilt als Urvater von Migrationsbeiräten. Jetzt ist er Vorsitzender der Kurdische Demokratische Gemeinde zu Berlin.