Zur Lage von Kindern und Jugendlichen in Afghanistan

In Deutschland leben derzeit ca. 60.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Stand Februar 2016). Davon suchten ca. 30.000 Kinder und Jugendliche im Jahr 2015 in Deutschland Zuflucht. Eine deutliche Mehrheit der jungen Menschen – auch in Celle – kommt aus Afghanistan. In Anbetracht der aktuellen Diskussion um Afghanistan als „sicheres Herkunftsland“ und vermeintliche „innerstaatliche Fluchtalternativen“ zeigt ein Artikel von Adam Naber für die Januar/Februar-Ausgabe des „Asylmagazins“, wie absurd diese Diskussion gerade auch im Hinblick auf die Jugendlichen ist.

Nabers Literaturrecherche beschreibt die Jugendlichen in Afghanistan drohenden Gefahren, Unsicherheiten, Konflikte – ergänzt um einen Blick auf Folgen einer erzwungenen oder freiwilligen Rückkehr. Wir dokumentieren hier Auszüge:
„Im Jahr 2015 wurden bisher die meisten Verletzungen und Todesfälle auf ziviler Seite dokumentiert. In 30 der 34 Provinzen Afghanistans werden bewaffnete Konflikte ausgetragen und allein innerhalb der ersten sechs Monate von 2015 wurden 1.592 zivile Opfer und 3.329 Verletzte dokumentiert. […] Knapp 25 % der zivilen Todesopfer sind Kinder.“

„Während insbesondere Paschtunen Gefahr laufen, von Taliban-Kämpfern, aber auch als Selbstmordattentäter zwangsrekrutiert zu werden, bilden Angehörige der Hazara eher eine Zielgruppe für Überfälle und Tötungen. Die bisherige Beziehung zwischen der Familie und den Taliban spielt zudem eine große Rolle. Falls der Vater den Taliban gedient hat, besteht für den Sohn eine besondere Gefahr der Zwangsrekrutierung.“
„Der bewaffnete Konflikt verschärft die ökonomische Situation und führt zu einer absoluten Perspektivlosigkeit der jungen Bevölkerung. [...] Selbst wenn Jugendliche eine Schule absolvieren konnten, gibt es kaum Arbeit in den meisten Gebieten, u.a. weil jedes Jahr 400.000 junge Afghanen zum bereits weitgehend gesättigten Arbeitsmarkt hinzukommen.“

„Dass 25 % aller Afghanen, die sich gezwungen sehen das Land zu verlassen, zwischen 15 und 24 Jahren alt sind, liegt nicht nur am afghanischen Durchschnittsalter von 17 Jahren. Vor allem liegt es daran, dass in der Regel die immensen Kosten der Ausreise höchstens für ein Familienmitglied aufgebracht werden können. Die Wahl fällt dabei häufig auf einen Jugendlichen, da man den Familien der Verheirateten nicht den minimalen Schutz vor Übergriffen entziehen möchte, den in Afghanistan nur ein Mann bieten kann. Außerdem wird älteren Personen eher zugetraut, als Tagelöhner zumindest eine temporäre Minimalgrundsicherung der Zurückgebliebenen zu gewährleisten, während man den Jugendlichen bessere Integrationschancen in Europa zutraut.“

„Im ganzen Land, aber besonders im Norden, sind Jungen von (sexueller) Zwangsarbeit oder Rekrutierung militärischer Gruppen gefährdet. Die unter 13-Jährigen sind am ehesten von sexueller Ausbeutung bedroht. Die unterschiedlichen Formen der Praxis des »Bacha Bazi« variieren von präpubertären Tanzjungen in Frauenverkleidung auf Hochzeiten bis zur Variante des vielfachen Missbrauchs von Jungen als Sexsklaven. Durch das junge Alter werden sie noch nicht als Männer angesehen und somit geraten die Täter nicht in das schwerwiegende Tabu der Homosexualität. 14 bis 18-jährige Jungen hingegen werden vermehrt als Zwangsarbeiter oder Kindersoldaten gehandelt.“

„Bevor viele der jugendlichen Afghanen die Flucht nach Europa antreten, verbringen die meisten von ihnen viele Jahre im Iran. Während dieser Zeit arbeiten sie häufig unter schwierigsten Bedingungen und werden auf degradierendste Art und Weise behandelt (willkürliche Festnahmen, Prügel, kein polizeilicher Schutz bei Übergriffen). Ein anderer Teil der jugendlichen Geflüchteten ist nicht einmal in Afghanistan aufgewachsen oder sogar geboren. Gut die Hälfte der 2,45 Millionen afghanischen Flüchtlinge im Iran ist unter 14 Jahre alt. Außerdem haben 30 Jahre Krieg 75 % der afghanischen Bevölkerung zumindest einmal vertrieben und komplexe, generationenübergreifende Migrationschroniken entstehen lassen. Eine Abschiebung nach Afghanistan ist in vielen Fällen daher keine »Rückführung in die Heimat« sondern in die Fremde, in eine Situation absoluter Hilflosigkeit. […] [G]ezwungene Rückkehrer [stellen] eine Gruppe dar, die gesellschaftlich diskriminiert wird, von der Familie isoliert ist und in ein Leben absoluter Armut oder zur erneuten Ausreise gezwungen wird. “

Naber, Adam: Afghanistan - Gründe der Flucht und Sorgen jugendlicher Rückkehrer. In: Asylmagazin 1-2-2016, S. 4-8.
Interessant auch: Hassan Ali Djan: Afghanistan. München. Ich - Meine Flucht in ein besseres Leben. Verlag Herder, 19,99 Euro.