„Wir wollen den Betroffenen ein Sprachrohr sein“

Drei Tage vor der Premiere wurde der regieführende Autor Peter Schanz  vom Schlosstheater vor die Tür gesetzt. Andreas Döring als Intendant und Ralph Blase als Leitender Dramaturg erklärten dazu, dass eine Auseinandersetzung über die Frage vorangegangen sei, „wie und mit welcher Erkennbarkeit das Ensemble und die beteiligten Musiker mit Fluchterfahrung [...] künstlerisch einbezogen werden. Diese künstlerische Haltungsfrage wurde von der Regie und der Theaterleitung unterschiedlich bewertet.“ Etwas kryptisch das Ganze; Haltungsfragen kannten wir bisher eher aus der Massentierzucht oder langweiligen Sportdisziplinen. Allzuviel hat sich dann  zwischen der öffentlichen Probe unter Schanz und der Premiere ohne Schanz auch nicht verändert. Eine Szene z.B., in der sich die Willkommenskultur darin ausdrückt, dass Geflüchtete mit Kuscheltieren beschmissen werden, ist rausgestrichen – aber das hätte das Celler Publikum doch „ertragen“, oder?

Die Premiere hatte „Fluchtpunkt Celle“ am Schlosstheater am 18. März – gespielt wird es jetzt noch bis zum 23. April. Peter Schanz (Foto: B. Lahola) ist der Autor dieses „Rechercheprojekts aus der Nachbarschaft“, wie es im Untertitel heißt. Der freiberufliche Autor und Dramaturg kommt eigentlich aus dem Süden, wo er geboren ist und die bei seiner Generation beliebten Fächer Germanistik, Geschichte und Politologie studiert hat. In den Norden verschlagen hat ihn eine jetzt gut 30-jährige Arbeit an und für Theaterbühnen. Er lebt in Neuwittenbek am Nord-Ostsee-Kanal, im nordwestlichen Umland von Kiel.

„Fluchtpunkt Celle“ ist das vierte Stück, das Schanz im Auftrag des Schlosstheaters geschrieben und inszeniert hat. Thematisch gibt es dabei immer einen Bezugspunkt zu Celle. Bisher standen Personen im Mittelpunkt: Bei „Die Prinzessin von Zelle“ (2012) die Herzogin Sophie Dorothea (bekannt eher als „Prinzessin von Ahlen“), bei „Altensalzkoth“ (2013) der Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann und bei „Und Juchheirassa“ (2014) Hermann Löns. Dabei hat Schanz jeweils deutlich gemacht, dass es ihm um mehr geht als Unterhaltung mit Lokalkolorit, sondern dass er Auseinandersetzungen mit dem Blick aufs Eigene und Fremde befeuern will.

In der Woche vor der Premiere hat er uns für ein Interview zur Verfügung gestanden, das zum Besuch des Stückes einladen und diesen „vorbereiten“ kann. Wahrscheinlich würden seine Antworten hier und da heute anders ausfallen (siehe Kasten rechts).

??: Du hast für „Fluchtpunkt Celle“ vor Ort recherchiert. Sehen wir einen Dokumentartheater-Abend?

!!: Ja – in gewisser Weise bestimmt. Zumal „Dokumentartheater“ heute ein deutlich weiteres Feld beackert als in den sechziger und siebziger Jahren. Auf jeden Fall wird es ein Theaterabend, der zum größten Teil aus dokumentarischem Material besteht: aus Erfahrungsberichten von Menschen, die – zu unterschiedlichen Zeiten – ihre Heimat verlassen mussten, nach Mitteleuropa flohen und in Stadt und Landkreis Celle landeten. Ganz grob ergibt sich die Struktur aus der Behandlung der alten Fragen: Woher kommen wir? [Wovor und warum mussten wir fliehen?] Wohin gehen wir? [Wo und wie kommen wir an?] Wer sind wir? [Wie verlief unsere Flucht?] Ich habe also in erster Linie mit vielen Leuten, die ihre Flucht ins Celler Land geführt hat, Gespräche geführt, auch mit Leuten, welche ihr Beruf oder ihr [Ehren-] Amt mit Flüchtlingen und/oder Vertriebenen zusammenbrachte oder bringt. Dann habe ich auch viel Archivmaterial ausgewertet, und auch anderes Material, ich will es mal Alltags-Schrott nennen: Kommentare und andere Ent-Äußerungen in den sog. sozialen Medien.
Und dieses vielfältige Material untersuchen wir mit den Mitteln des Theaters. Mit Schauspielern und Musikern. Mit Worten und Tönen. Mit Bildern und Liedern.

??: Wie bist Du mit den Menschen hier aus der Gegend in Kontakt gelangt?

!!: Zunächst die üblichen ersten Schritte: Druckerzeugnisse auswerten und Internet-Recherche. Wen gibt es? Wer macht was? Wo arbeiten welche Initiativen? Dann fängt man an, Mails zu schreiben oder zu telefonieren und sich zu verabreden. Und dann trifft man ja schnell jemand, der einem schnell weiterhilft, oder wenigstens jemanden kennt, der schnell weiterhelfen kann. Und so gelangte ich vom Museum zum Archiv, vom Rathaus zur Zentralen Anlaufstelle, vom Kollegen in der Zeitung zur sudanesischen Garagenuni, vom Historiker im Kaffeehaus zum ezidischen Kulturverein, vom Taxifahrer zur syrischen Wohngruppe, vom Bund der Vertriebenen zum achtzigjährigen ewigen Flüchtlingsmädchen.

??: Hat Dich während der Vorbereitung und der Probenarbeit irgendetwas in und um Celle angenehm oder unangenehm überrascht?

!!: Ja, angenehm, sogar sehr angenehm: dass mir so viele Leute so schnell weitergeholfen haben. Dass es eine große Gesprächsbereitschaft gab; dass auch Ämter und Behörden mich zum Beispiel zurückgerufen haben, obwohl sie nur die fremde Telefonnummer eines erfolglosen Anrufversuches auf dem Display sehen konnten. Dass in Celle, offensichtlich anders als in den 90 Jahren, in Politik und Verwaltung, und ganz besonders auch in der Bevölkerung, eine große, selbstverständliche Hilfsbereitschaft besteht. Dass ich niemanden traf, der unserem Projekt reserviert gegenüber gestanden wäre, der gemeint hätte, das Flüchtlings-Thema müsse doch nicht auch noch aufs Theater – ganz im Gegenteil.

??: Neben den gegenwärtig auf der Flucht befindlichen Menschen schaust Du auch auf die Situation der Ezidinnen und Eziden sowie auf die Geschichte(n) der Leute, die nach dem Ende des Faschismus nach Celle geflohen waren: Wie ist da die Hebung der Quellen gewesen?

!!: Von den sog. „Flüchtlingen und Heimatvertrieben“, die 1945/46/47 in den Landkreis Celle gekommen waren, leben naturgemäß nicht mehr sehr viele. Aber es gibt durchaus noch auskunftsfreudige sehr alte Damen und Herren. Und es gibt eine ziemlich gute, eigentlich sehr gute Quellen-Lage in der Stadt: vor allem im Archiv des Landkreises. Dazu wurden durch die Ausstellung „Fremde – Heimat – Niedersachsen“ von 1999 und in dem hervorragenden Band „Zwischen Heimat und Zuhause“, in der Reihe „Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Landkreises Celle“ 2001 von Schulze / Rohde / Voss herausgegeben, beeindruckende Forschungsarbeiten präsentiert. Und Kathrin Panne vom Boman-Museum und Rainer Voss vom Landkreis-Archiv konnten mir auch noch etliche, noch nicht ausgewertete Tonbandaufnahmen zur Verfügung stellen. Nicht zuletzt kam ich auch in der ezidischen Gemeinde mit hinreichend viel Geduld und freundlicher Hartnäckigkeit zu den erhofften Gesprächen.

??: Auf was können sich die Besucher Deines Theaterabends einstellen? Wird Deine Produktion hier in Celle politisch Position beziehen? Und wie stellt sich das Schlosstheater zu Deiner Arbeit?

!!: Wir nähern uns dem Thema und der viel zu großen Materialfülle mit dem Handwerks-Zeug des Schau-Spielers, manchmal mit dem naiven Blick, dem sich unschuldige Fragen aufdrängen. Wir wollen den Betroffenen ein Sprachrohr sein, und deren Geschichten weitererzählen.
Wir werden nicht predigen, aber wir können nicht anders, als parteiisch sein: für die, die unsere Hilfe brauchen. Wir werden nicht eine weitere Talkshow-Runde bieten; stattdessen würden wir gerne einen bescheidenen Beitrag zum Druckkessel-Ausgleich leisten: ein bisschen Dampf rauslassen aus dieser ungeheuer übererregten, aufgepeitschten, allzu wohlfeil und allzeit empörungsbereiten [Medien]-Landschaft. Vielleicht gelingt es uns auch, was ja ganz schön wäre, mit dem einen oder anderen frischen Gedanken aufwarten zu können.
Ansonsten denke ich, man kann sich in den Zeiten der sogenannten „Flüchtlingskrise“ gar nicht ernsthaft mit dem Thema „Flüchtlinge“ beschäftigen, ohne politisch Position zu beziehen.
Die Arbeit am und mit dem Schlosstheater schließlich ist sehr angenehm und konstruktiv. Von Anfang an haben wir, der Intendant Andreas Döring, seine Dramaturgie und ich gemeinsame Sache gemacht, ich meine: die haben mich ja engagiert, die wollen ja ganz dezidiert diese Arbeit und diese Arbeitsweise.
Die Schauspielerinnen und Schauspieler, mit denen ich in „Fluchtpunkt Celle“ zusammenarbeiten darf, Katrin Steinke Quintana, Johanna von Gutzeit, Jürgen Kaczmarek, Maurizio Miksch, Johann Schibli und Rasmus Max Wirth sind schlicht wunderbar: Sie wollen etwas, sie engagieren sich und hauen sich rein.
Und dass last not least das Theater auch die ganzen Behörden-Angelegenheiten für die Mitwirkung unserer Musiker, soweit deren Asylverfahren noch lange nicht abgeschlossen sind, „ordnungsgemäß“ gebacken kriegt, spricht für die Theaterverwaltung, aber auch für die überraschende Flexibilität der beteiligten Behörden in Stadt und Landkreis.

??: Nach „Altensalzkoth“ und Deinem Stück über Hermann Löns stellt sich uns die Frage: Bist Du ein „Nordlicht“? - - Bzw. Was sagst Du: Sachsen oder Niedersachsen? Aber im Ernst: Magst Du etwas zur aktuellen Situation von Geflüchteten sagen?

!!: Ja, in gewisser Weise bin ich wohl in der Tat ein Nordlicht geworden, trotz süddeutsch-oberfränkischer Sozialisation. Ich lebe seit knapp fünfzehn Jahren in Schleswig-Holstein, und ich habe für kein Bundesland so viel gearbeitet, so viele Themen beackert wie für Niedersachsen, nicht nur für Celle und die Heide, sehr viel für Braunschweig, auch ostfriesische und oldenburger Themen.
Und jetzt zu „Sachsen“. Egal, wie letzten Endes der „Verteilerschlüssel“ auf die einzelnen Bundesländer aussieht: 1024 Angriffe, in Worten eintausendundvierundzwanzig Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland innerhalb eines Jahres [2015] sind furchtbar, ein Irrsinn, für den man nach Worten sucht, weil heute so wohlfeil schnell und reflexhaft bereits bei banal persönlichen Befindlichkeiten von „unerträglich“ und „skandalös“ geredet wird.

??: Theater ist ja mehr als Text,- und Du arbeitest auch in Celle wieder mit einer Band: prima la musica?

!!: Vielleicht ist „Band“ nicht der richtige Ausdruck. Wir haben sechs Musikerinnen und Musiker auf der Bühne, die mit Ausnahme des musikalischen Leiters Billy Ray Schlag, alle persönliche Flucht-Erfahrung haben: die Kroaten Tiana und Yasmin Kruskic, der Haitianer mit dem holländischen Namen Wilfrid Zaalberg und die Syrer Hevy Yussuf und Adnan Horo, die es im Herbst über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute nach Celle in das Lager Scheuen geschafft haben und nun etwas sehr „dezentral“ in Wardböhmen hinter Bergen untergebracht sind. Und sie alle erzählen mit ihrer Musik die Schicksale weiter, die die Schauspielerinnen und Schauspieler uns durch die Texte nahe bringen. Und das gemeinsame Musizieren, das einander die Lieder seiner ursprünglichen Heimat Vorsingen, das ist schon ein Gemeinschaft stiftendes Erlebnis; da schmilzt die Fremdheit dahin. Es ist ja oft eine eher abgeschmackte Binse, dass die Musik eine verbindende Sprache sei. Aber es ist einfach so. Wir radebrechen mit Händen und Füßen, es ist oft mühsam, uns mit Worten verständlich zu machen. Und dann singt Hevy, die syrische Musikerin, los – und wir alle denken, nein, wir spüren: Ja, so ist es. Das ist schon ein besonderes Erlebnis, das gibt es auch im Theater-Alltag nicht oft, und es wäre aufs Innigste zu wünschen, dass sich das auch ein wenig auf das Publikum übertragen möge: die große Bereicherung durch die Begegnung mit dem Fremden. Jetzt ich wohl etwas pathetisch geworden, aber was soll ich machen - - -

Fotos: Benjamin Westhoff

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