Ärzte am Krankenbett des KapitalismusZwei Tropfen Keynes pro Tag

Die Weltwirtschaftskrise bestimmt im Gewand der Schuldenkrise seit Monaten die europäische Politik. Und in etlichen Staaten führen auf Druck Deutschlands so genannte Strukturanpassungsmaßnahmen zu schweren sozialen Verwerfungen. Die Explosion der Lebensmittelpreise in vielen Teilen der Welt wird hierzulande kaum wahrgenommen. Hinzu kommt die ökologische Krise (z.B. Klimawandel), vor der sich die Staatenlenker auf ihren Klimagipfeln alljährlich blamieren – oder auch nicht: Denn kapitalistische Wachstumspolitik hat – ums Verrecken - allemal Priorität.

Im Februar gab es zwei Veranstaltungen in Celle, die sich dem Thema widmeten. Bei den »Hustedter Gesprächen « referierte Klaus Busch, emeritierter Professor der Uni Oldenburg und europapolitischer Berater des ver.di-Bundesvorstands. Und auf Einladung des Rosa Luxemburg Clubs war Herbert Schui, emeritierter Professor der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik in Celle. Wer mehr erwartet hatte als Rezepte aus dem keynesianischen Kochstudio, wurde enttäuscht.

Klaus Busch nannte als entscheidende Ursachen der »Eurokrise« die Defizite des Maastrichter Vertrages und die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Staatsschulden. Einerseits sei der währungspolitischen Integration keine wirtschafts- und sozialpolitische Integration gefolgt. Andererseits wären es vor allem die staatlichen Rettungseingriffe zugunsten der Banken gewesen, die die Schuldenquoten explodieren ließen. Beispielhaft sei dies nachzuvollziehen an den »Problemstaaten« Spanien und Irland, die vor der Weltwirtschaftskrise unterdurchschnittliche Schuldenquoten gehabt hätten.

Krisenverschärfend habe sich die Philosophie des Sparprimats ausgewirkt. Diese falsche »Therapie des harten Sparens« habe Europa zu Beginn des Jahres 2012 eine Rezession beschert, die die Schuldenkrise weiter vertiefen werde.

Als weiteren »Kardinalfehler der Politik« nannte Busch den im Juli 2011 beschlossenen Schuldenschnitt für Griechenland, der die Finanzmärkte außer Rand und Band gebracht hätte. Die Verweigerung einer massiven Intervention der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie die fehlerhafte Konstruktion der »Rettungsschirme « EFSF und ESM verhindern aus seiner Sicht eine Lösung der Krise.

KeynesianismusDer von Deutschland »verordneten« Sparpolitik mit »Schuldenbremse« erteilte Busch eine klare Absage. Dies verschärfe die krisenbedingten Auswirkungen und führe zu noch härteren Angriffen auf den »Wohlfahrtsstaat«. Strukturell forderte er Eurobonds, eine Überwindung des Systems der Wettbewerbsstaaten, eine Reform der Finanzmärkte sowie eine supranationale Europäische Wirtschaftsregierung.

Kern seiner Krisenlösungsstrategie ist aber Wachstum, denn nur so gelinge Schuldenabbau. Er forderte deshalb einen europäischen »New Deal« für Wachstum und Überwindung des Entwicklungsgefälles in der EU, eine Stärkung der Binnennachfrage in Überschussländern wie Deutschland durch expansive Lohnpolitik und ein öffentliches Investitionsprogramm.

Die Gewerkschaften müssten ihre nationalen Abwehrkämpfe stärker im europäischen Raum koordinieren, ihre Alternativlösungen stärker in der Öffentlichkeit sichtbar machen und auch die Zusammenarbeit mit der »Occupy Wallstreet-Bewegung« suchen.

Herbert Schui widmete sich zunächst eher grundsätzlich der Frage der Staatsverschuldung, wobei er einen anderen Schwerpunkt setzte. Die Hauptursache liegt seiner Auffassung nach in einer verfehlten Steuerpolitik: „Seit Jahren wird in weiten Teilen Europas auf eine adäquate Besteuerung der Gewinne privater Unternehmen und Haushalte verzichtet. Die fehlenden Staatseinnahmen wurden dann mit Kürzungen im Sozialstaatssektor ausgeglichen.“ Wenn Staatsausgaben gekürzt würden, verringere sich das Wachstum des Bruttosozialproduktes, denn die Reichen würden das ihnen zugeschusterte Mehr eben nicht vollständig investieren oder ausgeben. „Steigt das Nettoeinkommen der Haushalte mit hohem Einkommen, dann steigt in erster Linie ihr Sparguthaben.“ Einen anderen Aspekt fügte Schui hinzu: Der Lohnanteil am Volkseinkommen sinkt seit Jahren, was die Konsumausgaben drosselt und so unterm Strich auch zu geringeren Steuereinnahmen führt.

Die Sparauflagen für die europäischen Krisenländer zielen seiner Auffassung nach darauf, die Einkommen zu senken und das Arbeitsrecht zu lockern. Die deutsche Regierung sei dabei der energischste Wortführer dieser Politik. Schui verwies auf einen sehr grundsätzlichen Aufsatz von Angela Merkel in der Financial Times Deutschland aus dem Jahr 2005 (»Das Prinzip der individuellen Freiheit«). Hierin vertritt sie bezugnehmend auf den neoliberalen Vorkämpfer Hayek, dass die „historische Mission“ des Neoliberalismus mit dem „»Zusammenbruch der sozialistischen Diktaturen“ nur zu einem Teil erfüllt sei und es jetzt darum gehe den „ungezügelten Ausbau des Wohlfahrtsstaates“ anzugehen. Denn dieser sei verantwortlich für die Probleme hoher Staatsverschuldungen und einer Lähmung der wirtschaftlichen Antriebskräfte. An diese Arbeit machte sich in Deutschland bekanntlich vor ihr die Schröder- Fischer-Regierung. Ihren Job in dieser Hinsicht sehe Merkel bzw. die deutsche Regierung jetzt in Europa.

Mit Blick auf die Entwicklung in den USA, aber auch in Deutschland widerlegte Schui, dass es einen Zusammenhang zwischen „Wohlfahrtsstaat“ und Staatsverschuldung gibt, sondern es schlicht um die Verteilung des Volkseinkommens gehe.

Dem angestrebten »Fortschritt« in Form niedriger Löhne und deregulierter Arbeitsmärkte stehen in einigen europäischen Ländern aber Bevölkerungsmehrheiten entgegen, die andere Lösung für möglich halten. Die Regierungen der Krisenländer wären dagegen in der Regel mit den Auflagen der Geldgeber zufrieden. Anfang Februar habe sich Spaniens Wirtschaftsminister Luis de Guindos gegenüber dem EU-Währungskommissar Olli Rehn gebrüstet mit seinen „extrem aggressiven“ und „extrem umwälzenden“ Arbeitsmarktreformen. Rehns Reaktion: „Das wäre vorzüglich. Sehr gut.“ Nach Schuis Auffassung ist es deshalb falsch zu behaupten, die deutsche Regierung erpresse die Krisenländer. Die Frontlinie verlaufe zwischen den gesellschaftlichen Interessen: Hier das Interesse der abhängig Beschäftigten und Altersrentner, dort das Interesse des Kapitals.

Gleichzeitig aber gehe es Deutschland um die Vorherrschaft in der EU, wobei sein Kurs in der (Geld- )Politik auf dem besten Weg sei, das europäische Projekt zu ruinieren. Schui sprach sich dafür aus, alles daran zu setzten, den Euro zu retten. So müsse die EZB Staatspleiten durch den großzügigen Kauf von Staatsanleihen verhindern; Eurobonds sollten ausgegeben werden.

Eine Trendwende in der Wirtschaftspolitik – nämlich eine Verteilungspolitik von oben nach unten – sei gegenwärtig weder von der deutschen, noch von anderen europäischen Regierungen zu erwarten. Sollte in Frankreich aber der sozialistische Kandidat François Hollande gewählt werden, der im Wahlkampf für eine Steuerpolitik gegen die Reichen eintritt, könnte dies die deutsche Strategie in ihrer Rigorosität hier und dort begrenzen.

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Fraglos wollen beide Referenten eine Verbesserung der »Lage der arbeitenden Klassen« in Europa. Ihr Anliegen ist es aber nicht, die unterschiedlichen kapitalistischen Krisenphänomene in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht zusammen zu denken. Ihre Hilfskonstruktion liegt in der Rede vom »qualitativen Wachstum«, worunter sie Ressourcenschonung über Effizienz und Regenerative wie auch den Ausbau des Dienstleistungssektors verstehen. Aber ist das mehr als ein Denken in den Kategorien von gestern? Taugt es zu mehr als einer Verlängerung der offensichtlich gescheiterten kapitalistischen Akkumulationsmaschinerie? Nun lässt sich auf der anderen Seite auch nicht behaupten, dass die deutsche Bewegungslinke dem Keynesianismus allzuviel entgegenzusetzen hätte. Leider.

Klaus Busch: Scheitert der Euro? Strukturprobleme und Politikversagen bringen Europa an den Abgrund (Februar 2012);
Herbert Schui: Methode Merkozy: Wie Europa zu Tode gespart wird (Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2012, S. 66-74);