Eine menschenleere Celler Innenstadt am frühesten Morgen. Fünf link(s-radikal)e Laternen stehen in der Dämmerung beieinander und beginnen ein Gespräch.
Oma Lilo: Und – habt ihr schon gewählt?
Der lange Lulatsch: Läuft denn die Briefwahl schon?
Oma Lilo: Postkarte und Internet.
Der lange Lulatsch: Hä?
Die Dicke: Sie meint die Bänke.
Der Besserwisser: Demokratie in Reinform. Du hast die Auswahl zwischen vier unterschiedlichen Sitzgelegenheiten und kannst – nach einer Stuhlprobe (kleiner Scherz!) – ein Kreuz machen bei „Meine Lieblingsbank“.
Der lange Lulatsch: Und dann wird die Stadt mit jenen möbliert, die die meisten Stimmen bekommen hat?
Die Dicke: Warte mal – ich schaue mal auf die Abstimmungskarte. Da steht „Wenn die Stadt neue Bänke beschafft: Welche hätten Sie gern?“ Das klingt ja jetzt eher unverbindlich.
Der lange Lulatsch: Wie im richtigen Leben. „You can't always get, what you want ...“
Klein Jonas: Zeig' mal die Karte. Ich nehm' die unten rechts, die ist spacig und nicht so'n Rentner-Modell. Und was wollen die noch wissen: „Lieber mehr Sitzgelegenheiten oder lieber nebeneinander sitzen?“ Nebeneinander, klare Sache. Und dann: „Lieber mehr Bänke oder lieber mehr Bänke mit Lehne?“ Hä?
Die Dicke: Du siehst doch auf der Karte – entweder kreuzt du drei Bänke ohne oder zwei Bänke mit Lehne an.
Klein Jonas: Und wieso gibt’s nicht drei Bänke mit Lehne anzukreuzen?
Die Dicke (lacht): Oh ja, wunderbar. Kann das mal jemand dem Kind erklären, bitte.
Oma Lilo: Der Befriedigung von Bedürfnissen sind im Kapitalismus gewisse Grenzen gesetzt, weil das Befriedigung verschaffende Ding eben nicht nur einen Gebrauchswert hat – also zum Beispiel den, dass sich auf eine Bank mit Lehne besser sitzen lässt –, sondern eben auch einen Tauschwert. Hier wird bildlich behauptet, drei Bänke ohne Lehne hätten denselben Tauschwert wie zwei Bänke mit Lehne.
Klein Jonas: Was nicht erklärt, warum ich mich zwischen den Alternativen entscheiden soll. Zum Sitzen reicht mir ja sogar eine Bank – und da nehme ich dann die mit Lehne.
Der Besserwisser: Angenommen, drei Leute passen auf eine Bank. Die Stadt behauptet jetzt, sie könne nur entweder für neun Leute unbequeme oder für sechs Leute bequeme Bänke beschaffen. Du sollst gewissermaßen eine moralische Entscheidung treffen: Willst du, dass alle sitzen können, wenn auch unbequem – oder willst du, dass manche bequem sitzen können, dafür aber andere gar keinen Platz haben.
Klein Jonas: Fehlen denn Holz oder Schrauben?
Der lange Lulatsch: Da heißt es ja für die soziale Marktwirtschaft, dass jede Nachfrage bedient werden kann. Wenn auf einmal alle Leute rote Schuhe haben wollen, gelingt es dem Kapitalismus auch, die entsprechenden Werkstoffe – sprich: rote Farbe in ausreichendem Maß – zu beschaffen.
Klein Jonas: Aber dann wäre doch „sozial“, die bequemen Bänke zu produzieren.
Der lange Lulatsch: Du vergisst den „Tauschwert“. Die Bänke müssen bezahlt werden. Und die Stadt sagt: Wir können uns nur entweder 30 Bänke ohne oder 20 Bänke mit Lehne leisten.
Klein Jonas: Stimmt das denn?
Die Dicke: Im Prinzip ja – sie hat nicht unbegrenzt Geld. Aber sie könnte zum Beispiel darauf verzichten, den Nordwall zweispurig auszubauen, oder sie könnte die Parkgebühren erhöhen – und das so eingesparte bzw. zusätzlich eingenommene Geld dann für die Beschaffung von Bänken verwenden, egal ob mit oder ohne Lehne.
Klein Jonas: Weiß die Stadt denn überhaupt, wie viele Bänke sie braucht? An einem ungemütlichen Platz ist es doch völlig egal, ob zwei oder drei Bänke mit oder ohne Lehne aufgestellt werden. Da würde sich doch sowieso kaum jemand hinsetzen. Warum fragen sie nicht danach, wann und wo die Leute überhaupt Lust haben, sich hinzusetzen?
Oma Lilo: Das wollen sie lieber selbst bestimmen. Weil: An manchen Plätzen will man bestimmte Leute eben nicht haben. Die sollen sich ja nicht einfach so mal treffen und rumgammeln, wie wir früher sagten. Denn eigentlich hat die Möblierung ja nur den Zweck, dass sich die Leute beim Shoppen zwischendrin mal etwas ausruhen können, um danach in den nächsten Laden zu rennen.
Der lange Lulatsch: Ja – hier auf der Rückseite. Das ist auch noch spannend. Es gibt ein Mehrklassenwahlrecht. Da wird nachgefragt, ob die Leute als Tourist*in, Besucher*in oder Einwohner*in in der Altstadt ist. Und es werden drei Altersklassen nachgefragt.
Oma Lilo: Wobei offen bleibt, ob die Meinung einer Gruppe mehr zählt als die einer anderen.
Der lange Lulatsch: Wahrscheinlich gibt es aber eine Einschätzung davon, wer mehr zahlt.
Klein Jonas: Ziemlich verrückt, dieser Kapitalismus. Wenn ich meiner Stimme mehr Gewicht verschaffen will, sollte ich also vielleicht ankreuzen, ich wäre ein Tourist zwischen 20 und 60, der zu Fuß unterwegs ist.
Oma Lilo: Trotzdem bin ich auf den „Wahl“-Ausgang gespannt. Schade, dass es ein „Wahl“-Geheimnis gibt. Wäre es nicht eine wirklich wahlentscheidende Hilfe zu wissen, welche Lieblingsbank die drei OB-Kandidat*innen sich ausgesucht haben – und ob sie lieber allein oder nebeneinander sitzen?
Der Besserwisser: Ich schätze mal, sie stehen alle auf die Deutsche Bank.
Oma Lilo: Haha.
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Leider liegt der Termin der Bekanntgabe der Wahlentscheidung nach unserem Redaktionsschluss. Wir prognostizieren folgenden Einlauf: gewinnen wird Bank 2 mit 50 %, gefolgt von Bank 4 (30 %), Bank 1 (13 %) und Bank 3 (12 %). Wahrscheinlich kann also Bank 2 allein regieren und muss keine Koalition bilden.