Entschleunigung im Schneckentempo
Wären im vergangenen Jahr 3991 Menschen bei Auslandeinsätzen der Bundeswehr getötet worden, hätten wir wohl zumindest eine polarisierte Diskussion. Bei den 3991 Menschen die im Jahr 2011 auf deutschen Straßen ums Leben kamen (und den 389.000 Verletzten) gibt es das nicht. Es ist wissenschaftlich eindeutig belegt (siehe nächste Seite), dass diese Zahl mit Geschwindigkeitsbegrenzungen erheblich reduziert werden kann. Dazu gehört auch Tempo 30 im innerstädtischen Verkehr. Vor diesem Hintergrund scheint es geradezu absurd, dass dies nicht längst die innerörtliche Regelgeschwindigkeit ist. Es ist fahrlässig, mit welchem Schneckentempo die Verwaltungsspitze die Ausweitung entsprechender Zonen betreibt. Und es ist zynisch, wie und warum die Wirtschaftsfreiheitsfreunde von FDPRatsfraktion und Industrie- und Handelskammer sich gegen Entschleunigungsmaßnahmen sperren.
Anlass für einen öffentlichen Schlagabtausch im Mai bot ein kleines Paket von temporeduzierenden Maßnahmen, für deren Umsetzung die Verwaltungsspitze die Zustimmung des Rates nachsuchte. Unter Gesichtspunkten von Lärmreduzierung sollen folgende Straßenabschnitte „beruhigt“ werden:
Der Bereich Harburger Heerstraße Einmündung Hohe Wende bis Hartzerstraße mit einer Geschwindigkeitsverringerung auf Tempo 30 am Tag und in der Nacht; ebenso in der Lüneburger Heerstraße von der Einmündung Dörnbergstraße bis Nöldekestraße und südwestlich des Siemensplatzes sowie von der Einmündung Berggartenstraße bis Siemensplatz. Die Straße Am Wasserturm und die Bernstorffstraße werden in die bestehenden Tempo-30-Zonen eingebunden. Dann gibt es noch einige Straßenabschnitte für die Tempo 30 bei Nacht gelten soll – also allein aus Lärmschutzgründen.
Dies ließ den FDP-Ratschef Joachim Falkenhagen quengeln: „Tempo 30 auf Durchgangsstraßen zu Zeiten, in denen Handwerksmeister und Selbstständige durch zügiges Vorankommen ihr Einkommen und die von ihnen zu zahlenden Steuern erwirtschaften, sind ein gesellschaftliches Ärgernis. Diese Begrenzungen gehören abgeschafft." (CZ) Verständnis habe man für den Schutz der Nachtruhe, aber für mehr nicht.
Martin Exner, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Lüneburg- Wolfsburg, sprang ihm mit einem Brief an Celles OB Mende zur Seite: „Mit Sorge werden wir seitens betroffener Unternehmer auf die zunehmende Ausweisung von Tempo-30-Strecken im Celler Straßenbestand – auch im Bereich der die Stadt querenden Bundesstraßen – angesprochen." (CZ) Unstrittig sei, dass die Tempobegrenzungen zu einer Behinderung des Verkehrsflusses führten, so Exner – was völliger Quatsch ist (siehe Folgeartikel in der Heftausgabe).
Die einzige öffentlich vernehmbare Stimme gegen diese autolobbyistische Propaganda kam von Nadin Bisewski, Vorsitzende des Kindergarten-Stadt-Elternrats (KSE) und für die Grünen stellvertretende Ortsbürgermeisterin im Stadtteil Hehlentor. Sie fordert die flächendeckendende Einführung von Tempo 30. Sie führte zentral die Aspekte der Verkehrssicherheit ins Feld: Die Zahl der Unfälle sinke um mindestens 20 %; in Hamburg sei in Tempo-30-Zonen die Zahl der Schwerverletzten um 37 %, in Münster sogar um 72 % zurückgegangen. Und sie kritisierte gegenüber der CZ die Verwaltungsspitze: „Im Alten Bremer Weg haben sich fast alle Anwohner für Tempo 30 ausgesprochen, der Ortsrat hat diese Forderung unterstützt, denn die Radfahrer, vor allem Schulkinder, müssen auf der Straße ohne Radweg fahren, wodurch sie natürlich besonders gefährdet sind. Leider ist die Angst vor neuen Tempo-30-Straßen anscheinend zu groß, als dass man sich endlich dazu durchringen könnte, die hier dringend benötigte Beschränkung auszusprechen.“
Dass sich Verwaltung und Politik so schwer tun, hat tatsächlich zu tun mit der Angst vor den Wähler_innen. Bei einer CZ-Internet-Umfrage sprachen sich von den 93 Teilnehmer_innen 92 % dagegen aus, dass die Stadt weitere Tempo-30-Zonen ausweist.
Aber um Zonen geht es eigentlich längst nicht mehr: Tempo 30 muss die innerörtliche Regelgeschwindigkeit werden. Alles andere ist gegen jede Vernunft – der viel beklagte »Schilderwald« würde so verschwinden. Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung fügt hinzu: „Eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h in Ortschaften als Regelgeschwindigkeit meint nicht, dass auf auszuweisenden Strecken nicht auch höhere Geschwindigkeiten erlaubt werden können. Aber die »Beweislast« wird umgekehrt: Es muss streckenbezogen begründet werden, warum schneller gefahren werden darf – und nicht, wie heute die Regel, warum langsamer gefahren werden muss.“