Einige Anmerkungen dazu, wie ein Plagiator Oberbürgermeister werden konnte

Wie kann es kommen, dass der Kandidat einer bürgerlichen Partei in eklatanter Weise das Urheberrecht verletzt und trotzdem gewählt wird? Wäre das vor zehn Jahren auch möglich gewesen? Oder hat der Alltagsgebrauch von „Strg + C / Strg + V“ das Gefühl für den dahinterstehenden Betrug an den Wähler*innen gänzlich abgestumpft?

Wir denken, dass der Skandal zu anderer Zeit und an einem anderen Ort nachhaltige Konsequenzen gehabt hätte. In Celle haben sich aber tragende Akteure von CDU, Medien und Wirtschaft dafür entschieden, einen nicht mehr tragbaren Kandidaten gegen jeden bürgerlichen Anstand weiter zu stützen.

Vier Wochen vor der Wahl hatten wir mit einer Pressemitteilung und kurz darauf in unserem Septemberheft darauf aufmerksam gemacht, dass Dr. Jörg Nigge drei von zehn Kapiteln seines Wahlprogramms sowie die Einleitung praktisch komplett von der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker abgeschrieben hat. Neben den Kapiteln Umwelt, Mobilität und Vielfalt war zudem das ganze Wahlkampfkonzept geklaut: Ein Celler für Celle, der verspricht „Celle kann mehr“. Man/frau ersetzte Celle durch Köln und hat das für Reker erfolgreiche Design ihres Wahlkampfes aus dem vergangenen Jahr.

Das Plagiat des Celler Oberbürgermeisterkandidaten wurde kurz zu einem bundesweiten Thema und schaffte es sogar in die Tagesthemen und die BILD. Eigene Recherchen oder Nachfragen blieben – bis auf den NDR – aber leider aus. Und die Lokalmedien stellten sich nach einer kurzen Irritation geschlossen auf Nigges Seite.

„Nigge wollte sich persönlich nicht zu den Vorwürfen äußern“, berichtete zunächst CelleHeute. Und weiter: „Er beobachte mit Befremden einen schleichenden „Schmutz-Wahlkampf“, an dem er sich nicht beteiligen wolle und setzt lieber auf Sachargumente.“

Der Stadtverband der CDU reagierte geradezu toll-dreist: „Als Vertreter einer sachorientierten Politik […] ist sich Jörg Nigge daher nicht zu schade, gute Ansätze anderer als sinnvolle Ergänzungen in seine eigenen Konzepte einfließen zu lassen. Genau dieses „Benchmarking“, was bei Unternehmen und im persönlichen Bereich selbstverständlich ist, macht den Unterschied zwischen einem Parteipolitiker, der in eingefahrenen Strukturen denkt, und einem Stadtmanager aus, der ohne Scheuklappen offen für Neues zum Wohle seiner Stadt und des Gemeinwohls ist.“

Nur mal zur Klarstellung: Es geht nicht um „Benchmarking“, es geht um eine Urheberrechtsverletzung. Henriette Reker hatte ihre Website mit einem Copyright-Vermerk versehen. Nigges Leistung ist also Diebstahl geistigen Eigentums – und nichts anderes. Muss man einen CDU-Stadtverbandsvorsitzenden wirklich darauf hinweisen, dass Privateigentum das Fundament der bürgerlichen Gesellschaft ist?

Relativierung und Bagatellisierung – das wurde die Linie von Cellescher Zeitung und CelleHeute. Den Ausweg aus der Glaubwürdigkeitskrise Nigges wies sofort Michael Ende in der CZ: „Der Umstand, dass Programme einer CDU-Kandidaten und einer Grünen-Frau, die schließlich eine "Regenbogenkoalition" unterstützte, übereinstimmen, macht einmal mehr deutlich: Politiker aller Couleur arbeiten heute mit Worthülsen und banalen Sätzen, die beinahe beliebig untereinander austauschbar sind. Unverfängliches Blabla statt klarer Kante, stromlinienförmige Uniformität statt erkennbarer Profile, Allgemeinplätze, wo klare Standpunkte gefragt wären.“ Aber die Programme stimmen nicht überein, weil es sich um Allgemeinplätze handelt, sondern weil Nigge abgeschrieben hat. Im eigentlichen Artikel stichelt Ende dann sogar noch dahingehend gegen Mende, dass dieser zwar nicht abgeschrieben, aber zu Mobilität, Umwelt und Vielfalt gar nichts in seinem Programm habe.

CelleHeute und die Unterstützer*innen Nigges nahmen diesen Faden sofort auf. So gab etwa Jutta Krumbach von der FDP zum Besten, dass die FDP schon 1991 mit Mendes aktuellem Slogan „Zukunft für Celle“ geworben habe. So wurde – und das war die Spielidee – eine Urheberrechtsverletzung auf der Ebene von Waschmittelwerbung kommuniziert.

Nigge selbst versuchte auch noch, die Kurve zu kriegen, was sich bei der Fernsehsendung „Hallo Niedersachsen“ dann so anhörte:

„Sie sehen mich ehrlich gesagt völlig überrascht. Es geht um kleine Teile des Programmes. [Drei von zehn Programmpunkten.] Das ist dem geschuldet, dass Programme sich nunmal ähneln, dass die Themen sich natürlich ähneln. [Nein, es ist dem geschuldet, dass abgeschrieben wurde.] Und dass dort gewisse Dinge dann übernommen werden, ist ganz klar. [Das ist überhaupt nicht klar, denn es ist einer Urheberrechtsverletzung.]

Ähnlich unbedarft gibt sich der Vorsitzende der CDU-Fraktion, Heiko Gevers, im NDR-Interview: „Was einmal gut war, kann bei einer Wiederholung nicht unbedingt schlecht werden [es ist keine Wiederholung, sondern ein Plagiat] und wir haben ja gesehen, dass diese Formulierungen in Köln hervorragende Ergebnisse gezeitigt haben. Und von daher ist es durchaus verständlich, wenn man so etwas, was wirklich gut gewesen ist, auch dann versucht in den eigenen Bereichen zu übernehmen. [Die Ideen ja, aber nicht die Formulierungen.]

Mit einer Pressemitteilung setzt Nigge dann dem Ganzen noch ein Sahnehäubchen auf. Er habe „wenige Passagen direkt übernommen, da ich aus bis dahin politischer Naivität davon ausgegangen bin, dass es der Sache dienlich ist, gute Punkte zu übernehmen, unabhängig davon, von wem sie stammen. Dafür übernehme ich die volle Verantwortung und bin auch weiterhin davon überzeugt, dass ein Umschreiben der Punkte trotz gleicher Zielsetzung unlauter gewesen wäre.“

Im wissenschaftlichen Bereich ist ein Umschreiben in der Tat „unlauter“, so denn die Quelle nicht benannt wird. Aber nicht das Umschreiben, sondern das Verschweigen der Quelle ist unwissenschaftlich.

Kurioserweise traut Dr. Jörg Nigge sich selbst nicht: „Da Nigge auch einen Doktortitel trägt, drängt sich die nächste Frage auf: Hat er auch hier abgeschrieben? Die Dissertation „Konjunkturen und Krisen des niedersächsischen Handwerks zwischen 1945 und 1995“ wurde im September 2002 an der Universität der Bundeswehr München eingereicht. Nigge ahnte, dass er früher oder später danach gefragt werden würde und hat eine Antwort parat: „Nachdem mit Beginn meiner Nominierung absehbar war, dass Sachthemen im Wahlkampf eine untergeordnete Rolle spielen werden, habe ich die Dissertation präventiv von der Firma Vroniplag prüfen lassen. Diese Firma hat beispielsweise die Dissertation von zu Guttenberg überprüft. Die Prüfung ergab keine Hinweise auf offensichtliches Plagiieren.“ (CZ, 11.08.2016)

Die Dissertation von Guttenberg wurde nicht von der Firma VroniPlag untersucht, sondern von dem Projekt „GuttenPlag Wiki“. Die Firma VroniPlag (nicht zu verwechseln mit dem unentgeltlichen Projekt „VroniPlag Wiki“) indes ist ein Ein-Mann-Unternehmen, das gegen Honorar (500 € netto pro Tag) anbietet, Dissertationen auf Plagiat zu prüfen. Von dieser Ungenauigkeit in der Darstellung Nigges abgesehen – vollkommen unüblich und insofern erstaunlich ist, dass Dr. Nigge anscheinend selbst nicht einzuschätzen vermag, ob in seiner Dissertation unsauber mit Quellen umgegangen worden ist oder nicht – und deshalb tatsächlich Geld für eine Prüfung der eigenen Dissertation ausgegeben haben will.

Eigentlich fehlte dann nur noch eins: Der „Täter“ musste zum Opfer gemacht werden. Und angesichts der beträchtlichen Werbeeinnahmen, die ihm der Kandidat bescherte, war sich Peter Fehlhaber von „CelleHeute“ nicht zu schade, genau das in die Welt zu setzen. Unter der Überschrift „„Tötet ihn“ – Auch Ministerpräsident äußert sich zur „Abschreib-Affäre““ beschreibt Fehlhaber zwar zunächst das Desaster: „Dr. Jörg Nigge, ertappt beim Abschreiben. Hilflos in der Reaktion und offenbar falsch, schlecht oder gar nicht beraten im Umgang damit. Dazu eine suboptimale CDU-Presseerklärung, eine ungeschickte Schuldzuweisung in einem NDR-Interview und am Ende des Tages eine „Stellungnahme“ vom Angeschossenen selbst, die für weitere Irritationen sorgte. So weit, so gut. Aber worüber sprechen wir eigentlich, von Celle über Köln bis hin zur Tagesschau und nun sogar zur Landesregierung?“ Dann aber kommt die bekannte Verteidigungslinie. Wahlslogans würden sich sowieso alle gleichen: „Überschriften und Slogans werden aber, Hand auf’s Herz, eher wahrgenommen als Wahlprogramme und sind demnach durchaus ebenbürtig zu behandeln.“ Nein, sind sie selbstverständlich nicht. Aber das will ein Journalist eben nicht wahrhaben, der sein Geschäft darin sieht, alles „unzensiert und unkommentiert“ zu veröffentlichen – d.h. kurz gesagt, ohne die Arbeit eines Journalisten erledigen zu wollen.

Und was niemanden interessierte? Der Celler Oberbürgermeister ist der Chef einer Verwaltung mit über 1000 Beschäftigten. Der bürgerliche Wertekanon geht davon aus, dass Chefs eine Vorbildfunktion haben sollten und dass sie sich in einer öffentlichen Verwaltung an Recht und Gesetz halten, oder?

All das gerät aus den Fugen, wenn es nicht das geringste Bewusstsein über den Tatbestand einer Urheberrechtsverletzung gibt. Dass hier seitens der konservativen Parteien und Wählergemeinschaften, der CZ und CelleHeute eigene Grundsätze zugunsten von machtpolitischem Kalkül kurzerhand über Bord geworfen wurden, ist frappant.

 

Urheberrecht? Scheißegal!

Auf unsere Anfrage hin teilte uns das Amt für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Köln am 11.10. mit:

„Frau Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat keine (zivil-) rechtlichen Schritt gegen Herrn Dr. Jörg Nigge eingeleitet. Sie hat die Angelegenheit für erledigt erklärt.“

Am 10. Oktober wandten wir uns noch an die Kölner Werbeagentur POLIVOX, die im Kölner Oberbürger-meister-Wahlkampf für Henriette Reker tätig war.

„Dr. Jörg Nigge hat ja nicht allein Passagen aus dem Programm von Henriette Reker plagiiert, auch große Teile der gesamten Kampagne, die Sie für Frau Reker entwickelt haben, insbesondere aber auch der Webauf-tritt Nigges sindpraktisch eine Kopie. Von Ihnen würden wir deshalb gern wissen:

Sind Sie auch für Herrn Dr. Jörg Nigge tätig gewesen?

Wenn nein, haben Sie eigentlich (zivil-)rechtliche Schritte gegen Dr. Jörg Nigge wegen der Verletzung des Urheberrechts eingeleitet?“

Eine Antwort blieb bis zum Redaktionsschluss aus.