Kino 8 ½-Publikumsranking: Frantz vor Toni Erdmann

„Die Filme sind der Spiegel der bestehenden Gesellschaft. Sie werden aus den Mitteln von Konzernen bestritten, die zur Erzielung von Gewinnen den Geschmack des Publikums um jeden Preis treffen müssen.“ Das sind die ersten Sätze aus Siegfried Kracauers Essay „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ aus dem Jahr 1928. Wir haben Stefan Eichardt vom Kino 8 ½ ein paar Fragen gestellt, um  das Kinojahr 2016 zu bilanzieren.

Wie fiel das vergangene Kinojahr denn für Euch aus?

Rückbetrachtungen auf ein Kinojahr fallen beim achteinhalb grundsätzlich etwas anders aus als bei gewerblichen Kinos. Richtige Kinos zeigen ihre Filme zum Kinostart, disponieren ihr Programm anhand professioneller Zuschauerprognosen, die in der Regel damit stehen und fallen, wie viele Werbemittel Verleih und Produzent in einen Film investieren und wie prominent und damit vermarktbar Regisseur, Darsteller oder Thema sind. Kino achteinhalb indes wartet die Resonanz ab, die ein Film seitens Filmkritik und Publikum erfährt und berücksichtigt zudem Erfahrungen und Meinungen befreundeter Kinobetreiber. 2016 wurden die Kinos in Deutschland mit 637 Filmen "geflutet". Wir graben so lange im Gewusel dieses Ozeans an Informationen, bis letztlich doch noch herausstechen kann, was es auf den ersten Blick nicht tut. So gibt es bei uns ambitionierte Filme zu gucken, die ansonsten unterhalb der Oberfläche der öffentlichen Wahrnehmung bleiben. Filme, die aus Sicht der Kinokasse so gut wie nicht stattgefunden haben, wie "Anomalisa" (33.360 Zuschauer), "Wild" (24.812), "Unsere kleine Schwester" (20.405), "Auf einmal" (8.567) oder "Heimatland" (1.486) und Dokumentarfilme wie "Landstück" (5.209) und "Parchim International" (5.629).

"Wild" und "Auf einmal" sind übrigens deutsche Filme, die aber im Ausland mehr Resonanz finden als hierzulande. Ins Jahr 2017 sind wir mit "Schneider vs. Bax" von Alex van Warmerdam gestartet. Den haben in Deutschland gerade mal 2.179 Zuschauer gesehen, was kein Wunder ist, denn er lief vor uns bundesweit lediglich in 15 Kinos. Unser Publikum zeigte sich ausnahmslos angetan. Vom gleichen Regisseur hatten wir 2014 "Borgman" gezeigt, der ähnlich wenig Publikum gezogen hatte. Wobei das nicht allein am Publikum liegt, denn wenn kaum ein Kino solch einen Film in sein Programm aufnimmt, können ihn auch kaum Leute sehen - jedenfalls nicht im Kino.

Und wie macht sich das programmatisch bemerkbar?

Wir können grundsätzlich jeden Film spielen, der in Deutschland an den Kinostart geht. Aber wir nudeln nun mal nicht die Filme ab, die es sich leicht machen mit bewährten Rezepturen wie Prequel, Sequels oder Spin-offs erfolgreicher Vorläufer, Adaptionen bekannter Literatur, Biopics und zeithistorischen Stoffen und entsprechendem Werbeaufwand vor allem auf das Portemonnaie des Publikums schielen. Unsere Filme rangieren in den TOP 100 Jahreslisten der kommerziell erfolgreichsten Filme entweder in der unteren Hälfte oder schaffen es erst gar nicht unter die TOP 100. 2016 hatten wir mit dem Ausnahmeereignis "Toni Erdmann", der mit 777.445 Zuschauern in 224 Kinos auf Platz 38 steht, zum ersten Mal einen Film, der unter den TOP 50 platziert ist. Lediglich zehn unserer Filme sind in den TOP 100 vertreten.

Welche Zahlen spielen denn die "Topfilme" vergleichsweise ein?

Die großen Kinoerfolge der Vorjahre wie 2015 "Star Wars" mit 9 Millionen Zuschauern in 826 Kinos und einem Einspielergebnis von über 102 Millionen Euro oder 2014 mit "Honig im Kopf" mit über 7 Millionen Zuschauern in 791 Kinos und über 58 Millionen Euro blieben 2016 aus. Auf Platz 1 bis 4 befinden sich vier US-amerikanische Animationsfilme. "Zoomania" liegt dabei mit 3.829.668 Zuschauern in 729 Kinos und einem Einspielergebnis von 30.794.712 Euro auf Platz 1. Was die Zahlen angeht, kann man insofern von einem Jahr der Kinotiere sprechen, war doch die animierte Tierwelt in 3D in deutschen Kinos der Renner.

Habt Ihr dieses Jahr wieder Eure Top Ten ermittelt?

Den Spaß eines internen Jahresrankings unserer Lieblingsfilme lassen wir uns natürlich nicht nehmen: And the Winner is - wie kaum anders zu erwarten - Toni Erdmann dicht gefolgt von Frantz, Ewige Jugend, Unsere kleine Schwester, Anomalisa, Julieta, Auf einmal, The Danish Girl, Alles was kommt und Wild. Wobei wir, was die Zuschauerresonanz angeht, die Kartenwünsche für "The Danish Girl" und "Toni Erdmann" kaum erfüllen konnten und bei "Julieta" und "Wild" leider ganz schwach besucht waren.

"The Danish Girl" lief bei uns aber auch derart gut, weil nach den Vorstellungen die Transsexuelle Kristina Schneider ihre Sicht auf den Film referierte und zur Diskussion einlud. Dieses Angebot fand großen Anklang.
Bei der Gelegenheit kann ich auch das Ergebnis unseres diesjährigen Publikumsranking verraten. Da ging "Frantz" mit einer Stimme vor "Toni Erdmann" durch die Ziellinie, auf Platz 3 "The Danish Girl".

Toni Erdmann überstrahlt ja fast alles, was macht das deutsche Kino im Schatten dieses Hypes?

Das deutschsprachige Kino strahlte 2016 aus Sicht eines Arthousekinos vor allem durch das künstlerische Schaffen von Frauen sowohl in Regie als auch in Schauspiel, die das deutsche Kino quer durch die Genres wieder in einen aufregenden Ort verwandelten. Regie: Maren Ade (Toni Erdmann), Maria Schrader (Vor der Morgenröte), Nicolette Krebitz (Wild), Asli Özge (Auf einmal) und Doris Dörrie (Grüße aus Fukushima). Schauspiel allen voran Sandra Hüller (Toni Erdmann), Paula Beer (Frantz) und Lilith Stangenberg (Wild). Frauen bestachen aber auch international mit Mia Hansen-Løve Regiearbeit in "Alles was kommt" und Andrea Arnold mit "American Honey" sowie darstellerisch Isabelle Huppert (Alles was kommt), Emma Suárez und Adriana Ugarte (Julieta), Alicia Vikander (The Danish Girl) und Masami Nagasawa (Unsere kleine Schwester), Amy Adams (Nocturnal Animals und Arrival). Wobei es in diesen Filmen oft Frauen sind, die vermeintliche Ausweglosigkeiten überwinden. Künstlerisch kann man insofern beim Kinojahr 2016 von einem Jahr der Frauen sprechen.

Das deutsche Arthouse-Kino hat im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern sein aufgeschlossenes Publikum früherer Jahre weitestgehend eingebüßt. Heute wird vor allem Ablenkung, Entspannung und Unterhaltung gesucht. Filme, die in der Gegenwart spielen, werden als belastend empfunden und gemieden. "Toni Erdmann" bildet diesbezüglich in jeder Beziehung die große Ausnahme. Der erste deutsche Kinospielfilm, der in der Gegenwart einer neoliberalen, globalisierten Arbeitswelt spielt. Mag sein, dass das Ausland das "spürt" und dies ein Grund mit ist für den europaweiten "Toni Erdmann"-Rausch. Ansonsten verharrt das deutsche Kino thematisch stur in der alten Bundesrepublik. Das Ganze mutet, denke ich jedenfalls gelegentlich, fast schon wie ein kollektives Verdrängungsverlangen an.

Kino achteinhalb weist übrigens zwei Alleinstellungsmerkmale in Deutschland auf: Wir sind das einzige Kino, das während des Filmvorführung eine Pause einlegt und kein Kino informiert sein Publikum derart umfassend und fair über seine Filme wie das achteinhalb auf seiner Webseite.

Was bringt uns das neue Kinojahr?

2017 soll sich ein US-amerikanischer Blockbuster nach dem anderen die Klinke in die Hand geben. Laut einer Prognose des Hollywood Reporters, der führenden Fachzeitschrift der Filmindustrie, wird das Kinojahr 2017 alle Kinokassenrekorde brechen und das weltweite Rekord-einspielergebnis von 2015 mit fast 40 Milliarden Dollar ohne Probleme übertrumpfen. Davon unberührt geht das achteinhalb in sein 23. Spieljahr. Begleitend zu unseren Freitag/Samstag-Filmen ist einiges in Planung.

Im Rahmen unserer Filmreihe "Wehrhafte Demokratie stärken, Ausgrenzung entgegentreten" zeigen wir acht Filme.

Die Filmreihe "Kirche trifft Kino" geht 2017 in ihr drittes Jahr. CinEspanol, unsere Reihe spanischsprachiger Filme in OmdU, geht in ihr siebtes Jahr.

Am 23. Februar zeigen wir in Kooperation mit dem Schlosstheater einen Film über die Schauspielschule Hannover. Zwei Absolventen dieser Schule, die jetzt zum Ensemble gehören, sind an dem Abend im achteinhalb.

In Kooperation mit der CD-Kaserne und der CRI veranstalten wir in den Sommerferien als Beitrag zum Rahmenprogramm von 725 Jahre Celle Open-Air-Kino auf dem Gelände der CD-Kaserne.