Farce oder Beteiligungs-Chance?
In diesem Herbst soll es in Celle wieder einen sogenannten Bürgerhaushalt geben. Vor zwei Jahren führte die Stadt das erste Mal eine »Konsultation« der Bürger_ innen zu den Haushaltsplanungen durch. Die Beteiligung war enttäuschend. Gerade mal 21 Bürger_innen reichten insgesamt 73 Anregungen ein. Die Realisierung eines Vorschlags allerdings hätte Verwaltung und Rat in den letzten Wochen einiges an Zeit und Nerven gespart. Zur Kostensenkung war vorgeschlagen worden, Stadtbaurat Matthias Hardinghaus zu entlassen. Das mit dem Bürgerhaushalt vorgegebene Sparziel hätte sich – angesichts der kostenträchtigen, Hardinghaus öffentlich zugerechneten Fehler – in einer Dimension verwirklicht, die die Bürgerbeteiligung zu einem großartigen Erfolg gemacht hätte.
Dieser Vorschlag verweist gleichzeitig auf das glorreichste Experiment der europäischen Emanzipationsgeschichte: die Pariser Commune: die jederzeitige Abwählbarkeit der Beamten. Und auch die Idee der Bürgerhaushalts bewegt sich in einer durch die Commune hervorgebrachten Ideengeschichte. In der »Proklamation der Commune vom 19. April 1871« ist der Kommune als untrennbares Recht zugestanden: die Entscheidung über das Kommunalbudget, über Einnahmen und Ausgaben sowie die Festsetzung und Verteilung der Steuern. Es gehe um „die freiwillige Vereinigung aller lokaler Initiativen, das spontane und freie Zusammenwirken aller persönlichen Energien zur Verwirklichung des gemeinsamen Zieles: das Wohlergehen, die Freiheit und Sicherheit der Gesamtheit“. Das liegt nun 141 Jahre hinter uns, die Idee kommunaler Selbstverwaltung aber ist seitdem über ihre (formal-) demokratische Verfasstheit nicht hinausgekommen.
Der »Bürgerhaushalt« allerdings knüpft in seinen ausgeprägten Formen daran an. Seinen Ursprung hat diese Idee im brasilianischen Porto Alegre. Nachdem dort eine linke Koalition das Rathaus übernommen hatte, wurde 1989 eine langfristig angelegte Beteiligung der Bevölkerung am Haushaltsverfahren eingeführt, der »Beteiligungshaushalt« (Orçamento participativo = OP). Porto Alegre ging es seinerzeit ähnlich wie vielen deutschen Städten heute: Es war praktisch bankrott.
Das Beteiligungsverfahren basiert zunächst auf Versammlungen in den Stadtteilen sowie Themenversammlungen. An die Diskussionen schließt sich eine Wahl von Delegierten in den Rat des OP an, der für die Konkretisierung der Vorschläge und die weitere Verfahrenskontrolle zuständig ist. Eine grundlegende Idee des Orçamento participativo besteht darüberhinaus in der Einbeziehung des Gedankens sozialer Gerechtigkeit. Stadtteile mit vergleichsweise schlechter Infrastruktur erhalten mehr Mittel als die »besseren« Quartiere. Am Ende des jährlichen Beteiligungsverfahren stellt der Rat des OP seine Ergebnisse in den Delegiertenforen vor und die zuständigen Koordinator_innen der Kommunalverwaltung legen dar, welche Arbeiten und Dienstleistungen aufgrund technischer oder gesetzlicher Gründe nicht umgesetzt werden können – schließlich stimmt der Stadtrat über den Haushalsplan ab.
Porto Alegre hat rund 1,4 Millionen Einwohner. Da nehmen sich die 976 Bürger_innen, die sich am ersten Verfahren beteiligten dürftiger aus als die 21 »Aufrechten « vom Celler Bürgerhaushalt 2010. Doch schon im Jahr 2003 waren es in Porto Alegre 23.520, was immerhin einer Beteiligung von 1,7 % entspricht. In Celle mit seinen 70.000 Einwohner_innen müssten sich rund 1.200 Menschen einbringen, um diese Quote zu erreichen. Leider beschäftigen sich die meisten deutschen Studien zu Porto Alegre vorrangig mit demokratietheoretischen Fragen, nur gelegentlich finden sich Hinweise auf die materiellen Effekte. Aber z.B. wurde durch Umkehrung der Prioritäten in marginalisierten Vierteln eine medizinische Grundversorgung eingerichtet und die Anschlüsse ans Abwassernetz stark ausgeweitet (von 46 % im Jahr 1989 auf 84 % im Jahr 1999). Das hätte ein linkes Stadtparlament wahrscheinlich auch ohne Bürgerbeteiligung hinbekommen können, aber es zeigen sich eben auch andere Folgen: Bei der Ansiedlung eines riesigen Supermarkts etwa drängte die Bevölkerung auf den Bau eines Kindergartens für die Angestellten, verlangte die Einstellung älterer Beschäftigter ebenso wie die von dunkelhäutigen Brasilianer_innen. Es wurde die Bereitstellung von Verkaufsfläche für lokale Produkte eingefordert wie auch, dass »Abfälle« zu selbstverwalteten Kooperativen gebracht werden müssten.
Und was deutsche Politiker_innen überraschen dürfte: Der Haushalt ist gestiegen, aber die Stadt hat keine Schulden mehr, zum einen weil durch eine Steuerreform die Einnahmesituation verbessert wurde, zum anderen weil die Investitionen durch den begleitenden Beteiligungsprozess zielgerichteter verliefen. (So jedenfalls die Aussage von António Inácio Androlini im Jahr 2004, seinerzeit Doktorand an der Uni Osnabrück.)
Das Erfolgsmodell Porto Alegre fand seitdem in Brasilien und ganz Südamerika viele Nachfolger und auch in Europa experimentieren seit einigen Jahren viele Städte mit Bürgerhaushalten. Allerdings in sehr unterschiedlicher Form.
Am avanciertesten ist in Deutschland der Bürgerhaushalt des Berliner Bezirks Lichtenberg. Hier können die Bürger_innen in diesem Jahr bereits zum siebenten Mal ihre Vorschläge zum Bezirkshaushalt einbringen, diskutieren sowie darüber abstimmen. Beraten wird dabei über die Verwendung von 32 Millionen Euro für die so genannten steuerbaren Aufgaben. Dazu gehören z.B.: Öffentliche Bibliotheken, Gesundheitsförderung, Allgemeine Kinder- und Jugendförderung, kulturelle Angebote, Musikschule, ehrenamtlicher Dienst für Senior_ innen / Seniorenbetreuung, Sportförderung, Stadtteilprojekte, Grünflächen und Spielplätze, öffentliches Straßenland, Volkshochschule, Wirtschaftsförderung und Bauinvestitionen. Die Vorschläge können auf drei unterschiedlichen Wegen eingereicht werden: • Internetdialog, • Stadtteildialog,• oder schriftlich.
Schließlich gibt es ein zweiwöchiges Voting im Internet sowie eine Abstimmung über die Vorschläge des Stadtteildialoges, den sogenannten Votierungstag. Auf einem dritten Weg (Haushaltsabstimmung) werden flächendeckend 20 % der Bürger_innen - per Zufallssystem ermittelt – angeschrieben und können so ihre Präferenzen mitteilen. Am Ende der Votierung werden die Ergebnisse zusammengefasst und der Bezirksverordnetenversammlung zur Beschlussfassung vorgelegt. – Dazu gibt es sogenannte »Kiezfonds« (insgesamt 65.000 Euro), über deren Vergabe die Bürger_innen direkt entscheiden können.
Ähnlich sind die Verfahren in Freiburg und Köln, über die eine sehr frische Bachelorarbeit von Tom Eich detailliert Auskunft gibt. Zur Veranschaulichung unten eine Grafik über das Freiburger Modell aus dieser Arbeit, das erahnen lässt, warum die Kosten bei insgesamt 682.240 Euro lagen. Freiburg – auch das sei gesagt – ist mit 220.000 Einwohner_innen dreimal so groß wie Celle und hat eine bedeutend komfortablere Haushaltssituation.
Überraschend sind dabei die »Gewichtungsentscheidungen « der repräsentativen Umfrage. Wofür wollen die Freiburger_innen mehr Geld ausgeben? 1. Betreuungsangebote an Schulen (62 %), 2. Instandhaltung / Bau von Schulen (59 %), 3. Kindertagesstätten (56 %), 4. Jugendtreffpunkte (46 %), 5. Klimaschutz (46 %). Weniger Geld ausgeben wollen sie für: 1. Theaterangebot (31 %), 2. Kulturförderung (31 %), 3. Friedhöfe (29 %), 4. Wohnungsbau (29 %), 5. Museen & Stadtarchiv (26 %).
Wie eine solche Umfrage wohl in Celle ausfallen würde? Wohl ähnlich: Mehr für Kinder, Jugend, Klima und ÖPNV, weniger für Theater, Museum und Straßenbau.
Doch der »Gefahr« einer solchen repräsentativen Umfrage setzen sich Rat und Verwaltung in Celle nicht aus. Es ist ein Schmalspurkonzept mit absurder Vorgabe. Schauen wir in die Vorlage zum Ratsbeschluss:
„Nach den Sommerferien soll für einen Zeitraum von 4 Wochen eine entsprechende Internetseite zur Verfügung gestellt werden, auf der die Bürger ihre Einsparvorschläge einreichen können. Die Bürger werden dabei die Möglichkeit erhalten, auch die Vorschläge anderer zu kommentieren. [...] Zum Protokoll wird nachgetragen, dass das Internet- Modul sowohl für den Bürgerhaushalt als auch für andere Verfahren der Bürgerbeteiligung genutzt werden kann. Die Anschaffungskosten belaufen sich auf 892 €. Hinzu kommen Wartungs- und Upgradekosten von jährlich 390 €. Die Anschaffung ist bereits erfolgt.“
In der Liga von Lichtenberg oder Freiburg kann die Stadt mit diesem Ansatz selbstverständlich nicht spielen. Unverschämt aber, anders lässt es sich nicht sagen, ist die Zielvorgabe: Die Bürger (wobei mal wieder das –innen vergessen wurde, ein »Job« für die neue Frauenbeauftragte) sollen EINSPARVORSCHLÄGE einreichen. Was ist mit Vorschlägen, die etwas kosten? Die dürfen nur Rat und Verwaltung machen? Was ist mit Vorschlägen, die die Einnahmen erhöhen würden (z.B. Gewerbesteuer)?
Schon vor zwei Jahren sahen die einzigen konkreten Leitfragen an die Bürger_innen so aus:
„Welche Ideen und Vorstellungen haben Sie, Einsparungen zu ermöglichen? Kann auf eine Leistung ganz verzichtet werden, um ein anderes Angebot zu ermöglichen? Soll die Anzahl der erbrachten Leistungen verringert werden? Haben Sie Vorschläge, wie der Standard einer Leistung verringert werden kann?“
Leider lässt sich feststellen: So ganz ernst gemeint ist der Celler »Bürgerhaushalt« anscheinend nicht. Offen ließ der Ratsbeschluss auch, wie mit den Vorschlägen umgegangen werden soll – also in welcher Weise Verwaltung und Rat eine »Rechenschaftspflicht« gegenüber den sich beteiligenden Bürger_innen eingehen wollen.
Und noch ein Aspekt: Wer einfach nur den ganzen Haushaltsentwurf ins Internet stellt, bewirkt kaum mehr als Abschreckung. Denn anders wirkt dieses vielhundertseitige Dokument selbst auf die meisten Ratsmitglieder nicht. Das ist zwar transparent, aber es ist eine Transparenz, die Partizipation erschwert. Wichtig wäre zu wissen: Über welche Instrumente lassen sich die Einnahmen verbessern und in welcher Höhe? Welche Haushaltsposten sind – geregelt durch Bundes- oder Landesgesetze – sowieso nicht veränderbar? Und was sind die »freiwilligen Ausgaben«, die sich die Stadt leistet?
Trotzdem sollte sich niemand abschrecken lassen, sondern sich an der Internet-Diskussion beteiligen. Der Vorschlag, Hardinghaus »einzusparen«, hätte sich ja im Nachhinein als geradezu brilliant erwiesen.
Und vielleicht ist es auch lohnend, von Verwaltung und Politik für 2014 ein bisschen mehr »Bürgerhaushalt « einzufordern. Und auch wenn das (siehe Freiburg) zunächst mal mehr Geld kostet, die Rendite (ums im BWL-Jargon zu sagen) dürfte sich lohnen.