neue Heimat CelleEine menschenleere Celler Innenstadt am frühesten Morgen. Fünf links-(radikale) Laternen stehen in der Morgendämmerung beieinander und beginnen ein Gespräch.

Der Besserwisser: Und – geht er an die Leine, unser Supermen.de?

Oma Lilo: Wenn Sie ihn haben wollen, wird er sich wohl nicht sperren.

Der lange Lulatsch: Celle kann nerven, das merkt er jetzt auch.

Oma Lilo: Er kam daher als großer Kommunikator und geht, wenn er geht, als ein leicht reizbarer, dann autoritär agierender – also eigentlich typischer Sozialdemokrat.

Die Dicke: Aber eins muss man ihm lassen. Er hat mit einigem Geschick eine IGS gegen Wiswe durchgesetzt.

Der Besserwisser: Aber wahrscheinlich muss er ja nicht an die Leine. Denn es ist kaum zu erwarten, dass rot-grün in der Lage ist, mit Piraten oder der Linken eine Mehrheit zu bilden. Und in einer großen Koalition dürfte für ihn kein Ministerposten dabei sein.

Die Dicke: Das ist ja auch sein Elend in Celle. Rot-grün ist im Rat anscheinend nicht willens und in der Lage, Mehrheiten zu organisieren, weder für Sach- noch für Personalentscheidungen.

Der lange Lulatsch: Aber was soll’s. Diese so genannte kommunale Selbstverwaltung ist doch sowieso auf den Hund gekommen.

Oma Lilo: Wenn Alpha-Tiere permanent Schwanzvergleich spielen, kann doch nichts anderes herauskommen.

Der lange Lulatsch: Das meine ich gar nicht, oder zum Teil doch. Stimmt ja – 2/3 der Ratsmitglieder sind Männer und 2/3 der Ratsmitglieder sind 50 Jahre und älter. Aber wichtiger scheint mir, wie sie auf die Stadt schauen: Es ist der Blick eines Konzernaufsichtsrats. Und für »ihre« unternehmerische Stadt steht nicht mehr Daseinsvorsorge und das Wohl ihrer Bürger_innen im Zentrum, sondern die Unterstützung und Förderung Erfolg versprechender Unternehmungen.

Die Dicke: Da will ich aber mal ein Beispiel hören.

Der lange Lulatsch: Nimm die ganze Innenstadtdiskussion. Es geht einzig um Kaufkraftflüsse – und weil es dabei Gewinner und Verlierer gibt, machten die vermeintlichen Verlierer eine Opposition gegen ECE und Gedo auf. Dem alten Vorstandsvorsitzenden Martin Biermann war ausschließlich daran gelegen, dass mehr Geld in die Altstadt fließt. Darauf wird dann auch die Verkehrsplanung ausgelegt, so dass jetzt Saturn mit einer weiteren Zufahrtstraße beglückt wird. Oder nimm die Schuldiskussion: Pädagogische Argumente für die Schaffung einer IGS waren kaum zu vernehmen; die Befürworter wollen die Aufwertung dessen, was sie Bildungslandschaft nennen, um Fachkräfte mit Kindern in Celle zu halten bzw. in die Stadt zu locken. Es geht um eine Attraktivitätssteigerung nach »außen«, die »eigenen« Bürger_innen und ihre Interessen sind demgegenüber fast gleichgültig – jedenfalls die der Citoyen. Als »Bourgeois« haben sich ja der Karstadt-Leiter Schmidtmann und Dettmer & Müller-Geschäftsführer Scherer gleich direkt in den Aufsichtsrat, ’tschuldigung, Stadtrat wählen lassen.

Die Dicke: Aber die Bürger_innen werden doch gehört, Stichwort: Bürgerhaushalt oder die ganzen Leitbild-Diskussionen ...

Der Besserwisser: Man kann’s auch neoliberale Vergemeinschaftung nennen, »Gemeinsinn« wird in einer zivilgesellschaftlich-lokalpolitischen Arena produziert, damit die strukturellen Probleme »gemeinsam geschultert« werden. Im Bürgerhaushalt geht’s so um die besten Sparvorschläge. Das ist eigentlich eine De-Thematisierung von Politik, was hinausläuft auf eine Verdrängung des Sozialen.

Oma Lilo: Sozialpolitik im alten Sinne findet nur noch auf einer professionellen Ebene z.B. der Jugendhilfe statt, aber vieles wird nach außen verlagert, entweder in extern organisiertes Quartiermanagement – wie bei der Neustadt-Sanierung – oder in die klassische bürgerliche Wohlfahrt, wo mit Sozialkaufhäusern, Kulturloge und Ehrenamt das löchrige soziale Netz notdürftig zusammengehalten wird.

Der lange Lulatsch: Outsourcing halt – die Stadtverwaltung selbst strukturiert sich wie ein Unternehmen. Eine Stadt ist zu führen wie ein Konzern – oder im Fall Celle vielleicht wie ein größerer mittelständischer Betrieb. Das zeigt sich am Umbau der städtischen Verwaltungen zu kundenorientierten »Dienstleistungsunternehmen«, der Einführung betriebswirtschaftlicher Controlling- und Buchhaltungsverfahren und der Kostenberechnung von städtischen Leistungen.

Der Besserwisser: Aber es ist ja »Heimat«. Sozialdezernent und Rathauskönig Stephan Kassel hatte sich für seine »Rede auf Heimat und Vaterland« ja ein Bloch-Zitat ergoogelt: „Heimat liegt dort, wo sich Menschen miteinander ein solidarisches Zuhause bauen.“ Wir haben uns gewöhnen müssen, dass Blochs »Prinzip Hoffnung« grundsätzlich falsch verstanden ins Feld geführt wird. Und gehen wir mal davon aus, dass der Rathauskönig den Philosophen nur aus dem Internet kennt. Denn nichts würde jenem ferner liegen, als im „Wetterwinkel möglicher Reaktion“, nichts anderes ist das Schützenwesen, so etwas wie Heimat zu suchen. Heimat ist gerade nicht Herkunft, sondern etwas Unvollendetes. Wie es so wunderbar im letzten Absatz von »Prinzip Hoffnung« heißt: „Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."

Die Dicke: Das hätte ich von dir jetzt gar nicht erwartet. Aber genau. Heimat bildet sich heraus im Kampf des Neuen gegen das Alte – das heißt auch und gerade gegen Vaterland und Nation.

Oma Lilo: Das hätten die Schützen weder verstanden, noch gern gehört, oder?

Oma Lilo und die Dicke (nicken sich zu und singen »Heimat – wir marschieren« von »Erste Allgemeine Verunsicherung«):
Wir marschiern, wir marschiern
es vertrocknet unser Hirn,
vorwärts marsch, Delirium,
dumm im Kreis herum.

Jonas (steigt ein):Wir parier'n, funktionier'n
Orschloch z'samm beim Salutiern!
Ritterkreuz, Gedächtnisschwund,
Kameradschaftsbund!

Der lange Lulatsch: Bumm Bumm.