Linke fordert den Kreistag auf, ein Sozialticket einzuführen

Wird im Bundestagswahlkampf tatsächlich die „soziale Frage“ wieder zum Thema? Es ist mehr als dringlich, denn die Rede darüber, wie gut es „uns“ in Deutschland geht, hat in den letzten Jahren vor allem eins bewirkt: Armut und ihre Folgen sind kaum noch Bestandteil öffentlicher Diskussionen. Wer in Armut lebt, so erzählt es uns die neoliberale Ideologie, ist selbst schuld. Schon einige wenige Zahlen aus dem Landkreis Celle müssten die politisch Verantwortlichen aufscheuchen – aber sie tun es bisher nicht. 17 Prozent der Kinder und 12,1 Prozent der Jugendlichen sind im Landkreis von Armut betroffen. In der Stadt Celle liegt die Quote laut „Sozialbericht“ der Bertelsmann-Stiftung noch einmal erheblich höher: 24,7 Prozent der Kinder, also jedes vierte Kind, und 18,7 Prozent der Jugendlichen, also jeder sechste Jugendliche, leben in Familien die als arm gelten. Kein Wunder bei den knapp 15.000 Menschen im Landkreis Celle, die von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II (also „Hartz IV“) abhängig sind. Eine große Gruppe stellen dabei die Alleinerziehenden.

Die Armut hat unterschiedliche Konsequenzen: Von einer Chancengleichheit in der Bildung und einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kann nicht die Rede sein. Aber auch ein neuer Begriff findet in den letzten Jahren Verwendung: Mobilitätsarmut. Die Verkehrsplanerin Diana Runge hat diese so definiert: „Mobilitätsarmut bedeutet die verringerte Möglichkeit zur Verwirklichung vorhandener Mobilitätsansprüche und –bedürfnisse, die zu einer Benachteiligung der Betroffenen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens führt.“ Dabei gibt es verschiedene Ebenen: Zum Beispiel ist es nicht möglich überhaupt oder in einem angemessenen Zeitrahmen von einem Punkt A zu einem Punkt B zu kommen. Oder die Personen sind körperlich oder geistig nicht in der Lage, vorhandene Verkehrsmittel zu nutzen.

Schließlich gibt es aber auch eine finanzielle Ebene: Die Betroffenen können sich die notwendige oder gewünschte Bewegung finanziell nicht leisten. Mobilität aber ist, auch darauf weist Runge hin, „ein wichtiger Faktor der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Integration von Menschen und Gruppen [...]. Mobilitätsarmut kann im Umkehrschluss zu verstärkter sozialer Ausgrenzung führen.“

Auf der finanziellen Ebene sind die Probleme eigentlich leicht zu verringern. In verschiedenen Städten und Regionen gibt es das sogenannte „Sozialticket“. In der Regel erhalten dabei Empfänger*innen von bestimmten sozialen Leistungen die Fahrkarten des jeweiligen Verkehrsverbundes zum halben Preis. Ein solches Sozialticket für Stadt und Landkreis Celler hat jetzt Behiye Uca (Die Linke) im Kreistag beantragt.

Vor acht Jahren hatten Andreas Hauptmeyer und Wolf Wallat schon einmal die Einführung eines Sozialtickets gefordert. Sie fanden im Sozialausschuss die Vertreter*innen von SPD und Bündnis '90/Die Grünen auf ihrer Seite. Die Mehrheitsfraktion aus CDU/WG aber lehnte den Antrag ab; ihr Argument: die defizitäre Haushaltslage. Letztere sieht inzwischen für den Kreis ja einigermaßen rosig aus – und vor allen Dingen ist überhaupt nicht gesagt, dass die Einführung eines Sozialtickets in großem Umfang subventioniert werden müsste.

Der Antrag von Behiye Uca ist insoweit vielleicht jetzt für die Mehrheitsfraktion im Kreistag diskussionsfähig, als vor der endgültigen Abstimmung eine Klärung der voraussichtlichen Kosten mit dem Busunternehmen CeBus stattfinden soll.

Die Leistungen nach dem SGB II wie auch die Grundsicherung im Alter nach dem SGB XII sind berechnet auf Grundlage der statistisch gemessenen Konsumausgaben nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Aktuell erhalten alleinlebende Personen monatlich (neben der Erstattung der angemessenen Miete und Heizkosten) 409 Euro. Ehepaare erhalten aktuell je 368 Euro. Bei Jugendlichen und Kindern staffeln sich die Beträge von 311 Euro über 291 Euro bis zu 237 Euro. In diesem Regelsatz ist auch ein Betrag für „Verkehr“ enthalten – und zwar aktuell für eine alleinlebende Person 25,77 Euro monatlich. Selbstverständlich wird davon ausgegangen, dass Ausgaben für einen PKW oder ein Motorrad nicht regelbedarfsrelevant sind. „Stattdessen wird“, so heißt es in einer Bundestagsdrucksache, „von der Nutzung von Fahrrädern (Verbrauchsausgaben für Kauf, Ersatzteile, Wartung/Reparatur) sowie der Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) und beziehungsweise von anderen öffentlichen Verkehrsmitteln in Form des Schienenverkehrs ausgegangen.“ Für einen „Urlaubsreiseverkehr“ findet sich nichts im Warenkorb.
Was lässt sich unternehmen mit knapp 26 Euro? Die meisten Kilometer würden sich mit einem Niedersachsenticket machen lassen, denn das kostet zur Zeit 23 Euro. Die Grenzen Niedersachsens lassen sich dafür nicht einmal mehr am Wochenende verlassen, denn das „Schönes-Wochenende-Ticket“ der Bahn kostet inzwischen für die erste Person 40 Euro. Im Landkreis lassen sich immerhin einige Fahrten bewerkstelligen. Aber schauen wir mal ins Detail: Eine einfache Fahrt von Fassberg nach Celle kostet 7,70 Euro – sparen lässt sich mit der 4er-Karte, die 26,10 Euro kostet; d.h.: zweimal im Monat ab nach Celle. Für Südwinsen kostet das 4er-Ticket nach Celle 13,50 Euro; damit lässt sich dann schon eine Fahrt pro Woche machen. Im innerstädtischen Verkehr kostet die 4er-Karte für Erwachsene 6,60 Euro; damit lassen sich also insgesamt acht Fahrten pro Monat machen.

Die wunderbare Warenkorb-Welt hat mit der wirklichen Welt aber nur wenig zu tun. Der fahrradfahrende 55-jährige Langzeiterwerbslose wird in Celle nur selten den ÖPNV nutzen, die alleinerziehende Mutter mit kleinen Kindern dagegen häufiger. Und da geht es dann eben z.B. in den Sommerferien richtig ans Portemonnaie, wenn die Kinder mal ins Freibad wollen – also zum Eintrittspreis dann noch die Fahrtkosten dazu kommen. Und für Menschen aus dem Landkreis ist jede Fahrt in die Kreisstadt auch von den Kosten her eine Sache, die geplant und überdacht werden will.

In einer idealen Welt gäbe es im ÖPNV deshalb den Nulltarif. In einer Welt, die gesellschaftliche Mehrheiten höchstens dafür kennt, die Risiken und Nachteile von Armut abzumildern, hilft das Sozialticket. Als Standard hat sich dabei ein Modell etabliert, dass einfach für jeden Tarif (Einzel- oder Mehrfachfahrschein, Wochen- oder Monatskarte) einen Sozialtarif in Höhe von 40 - 50 % der Kosten vorsieht. Verwaltungstechnisch ist das in Hannover so geregelt, dass zum Fahren mit den ermäßigten Fahrkarten, die normal am Schalter gezogen werden können, die sogenannte „Region-S-Karte“ erforderlich ist. Diese Karte wird ausgestellt vom Jobcenter oder dem Sozialamt der Gemeinde – und zwar für den Zeitraum des Leistungsanspruchs. In Hannover wird sie automatisch mit dem jeweils neuen Bescheid zugestellt. Der Verwaltungsaufwand ist vergleichsweise gering.
Berechtigt ist in Hannover, wer

  • laufende Leistungen nach dem SGB XII erhält (vom Sozialamt);
  • Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld nach dem SGB II erhält (vom Jobcenter);
  • laufende Grundleistungen und Leistungen in besonderen Fällen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhält (vom Sozialamt);
  • laufend ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe zur Pflege nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) erhält (von der Region Hannover);
  • als Kind in einer Bedarfsgemeinschaft lebt und wegen des Kinderwohngeldes keine Leistungen vom Jobcenter erhält;
  • in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, und wegen der Rente keine Leistungen vom Jobcenter erhält.

Eine derartige Berechtigungskarte könnte auch in einigen anderen Bereichen genutzt werden. In Hannover etwa ist der Besuchs des Zoos mit der Karte günstiger. In der Stadt Celle gibt es schon einige Vergünstigungen, z.B. im Theater oder der Stadtbibliothek, wo aktuell der jeweils gültige Leistungsbescheid vorgelegt werden muss. Nicht ganz zu unrecht scheut der eine oder die andere davor zurück.

Aber welche Kosten kommen auf den Landkreis zu? Da wäre zunächst einmal zu überlegen, wo zusätzliche Kosten entstehen. CeBus wird höchstwahrscheinlich keine zusätzlichen Busse einsetzen müssen. D.h.: Durch die Abwicklung des Verkehrs entstehen keine Mehrkosten. Zu kompensieren wären also Einnahmeverluste, die dadurch entstehen, dass Fahrten, die bisher zum vollen Preis absolviert wurden, künftig nur noch den halben Erlös bringen. Da allerdings wäre eine Gegenrechnung aufzumachen. Für den Fall, dass der Kreis der Berechtigten künftig den ÖPNV doppelt so häufig in Anspruch nimmt wie aktuell, hätte CeBus keinerlei Verlust. Und würden Fahrten mit dem Sozialticket noch häufiger genutzt, ergäbe sich für CeBus sogar ein zusätzlicher Gewinn. Nun gibt es aber ein Problem: Niemand weiß, wie viele Fahrten aktuell von potenziell Sozial-Ticket-Berechtigten durchgeführt werden. Und da CeBus ein gewinnorientiertes Privatunternehmen ist, wird es wahrscheinlich erforderlich sein, eine neutrale Erhebung durchzuführen. Nutzer*innen müssten also befragt werden, ob sie berechtigt wären, ein Sozialticket zu beanspruchen? Da aber kann sich die Kreisverwaltung sicher an bundesweiten Erfahrungen orientieren. Denn Hannover ist keine Ausnahme. In Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen gehört das Sozialticket in vielen Städten und Regionen inzwischen zum Standard.

Wichtig wäre, wenn sich der Fahrgastbeirat der CeBus, die Sozialverbände und auch der Stadtrat oder einzelne Gemeinderäte positiv zu dem Vorschlag der Einführung eines Sozialtickets verhalten würden.

Quellen:

Runge, Diana: Mobilitätsarmut in Deutschland? Schriften des Fachgebietes Integrierte Verkehrsplanung des Institutes für Land- und Seeverkehr an der Technischen Universität Berlin. Berlin 2005.

http://www.hannover.de/Leben-in-der-Region-Hannover/Mobilit%C3%A4t/Bus-Bahn/Fahrpreise-Tarife/Sozialtarif/Region-S-Karte

Sozialbericht. Ein Baustein des Wegweisers Kommune - für Stadt und Landkreis Celle erstellt über http://www.wegweiser-kommune.de/kommunale-berichte

Deutscher Bundestag - Drucksache 17/3404 vom 26.10.2010 – Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch