Überlegungen zum Verhältnis von Protestantismus und Nationalsozialismus

Ohne den deutschen Protestantismus mit seiner starken Bindung an den preußischen Obrigkeitsstaat hätte es den Nationalsozialismus in seiner spezifischen Ausprägung – also völkisch, revanchistisch, radikal antisemitisch – nicht gegeben. So lässt sich zugespitzt ein Fazit des Vortrags von Dr. Jens-Christian Wagner Mitte März in der Celler Synagoge ziehen. Der Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten wies zu Beginn darauf hin, dass der Titel der Veranstaltung sich so schon 1941 bei dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler William Montgomery McGovern („From Luther to Hitler“) wie auch bei Raul Hilberg findet. Auch wenn es in Deutschland inzwischen umfangreiche Untersuchungen zur Nähe von (protestantischer) Kirche und Nationalsozialismus gibt, dominiere in der Öffentlichkeit eine Sicht von der Unvereinbarkeit von Kreuz und Hakenkreuz.

Anhand zweier Karten zeigte Wagner auf, dass in den protestantischen Gebieten des Deutschen Reiches die NSDAP deutlich bessere Ergebnisse erzielte als in den katholisch geprägten Regionen.

Er führte dies zurück auf ein obrigkeitsstaatlich ausgerichtetes Denken, das den Protestantismus von Beginn an beherrscht habe. Luther fordere die freiwillige Unterwerfung unter die Obrigkeit. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 ermächtigte dann den jeweiligen Landesherrn dazu, die Religion seiner Untertanen zu bestimmen („Cuius regio, eius religio“). Im Wilhelminismus war der Kaiser gleichzeitig der oberste Kirchenherr, während im Unterschied dazu die Verbindung von Staat und Kirche im Katholizismus durch die Rolle des Papstes für die Gläubigen weit weniger eng war. Protestanten, so Wagner, identifizierten sich mit dem preußischen Obrigkeitsstaat.

Protestantische Milieus zeigten sich anfällig für den in den 1880er Jahren aufkommenden rassistischen Antisemitismus; die Wirtschaftskrise befeuerte dabei eine Weltsicht, in der – wie der Theologe Adolf Stöcker predigte – Großkapital wie Sozialdemokratie als „verjudet“ galten.

Die Demokratie der Weimarer Republik wurde dann in Teilen des Protestantismus als „Ausdruck der Verjudung“ bekämpft. Gegen Ende der Republik wurde, was Wagner mit einigen Zahlen und Ereignissen belegte, die Nähe von evangelischen Theologiestudenten wie auch Pfarrern immer deutlicher. Im Jahr 1931 waren bereits ein Viertel der Pastoren Mitglied der NSDAP.

Als Speerspitze der „völkischen Revolution“ erwies sich  die „Innere Mission“. Wagner verwies u.a. auf die „Erklärung von Treysa“, in der der „Eugenische Ausschuss“ der Inneren Mission 1931 die Sterilisierung „erbbiologisch schwer Belasteter“ als „religiös-sittlich“ rechtfertigte. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom Juli 1933 war insoweit auch eine Umsetzung protestantischer Überzeugungen.

Wagner ging in seinem Vortrag ausführlich auf den sogenannten „Kirchenkampf“ ein, der für die protestantische Zerrissenheit steht. Die dem NS nahestehende „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ (DC) bekam bei den Kirchenwahlen im Juni 1933 70 % der Stimmen. Bis auf drei Landeskirchen führten daraufhin alle anderen das „Führerprinzip“ ein. Auf der Nationalsynode wurde ein „Arierparagraphen“ erlassen, der die Entlassung nicht-arischer Pfarrer und Kirchenbeamter vorsah.

Unter anderem als Reaktion auf diesen Arierparagraphen organisierte sich die mit dem Namen Niemöller verbundene innerkirchliche Opposition mit dem Namen „Bekennende Kirche“ (BK). Aber auch dort gab es Loyalitätsbekundungen gegenüber dem nationalsozialistischen Staat und seinem rassistischen Antisemitismus. Wagner zeigte dies an etlichen Beispielen. Wie ambivalent sich Kirchenobere verhielten, verdeutlichte er u.a. an Theophil Wurm. Vier Wochen nach dem Novemberpogrom 1938 schrieb der sich der BK zurechnende württembergische Landesbischof an Reichsjustizminister Gürtner: „Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen.“ Im Juli 1943 setzte er sich in einem Brief an Hitler für zum Protestantismus konvertierter Jüdinnen und Juden ein. Diese sogenannten „privilegierten Nichtarier“ seien in Gefahr, behandelt zu werden wie Juden: „Diese Absichten stehen, ebenso wie die gegen die anderen Nichtarier ergriffenen Vernichtungsmaßnahmen, im schärfsten Widerspruch zu dem Gebot Gottes und verletzen das Fundament alles abendländischen Daseins und menschlicher Würde überhaupt.“

Wagner kritisierte abschließend, dass unter den gut 500 Veranstaltungen zum Reformationsjubiläum in Celle gerade mal eine sei, die sich mit der Frage befasse, warum der Protestantismus gesellschaftlicher Türöffner für den Nationalsozialismus werden konnte.