Interview mit Karima Popal-Akhzarati

Am 3. Mai war Karima Popal-Akhzarati auf Einladung des Diakonischen Werks und des Forum gegen Gewalt und Rechtsextremismus in Celle zu einem Vortrag mit dem Titel „Den NSU-Komplex im Rahmen der rassistischen Normalität der deutschen Gesamtgesellschaft verstehen…“

??: Der Titel Deines Vortrags ist mehr als nur eine Überschrift ...

!!: Der Titel beinhaltet die These, dass in Deutschland bzw. in der deutschen Gesamtgesellschaft eine rassistische Normalität existiert, d.h. Rassismus ist in Deutschland „normal“. Unsere Gesellschaft ist mit all ihren Institutionen wie Polizei oder  Bildungssystem und mit ihren Strukturen wie Gesetze, dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt rassistisch organisiert: Wer wohnt wo? Wer arbeitet wo und wer verdient wie viel? Wer ist am häufigsten von Racial Profiling betroffen? Auf wen wirken sich Asylreformen aus? Und so weiter. Gleichzeitig ist es aber genauso „normal“, Rassismus in Deutschland weder anzuerkennen noch zu benennen. Und genau deswegen ist es besonders schwierig, Rassismus aufzuzeigen, ihn anzuzeigen, ihn anzuklagen und effiziente Strategien zu entwickeln, die nachhaltig wirksam sind. Da das Sprechen über Rassismus gesellschaftlich tabuisiert ist, erfordert es enormen Aufwand gegen diese Tabuisierung anzukommen, geschweige denn o.g. Schritte anzugehen.

??: Du beschreibst den rassistischen Normalzustand in die Zeit vor und nach dem Tag der Selbstenttarnung des NSU. Wo sind die Unterschiede?

!!: Der erste und wichtigste Unterschied liegt darin, dass die Öffentlichkeit vor dem 4. November 2011 nicht „wusste“, dass organisierte Nazis hinter den Morden und Anschlägen steckten, sodass dem alltäglichen und auch institutionellen Rassismus freien Lauf gelassen wurde: Die bürgerlichen Medien berichteten von sogenannten „Döner-Morden“ und wiederholten unkritisch die falschen Ermittlungen der Polizei, die, statt konkreten Hinweisen von Zeug*innen nachzugehen, großen Aufwand betrieben, die Betroffenen und Hinterbliebenen zu verdächtigen und zu kriminalisieren.
Nach der Selbstenttarnung der Nazis herrschte in der Öffentlichkeit zwar zunächst großes Staunen über mordende und strategisch vorgehende Nazis, aber ein Aufschrei blieb leider aus. Die Betroffenen wurden nach zehn Jahren entkriminalisiert, aber deren Perspektive auf die Geschehnisse schaffte es nicht in die breite Öffentlichkeit hinein. Stattdessen lag der öffentliche Fokus nun auf Nazis, „Rechtsextreme“, dem „Terror-Trio“ und Beate Zschäpe. Dieser individualisierende Fokus verhalf dazu, dass der strukturelle, institutionelle und gesellschaftliche Rassismus nicht benannt werden musste.

??: Vor dem 4.11.2011 hat außer den Opfern und deren Angehörigen niemand ernsthaft die Theorie verfolgt, dass die Täter Neonazis sind. Selbst aus Antifa-Kreisen wurde dies nicht in Betracht gezogen. Woran lag das?

!!: Meinem Verständnis und Analysen nach lag das an der rassistischen Normalität, die in Deutschland herrscht, die aber gleichzeitig nicht thematisiert wird. Im Jahr der Selbstenttarnung war Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ ein Bestseller. Sein Erfolg baut auf der rassistischen Normalität auf. Sarrazin wurde für seine „tabubrechenden“ Thesen gefeiert, die die Gesellschaft in ein „Wir“ und „die Anderen“ spaltet und wertet. Diese Spaltung und Wertigkeiten führen zum Beispiel zu einer „normalen“ Wahrnehmung der „Anderen“ als Kriminelle. Als die Polizei die NSU-Morde mit der Verwicklung der Opfer in Geldwäscherei oder Drogengeschäften in Verbindung brachte, wurde das in der Öffentlichkeit kaum von jemandem in Frage gestellt, denn diese rassistischen Bilder sind normal. Ebenso war es okay, Mordopfer öffentlich als „Döner“ zu erniedrigen und zu entwürdigen. Doch dies ist nur in eine Richtung möglich. Stellen Sie sich vor, nachdem ein weiß-Deutscher ermordet wird, schreiben die Zeitungen über „Kartoffel-Mörder“: In diese Richtung gedacht, ist es undenkbar. In Deutschland herrschen rassistische Wertigkeiten von Menschen, deren Leben und ihre Würde.

??: Ist die Situation für die Opfer und deren Angehörige besser geworden oder nur anders? Du hast dargelegt, dass in den Berichten über den NSU-Komplex so gut wie nie die Perspektive der Opfer einen Platz hatte.

!!: Wie ich bereits erläutert habe, wurden die Betroffenen und Hinterbliebenen durch die Selbstenttarnung der Nazis entkriminalisiert. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass diese „Erleichterung“, die es für die Betroffenen – trotz der Umstände – gewesen sein muss, nicht durch die Arbeit der Polizei zustande gekommen ist, sondern durch die Selbstenttarnung und damit durch die aktive Handlung der Nazis.
Viele Migrant*innen haben dadurch ihr Vertrauen in das Versprechen des Rechtsstaats verloren. Wie können sie nach all den Ereignissen der Polizei, dem Verfassungsschutz und all den anderen Institutionen und Behörden, die angeblich zum Schutz aller Menschen da sind, vertrauen? Wie können sie sich vor Gewalt sicher fühlen?

Auch der Prozess, in den viele Migrant*innen ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit gesetzt hatten, scheint nur Enttäuschung für die Betroffenen zurückzulassen. Denn die wichtigsten Fragen werden nicht aufgeklärt sein: Welche Rolle hatte der Staat, der Verfassungsschutz? Wer und wie viele waren an den Morden und Anschlägen beteiligt? Warum wurden diese Personen als Opfer gewählt?
Also von einer Besserung der Situationen der Betroffenen oder der gesamten migrantischen Community kann man in keinem Fall sprechen. Der NSU-Komplex bringt vieles ans Tageslicht, das in unserer Gesellschaft falsch läuft, aber nur Wenige schauen so genau hin.
Dass der Verfassungsschutz und der BND nach dem NSU-Fall finanziell und personell aufgestockt wurden, ist meiner Ansicht nach ein falsches politisches Fazit aus den Ereignissen.

??: Jetzt würde ich gerne einmal zeitlich zurück gehen. Die Pogrome der 1990er Jahre waren in vielfacher Hinsicht erschreckend. Einmal selbstverständlich, weil Menschen getötet wurden, aus rassistischer Motivation. Aber auch, weil Neonazis mit „Normalbürgern“ also Anwohner*innen vor laufenden Kameras Häuser in Brand setzen konnten und offensichtlich niemand sie stoppte. Du sagtest in deinem Vortrag, dass es damals wenigsten Reaktionen der Zivilgesellschaft darauf gegeben hat (Stichworte: Demonstrationen, Lichterketten, „Aufstand der Anständigen“) und dass Du das heute vermissen würdest. Immerhin gab es im Jahr 2016 über 3500 Angriffe auf Geflüchtete und Flüchtlingsunterkünfte gegeben mit 560 verletzten Menschen – und das sind nur die offiziellen Zahlen. Wie erklärst Du Dir, dass es keine großen Demonstrationen oder ähnliches gibt? Allerdings gibt es viele Initiativen, die Geflüchteten helfen. Ist das ein Indiz für Engagement gegen Rassismus?

!!: Ein Aufschrei, den es spätestens nach der Selbstenttarnung hätte geben müssen, blieb aus. Viel früher hätte der Schweigemarsch „Kein 10. Opfer“, der bereits im Mai 2006 in Kassel stattfand, stärker unterstützt und getragen werden müssen. Denn damals hatte die migrantische Community diese klaren Zusammenhänge erkannt und richtig gefordert: „Kein 10. Opfer“. Allerdings wurden ihr Wissen, ihre Analysen und ihre Worte nicht gehört und leise gedreht. Es gab keine große Unterstützung außerhalb der Community.

Die Parallelen der Ereignisse der 1990er Jahre und den heutigen Verhältnisse sind besorgniserregend, aber gleichzeitig nachvollziehbar, wenn man bedenkt, welche politischen Konsequenzen damals 1993 gezogen wurden und welche gesellschaftliche Aufarbeitung seitdem stattgefunden hat. Die politische Antwort auf die Pogrome war die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, d.h. die Politik kam den Forderungen der „besorgten Mehrheitsgesellschaft“ nach. Und was die Aufarbeitung angeht: Ich habe während meiner Schulzeit nichts über die Pogrome gelernt. Ich habe mich selbst in der Auseinandersetzung mit Rassismus mit den Ereignissen der 1990er Jahre beschäftigt.

Für die wichtige Hilfe für Geflüchtete gibt es sicherlich viele Beweggründe, die von den Individuen und ihren Lebenszusammenhängen abhängt. Jedoch würde ich den Einsatz gegen Rassismus nicht als einen der Hauptgründe sehen.
[…] Das gängige Verständnis von Rassismus, das mir häufig in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen begegnet, zeigt, dass keine grundlegende Auseinandersetzung mit Rassismus existiert. Rassismus wird oft mit „bösen“ Rechten und individuellen Einzeltaten heruntergespielt. Rassismus aber ist ein Machtverhältnis, das auf verschiedenen Ebenen einer Gesellschaft wirksam ist. In dieser Struktur sind bestimmte Gruppen privilegiert und andere benachteiligt. Der Einsatz gegen Rassismus beginnt meiner Meinung nach genau hier: in der Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien. Wo stehe ich in der rassistischen Struktur? Was wird mir alles allein aufgrund meines Namens, meiner (vermeintlichen) Religionszugehörigkeit etc. erleichtert? Wie bin ich durch die rassistische Struktur privilegiert? Wie trage ich zu dieser Struktur – gewollt oder ungewollt – bei?

Erst mit solch einem Bewusstsein und Wissen kann ich von einem Einsatz gegen Rassismus sprechen, und dann kann der Einsatz durchaus in der Unterstützung und Hilfe für Geflüchtete sein. Aber ohne diese Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien, der eigenen Positionierung und dem Bewusstsein um Rassismus, kann jeder Einsatz, insbesondere die Hilfe für Geflüchtete, die rassistische Struktur bestärken: Wie begegne ich Geflüchteten? Bemitleide und paternalisiere ich sie? Welche (unausgesprochenen) Erwartungen richte ich an deren Verhalten und an ihre Reaktion auf meine Hilfe? Kurz: Es gehört ein kritisch-reflektiertes Bewusstsein über Rassismus und seiner Funktionsweisen, um sich wirklich gegen Rassismus einzusetzen.

??: Was können wir also machen?

!!: Zunächst ist es wichtig, sich nicht entmutigen zulassen. Es gibt so viele Initiativen und Personen, die sich mit aller Kraft gegen diese Struktur einsetzen und eine Verbesserung herbeiführen wollen. Und genau hier, in diesem Widerstand besteht die Möglichkeit der Veränderung. An dieser Stelle sei die Arbeit und der Einsatz der Initiativen wie „Keupstraße ist überall“ (Köln), „Initiative 6. April“ (Kassel), „Mord verjährt nicht“ (Rostock) oder NSU-Watch erwähnt.

Darüber hinaus braucht es vor allem auch die öffentlich-politische Auseinandersetzung um Rassismus. Wir müssen zunächst verstehen, was Rassismus ist und wie er funktioniert und wozu er dient, um ihn angehen zu können. Solch ein Wissen müsste beispielsweise in den Bildungsinstitutionen etabliert werden. Und dabei denke ich nicht nur an die Schüler*innen, sondern vor allem an die Lehrenden. Diese müssen ebenso fortgebildet werden.

Die größere Herausforderung besteht aber in der Auseinandersetzung mit sich selbst. Sie führt zu allem Weiteren und eröffnet neue Möglichkeiten. Die riesengroß wirkende Struktur und Politik können wir vielleicht nicht von heute auf morgen verändern, aber den eigenen Einflussbereich, die eigene Welt kann jede Person selbst gestalten. Dazu gehört, sich selbst zu informieren, zu recherchieren und dieses Wissen zu vermitteln.

Eine der wichtigsten Handlungsstrategien sehe ich in der Stärkung und Sichtbarmachung migrantischer Stimmen in der Gesellschaft, denn sie haben das Wissen um Rassismus, weil sie es im Alltag erleben und erfahren. Der NSU-Fall hat gezeigt, welche Konsequenzen es haben kann, wenn ein zentraler Teil der Gesellschaft auf stumm geschaltet wird. Sie sind und bleiben Teil dieser Gesellschaft und deswegen müssen neue Normalitäten her!