Lutz Taufer – „Über Grenzen“

Von 1982 bis 1995 lebte der Autor Lutz Taufer als Gefangener aus der RAF (Rote Armee Fraktion) im Celler Knast; nun legt er mit „Über Grenzen“ eine biographische Bestandsaufnahme seines Werdeganges vor. In 10 Abschnitten berichtet Taufer (Jahrgang 1944) über seinen familiären Hintergrund und die Kinderzeit und Jugendjahre im Nachkriegsdeutschland der badischen Provinz, begleitet vom Grundton des „vorwärts und vergessen“ der Nach-NS-Zeit. Anders als viele spätere Genoss*innen der bewaffneten Politik ist seine Herkunft eher proletarisch unangepasst, denn bürgerlich assimiliert. Der dann folgende Blick auf die zunehmende Politisierung kann auch heutigen Leser*innen eine Sicht auf die ganz junge BRD öffnen: – ja auch das war die Nachkriegsrepublik Deutschland! Ein Staat, in welchem Figuren wie der unsägliche Globke seine üble Juristerei fortsetzen und hier in Celle und Lüneburg der Altnazi Ottersbach seine Strafverfolgung Andersdenkender ungestört weiter treiben durften; und zur Erinnerung: Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse fanden 1963 bis 1968 statt. Mehr noch: Als Unterstützer des Vietnam-Krieges und Bollwerk gegen jedwede außerparlamentarische Opposition machte der Staat – im Verein mit einer aufhetzenden Medienlandschaft – sich selbst zur Kampfpartei gegen einen soziokulturellen Aufbruch, welcher weite Teile der westlichen Welt und sogar Teile des „Ostblocks“ ergriffen hatte. Es muss eine andere, solidarische und gerechtere Welt möglich sein! Taufer politisiert sich auch entlang des Umgangs der etablierten Gesundheitswirtschaft mit den Kranken, hier besonders den emotional Kranken in der Gesellschaft.

Die weitere Eskalation ist bekannt, – Student*innen-Unruhe in den großen Städten, Schüsse auf Weisbecker, von Rauch, Ohnesorg und Dutschke; der Kaufhausbrand in Frankfurt/M, Verhaftung und Befreiung der Täter; es entsteht der „bewaffnete Kampf in den Metropolen“, auch in Frankreich und besonders in Italien. Aber, und das macht Taufers Buch klar: Da ist kein Automatismus. Geschichte ist das Resultat handelnder Subjekte und agierender Kräfte.
In der BRD eskaliert die Konfrontation im sog. „Deutschen Herbst“. Im Besitz eines namhaften deutschen Filmemachers befindet sich das Obduktionsfoto des Holger Meins nach dessen Tod im Hungerstreik 1974 in Stuttgart-Stammheim; zu diesem Zeitpunkt entgrenzt die Selbstermächtigung der bewaffneten Politik, ebenso wie der Vernichtungsdruck der Verfolgungsbehörden ins Irreale kippt.

1975 nimmt Taufer an der Besetzung der BRD-Botschaft in Stockholm teil. Die Stammheimer Gefangenen sollen freigepresst werden. Die Aktion scheitert; zwei Geiseln werden getötet, ein Besetzter überlebt die Aktion nicht. In seinem Buch unterzieht Taufer diese Besetzung einer harschen Kritik; die Gruppe der Gefangenen aus der RAF und die Militanten draußen haben keine einheitliche Konzeption mehr. Anfang der 1980er Jahre findet sich mit den Antiimps ein weiterer Akteur auf dem linksradikalen Spektrum. Das Gefangenenkollektiv zerbricht. Die RAF stellt den bewaffneten Kampf ein. Die Gefangenen, mit bisweilen über doppelt lebenslänglichen Schuldsprüchen inhaftiert, gelangen nach durchweg über 20 Jahren Gefangenschaft, teilweise unter Bedingungen von Isolationsfolter, und nach diversen Hungerstreiks in eine ungewohnte Freiheit; auch in eine neue Bundesrepublik. (Das Foto zeigt v.l.n.r. Luft Taufer, Knut Folkerts und Karl-Heinz Dellwo bei der Entlassung von Knut im Eingang zum Celler Loch“.)

Später sollte ein Arzt der MHH Hannover im Bezug zur Zwangsernährung Taufers während eines Hungerstreiks äußern, dass die BRD auf dem Weg war, der Staat zu werden, den die RAF bekämpfte .
Die Gründe des Aufbruchs bestehen fort; der bewaffnete Kampf ist gescheitert. Hier liegt eine der Stärken von Taufers Bericht: Wie fühlt sich das – zunächst ganz praktisch – eigentlich an. Und darauf: Was tun?
Mit seinem Lieblingsbegriff der „Selbstermächtigung“ im Gepäck bereist Taufer Lateinamerika – zu den Genoss*innen von den Tupamaros aus Uruguay hatte es schon während der Haftzeit Kontakte gegeben. Daran schließt sich eine fast jahrzehntelange Arbeit in Brasilien an: Als Mitarbeiter des „Weltfriedensdienstes“ (http://wfd.de/ueber-uns/) arbeitet er in brasilianischen Favelas. Nicht, um den Menschen dort zu zeigen, wie „Basisarbeit geht“, sondern um dort auch für seine Vorstellung von Eigeninitiative, Solidarität und eben: Selbstermächtigung zu werben.

Erneut finden sich die Mühen der Ebene – der Versuch auf lokaler Ebene, Mittel für soziokulturelle Einrichtungen zu bekommen, versandet oft an den Korrumpiertheiten der lokalen Verwaltung oder am Widerstand des großen „narcotrafico“; wenn es gilt, Computerkurse für Jugendliche zu starten – wer spendet alte Rechner; wie finden sich Frauen zusammen für eine eigenständige „selbstorganisierte Textilproduktion“; und immer wieder auch unter den „favelados“ selbst das Ringen mit einem ererbten machismo und jahrzehntelangem aufoktroyierten Gefühl eigener Minderwertigkeit.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind allerdings in Brasilien wie in der BRD nicht naturgegeben; es macht einen Unterschied, wo du aufwächst, zur Schule gehst und ggf. eine Arbeit bekommst oder auch nicht; den Reichtum dieser Welt gerechter zu verteilen, als die mondialisierte Weltwirtschaft dies tut, ist Taufers spürbares Anliegen. Sein Fazit heute sieht so aus:

„Aber es gibt nicht nur Grenzen, die überschritten werden können, es gibt auch Grenzen, die respektiert werden müssen. Auch das mussten wir lernen. Dennoch: ohne Mut, ohne Risikobereitschaft, ohne die Bereitschaft, sich von Vorgefundenem und das heißt auch von Sicherheiten zu verabschieden, sich auf unbekanntes Terrain zu wagen, geht es nicht. Grenzüberschreitungen sind immer auch ein Gang ins Ungewisse, Ungefähre, aber kein Gang ins Beliebige. “

Der Umfang von Taufers Bericht geht ein wenig zu Lasten der Übersichtlichkeit, insbesondere in der Südamerika-Phase; – als selbst-kritischer Bericht über einen Lebensbogen von erheblicher Spannweite und, ja, auch als Buch über die deutsche Nachkriegsgesellschaft und deren Weg in die heutige Zeit ist „Über Grenzen“ auch: ein gutes Geschichts-Lesebuch.                                                                

Taufer, Lutz: Über Grenzen. Vom Untergrund in die Favela. Verlag Assoziation A, ISBN 978-3-86241-457-4,   288 Seiten, 19,80 €
Ergänzend empfehle ich die sehr griffig formulierte Interview-Publikation

Dellwo, Karl-Heinz: Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel, Edition Nautilus, ISBN: 978-3-89401-556-5, erschienen 2007, 224 Seiten. 14,90 Euro (Dellwo saß ebenfalls im Celler Knast, wie Taufer war er an der Stockholmer Aktion beteiligt) – und

Angelika Holderberg (Hg.): Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit, Psychosozial-Verlag, ISBN-13: 978-3-8980-6588-7, erschienen 2007, 216 Seiten, 9,90 Euro. (Hier äußert sich zusätzlich auch der Celler Ex-Gefangene Knut Folkerts).                                                                                                                                                                        

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