Die Nordwall-Planungen kommen nicht voran – dabei gibt es Alternativen
„Wer a sagt, der muß nicht b sagen. Er kann auch erkennen, daß a falsch war.“ Brechts Lehrstück „Der Jasager und der Neinsager“ bringt damit auf den Punkt, was in der Politik selten ist. In Verwaltung und Rat der Stadt Celle wird dies deutlich am bedingungslosen Festhalten an der Nordwall-Planung.
Als jüngsten Aufreger thematisierte die SPD-Ratsfraktion den ersatzlosen Abriss der MTV-Halle. Das ist seit langem die Planung. Nur zwischenzeitlich wurde der Anschein erweckt, dass der Wiederaufbau der Sporthalle am Burgschulzentrum in größerer Form erfolgen könnte. Aber die Finanzierung war angesichts der desaströsen Haushaltssituation nach Auffassung von Oberbürgermeister Nigge nicht machbar.
Wäre es nicht sinnvoll, die gesamte Situation rund um den Nordwall neu zu denken? Warum kann die Halle nicht stehen bleiben und sukzessive saniert werden? Warum müssen die Wohnhäuser im Nordwesten abgerissen werden? Wozu soll die Gegenläufigkeit gut sein, die nur zusätzliche Probleme schafft? Warum gibt es keine Phantasie hinsichtlich der schon entstandenen Freiflächen, die wirklich für eine Belebung der Altstadt sorgen würde?
Chancengleichheit zur grünen Wiese
Vergegenwärtigen wir uns kurz, worum es geht: Der Nordwall soll gegenläufig befahrbar gemacht werden. Einen Idee aus dem Jahr 2004. Zur Begründung hieß es damals aus dem Rathaus: „Das bequeme, praktische und sortimentsnahe Einkaufen hat einen hohen Stellenwert. Hier haben die großflächigen Anbieter auf der grünen Wiese einen Wettbewerbsvorteil. Das neue Verkehrskonzept ist ein Schritt zur Chancengleichheit. Denn die einzelnen Abteilungen, Regale und Tresen des »Supermarktes Innenstadt« sind nun schneller und auf kürzeren Wegen zu erreichen.“
Die schärfere Konkurrenz sind längst nicht mehr die Anbieter auf der grünen Wiese, sondern der Online-Handel. Und ob hier die Argumentation der „kurzen Wege“ noch zieht, ist mehr als fragwürdig. Auch insgesamt taugt das Argument überhaupt nichts. Die Altstadt muss als Zentrum verstanden werden, zu dem es unterschiedliche Zugänge gibt. Wer unbedingt mit dem PKW kommen will, findet hierfür am jeweiligen Zugang kostenpflichtige und kostenfreie Parkanlagen. Die kurzen Wege ins Zentrum sind von überall aus gegeben.
Ohne Fördermittel, auf die die Stadt für dieses Projekt einen Zugriff erhielt, wäre das Projekt „Gegenläufigkeit“ schon vor zehn Jahren eingestampft worden. Insgesamt belaufen sich die Kosten für das Straßenbauprojekt auf stolze 17 Millionen Euro, zu einem Drittel trotz Fördermitteln aus dem städtischen Haushalt.
Ein großzügiger gegenläufiger Ausbau wiederum ist nur möglich mit dem Abriss praktisch der gesamten Nordseite des Nordwalls. Abreißen aber kann man nur, was einem gehört. Und hier liegt seit Jahren ein weiteres Problem: Einige Besitzer wollen nicht verkaufen, oder zumindest nicht zu den Preisen, die die Stadt anbieten kann. Enteignung dürfte praktisch ausgeschlossen sein. Die Konsequenz ist aber: Seit Jahren fließt weder an der Nord- noch an der Südseite auch nur ein Cent in Modernisierung und Sanierung des Bestands.
Wer abreißen will, muss auch einen Plan haben, was neu entstehen soll. Dafür gab es im Jahr 2011 einen städtebaulichen Wettbewerb „Altstadt Celle - Leben in der Mitte“. Die Ergebnisse waren mager und verstauben heute in einer Ablage. Was damals niemand hören wollte: Vier der sechs teilnehmenden Büros waren ausdrücklich dagegen, den Nordwall gegenläufig auszubauen.
Ziel: Die autogerechte Innenstadt
Wohin sollen sich Altstädte entwickeln? In Celle halten viele Ratsmitglieder fest am althergebrachten Modell der autogerechten Innenstadt. Ohne es despektierlich zu meinen: Die allermeisten Ratsmitglieder sind in einer Zeit sozialisiert worden, in der „Auto“ und „Freiheit“ nicht nur in der Werbung zusammengehörten, sondern Teil der Lebenserfahrung wurden. Doch das ist nicht die Zukunft.
Eine im Auftrag des Landes Baden-Württemberg entstandene Studie „Wege der Transformation zu einer nachhaltigen Mobilität“ sieht es als umgänglich an, die Privilegierung des Autos zu beenden. Im einzigen Szenario, mit dem die selbst gesetzten Klimaziele zu erreichen wären, müsste sich die Anzahl der Pkw im Bestand bis 2030 um 30 Prozent und 2050 um 85 Prozent reduzieren und die Fahrleistung der Pkw auf 55 Prozent in 2030 und 30 Prozent in 2050. Das Jahr 2030 ist heute näher, als die ersten Planungen für die gegenläufige Befahrbarkeit des Nordwalls entfernt sind.
Doch in Celle ticken die Uhren anders. „Die sofortige Beendigung des fortwährenden Abbaus von Parkmöglichkeiten im öffentlichen Raum der Altstadt“, fordert die FDP-Ratsfraktion. Und sie will mehr: „Die Schaffung von weiteren Stellplätzen im Bereich der Altstadt.“ Unter anderem sollen die am Weißen Wall entstehen. Und als vermeintliches Öko-Bonbon sollen E-Fahrzeuge künftig Gebührenfreiheit genießen.
Wie wenig das zu tun hat mit der Fachdiskussion, zeigt ein im September vergangenen Jahres verabschiedetes Positionspapier des Deutschen Städtetags mit dem Titel „Öffentlicher Raum und Mobilität“. Im Geleitwort schreibt der Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy, dass „fundamentale menschliche Bedürfnisse wie Kommunikation und Begegnung, [...] das Erlebnis der Mobilität aus eigener Kraft, Orientierung im Raum und Wahrnehmung der Umwelt mit allen Sinnen stärker bei der Nutzung und Gestaltung öffentlicher Räume in den Mittelpunkt gerückt werden [müssten]. Aufgrund der flächenmäßigen Begrenzung des öffentlichen Raums ist die Stärkung der schwächeren Verkehrsteilnehmer/innen als vorrangiges Prinzip zur Lösung von Nutzungskonflikten politisch geboten.“ Im Positionspapier selbst heißt es, „dass Nutzungsansprüche an den öffentlichen Raum an ihrem Beitrag für das Gemeinwohl gemessen werden müssen, da Zugewinne einer Nutzungsart Verluste für eine andere bedeuten. Immer mehr Mobilitätsarten für jeden jederzeit verfügbar zu halten, kann realistisch nicht gelingen.“
Im Kleinen macht die Fachverwaltung den einen oder anderen Schritt in diese Richtung. Die Freigabe der Hehlentorstraße für den Fahrradverkehr Richtung Neumarkt ist ein Beispiel, die „Umwidmung“ von Park- in Sitzfläche in der Bergstraße (siehe Foto unten) ein anderes.
Die Verkehrswende ist kein Thema von übermorgen, sondern von heute. Die Planungen für den Nordwall sind das genaue Gegenteil.
Abriss oder Erhalt?
Und auch städtebaulich kann es doch nicht darum gehen, innerstädtisches Wohnen durch Abriss und Neubau anzugehen. Ernsthaft sollten sich Rat und Verwaltung die Frage stellen, wer tatsächlich an einer vielbefahrenen Straße – mit der noch dazu höchsten Feinstaubbelastung der Stadt – eine teure Neubauwohnung beziehen will. Die Lösung liegt an der Nordseite in der Sanierung des leerstehenden Bestandes.
Auch der Erhalt und Ausbau der Zentralität der Altstadt braucht eine ergänzende Perspektive: Die vollständige Sanierung der MTV-Halle mag soviel Kosten wie ein Neubau. Aber auch hier ist die Frage: Warum nicht erhalten? Denn gerade an diesem Standort wirkt die Nutzung der Halle noch in die Altstadt. Aber ob das auf der von der SPD für einen Neubau vorgeschlagenen Otto-Schade-Sportanlage in der Blumlage noch der Fall wäre?
Die vorhandene Freifläche am Nordwall könnte die Stadt z.B. dem Deutschen Jugendherbergswerk anbieten. Seit längerem besteht dort die Tendenz, den Standort in Klein-Hehlen aufgeben zu wollen. Vielleicht wäre ein Grundstück direkt in der Altstadt ein derart attraktives Angebot, dass auch die Finanzierungsprobleme, die das Jugendherbergswerk wohl hat, eine Lösung finden könnten. Und was könnte mehr zur Belebung der Altstadt dienen als ein kostengünstiges Übernachtungsangebot für Individualreisende und Schulklassen?
Öffentlicher Raum und Mobilität; unter: http://www.staedtetag.de/fachinformationen/stadtentwicklung/079148/index.html