Zur Geschichte neuer sozialer Bewegungen in Celle

Ostumgehung um CelleAm 11. April 1984 scheiterte das »Jahrhundertprojekt« Ostumgehung das erste Mal vor Gericht. Das Lüneburger Oberverwaltungsgericht gab eine Berufungsklage gegen den Planfeststellungsbeschluss statt. (Eine Beschwerde der Stadt Celle vor dem Bundesverwaltungsgericht scheiterte Anfang Januar 1985.) Damals ging es um eine Planung, die eine Allerquerung in Höhe der Lachte vorsah. Das einzige Relikt dieser Planung ist das damals schon angelegte Stück »Baustraße« vom Herzog- Ernst-Ring Richtung Aller (heute der Beginn des Fahrrad- und Fußweges entlang der Aller).

Es war ein K.O.-Sieg der »Bürgerinitiative Stadtentwicklung Celle«, die sich mit Vehemenz und breiter Unterstützung aus der Bevölkerung gegen dieses Verkehrsprojekt eingesetzt hatte. Was waren damals die Gründe für das Scheitern der Planer? Das OVG hatte „nicht unerhebliche Zweifel, ob ein Bundesstraßenneubau von den hier gegebenen Ausmaßen angesichts des unstreitig geringen Durchgangsverkehrs erforderlich ist.“ Die Planer hätten „die Belange des Verkehrs zu hoch eingeschätzt und andere Belange vernachlässigt“. Insbesondere seien auch „die Belange des Landschafts- und Naturschutzes vernachlässigt“ worden. (Zitate aus dem Beschluss)

Erste Überlegungen zu einer Ortsumgehung gab es schon vor 60 Jahren; konkreter wurde die Angelegenheit im Jahr 1968, als Bundesverkehrsminister Georg Leber (SPD) in Celle verkündete, mit dem Bau einer Umgehungsstraße könne 1971 begonnen werden. Er habe sich „auf die östliche Umgehung festgelegt [...], da die Stadt einen starken inneren Verkehr habe, der in der schönen alten Stadt nicht bewältigt werden könne.“ Aber erst als die Stadt im Jahr 1976 einen Generalverkehrsplan verabschiedete, musste tatsächlich mit einem Bau gerechnet werden. Im Rat wurde das Projekt von einer übergroßen Koalition aus CDU/FDP/SPD getragen; Skepsis gab es lediglich aus der kleinen Gruppe der Wählergemeinschaft. (Die Grünen gab es noch nicht, und die DKP, die sich allerdings klar gegen die Ostumgehung positionierte, war nicht im Rat vertreten.)

Daraufhin formierte sich Widerstand. Eine »Notgemeinschaft Ostumgehung. Bürgerinitiative zur Erhaltung des Naherholungsgebietes« (Gründungsaufruf, CZ, vom 28.02.1976) sammelte 8.000 Unterschriften gegen die Ostumgehung und für die Erhaltung des Oberallergebietes. Die Erstunterzeichner dürften heute überraschen: Manfred Colshorn (Rechtsanwalt), Georg Pfingsten (Zeitungsverleger), Hans-Burghard v. Lüpke (Oberlandesgerichtsrat a.D.), Hans Westerhaus (Studiendirektor), Willi Dehnbostel (Rektor, Ratsherr). Im Juni 1976 fassten die Fünf in der CZ ihre Argumente zusammen:

ostumgehung„1. Oberster Gesichtspunkt bleibt die Erhaltung des Naherholungs- und Landschaftsschutzgebietes an der Oberaller zwischen Pfennigbrücke und Altencelle. [...] In einer Zeit , in der ein Recht auf Erholung gesetzlich abgesichert wird [...], glaubt die Stadt Celle, ein ideales Erholungsgebiet den Erfordernissen des Verkehrs opfern zu dürfen. [...]

2. Das ganze Ausmaß der Zerstörung dieses Naherholungsgebietes durch die geplante Ostumgehung ist inzwischen durch zwei weitere Umstände deutlich geworden, die bisher nicht so erkennbar waren: [...] b) Weit schwerwiegender ist aber, [...] daß die Pfennigbrücke zu einer Autobrücke ausgebaut wird, um den Innenstadtverkehr zu entlasten und auf der Wittinger Straße zur Osttangente abzuleiten. [...]

4. In Wirklichkeit will die Stadt mit Mitteln des Bundes, die wohl dazu kaum gedacht sind, nur eine innerstädtische Verkehrsstraße schaffen. [...] Eine Alternative kann [...] nur in einer Verlegung der Trasse nach Osten gefunden werden, und zwar sollte diese etwa hinter Altenhagen und Lachtehausen [...] verlaufen. [...]

Dem Moloch Verkehr darf nicht mehr geopfert werden, als unbedingt notwendig ist. Wesentlich ist nicht, daß der Autofahrer durch die Benutzung einer kreuzungsfreien Autostraße beim Umfahren von Celle ein paar Minuten gewinnt, sondern daß dem Bürger von Celle ein unvergleich- liches Naherholungsgebiet erhalten bleibt.“ (CZ, 11.06.1976)

Der Irrsinn der damaligen Planung ist u.a. an der Randfrage der Pfennigbrücke zu ersehen, für die tatsächlich ein Ausbau zur Autobrücke im Raum stand. Die Argumente können in ihrer ganzen Reichweite noch heute Geltung beanspruchen. Und wenn Celle tatsächlich einer Umgehungsstraße bedürfte – was heute mehr denn je in Frage steht –, wäre selbst der Alternativvorschlag einer Verlegung der Trasse weiter nach Osten nachvollziehbar.

Die »Notgemeinschaft« blieb eine Episode; zur tragenden Säule des Widerstands wurde dann die »BI Stadtentwicklung«, die in Horst Firker ihren »Motor« hatte. In einem Gründungsaufruf vom Oktober 1977 stellt sie sich mit den bekannten Argumenten gegen die Ostumgehung auf, aber sie versucht im Unterschied zur »Notgemeinschaft« ein alternatives Planungskonzept zu entwickeln. Sie wollte die B3 ab Ehlershausen an den westlichen Teil der Bahn verlegen, auf den Wilhelm- Heinichen-Ring führen und diesen bis zu einer Anbindung nördlich Groß-Hehlens verlängern.

Im Jahr 1978 initiierte die »BI Stadtentwicklung« einen Bürgerantrag. Sie nutzte damit als erste Initiative diese gerade im Vorjahr neu in die Niedersächsische Gemeindeordnung aufgenommene Form der Bürgerbeteiligung, die allerdings nur eine Befassung durch den Rat vorsah und keinerlei bindende Wirkung hatte. Für ihren detaillierten Antrag, der den Bau einer Westumgehung und die Allerquerung der Biermannstraße vor sah, sammelte sie 2518 gültige Unterschriften. Die Befassung im Rat fiel so aus, wie wir es eigentlich bis heute kennen: Missachtung des Anliegens der Bürger_innen wäre noch nett ausgedrückt.

weder im osten noch im westen ohne umgehung wärs am bestenImmerhin hatten die Kritiker_innen damals die Cellesche Zeitung voll und ganz auf ihrer Seite. Was zu der aus heutiger Sicht amüsanten Situation führte, dass die CDU-Ratsfraktion mit Josef Augstein den älteren Bruder des SPIEGEL-Verlegers damit beauftragte, die Berichterstattung der CZ über die Ratssitzung zum Bürgerantrag auf ihre presserechtliche Ordnungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Der »Stern« berichtete süffisant: „Falsch berichtet war aber nichts – auch nicht nach Auffassung von CDU-Oberbürgermeister Dr. Helmuth Hörstmann. Ihn ärgerte schlicht, daß der Standpunkt seiner Partei, die Schnellstraße lasse noch genügend Aller- Idylle übrig, nicht im Stil eines Hofberichts lang und breit ausgewälzt worden war. Daß das kein Problem des Presserechts, sondern eine Frage von Meinungsfreiheit ist, will Hörstmann nicht einsehen: »Der Presserat soll der ’Celleschen Zeitung’ mal deutlich sagen: Also, alter Freund, so geht es aber nicht!«“

Die »BI Stadtentwicklung« hatte so nicht nur eine gute Plattform für ihre Kritik, sie konnte – mit Unterstützung durch die CZ – auch hinreichend Spenden einwerben, um einerseits stadtplanerische Gegenentwürfe entwickeln zu lassen und andererseits eine Klage gegen die Planfeststellung zu finanzieren.

Und so kommentierte auch der ab 1982 neue Verleger Georg Christian Pfingsten den Stopp der Ostumgehung noch zustimmend: „Man wird den Verantwortlichen in mancher Hinsicht den Vorwurf nicht ersparen können, voreilig geplant bzw. gehandelt zu haben. Erhebliche Beträge sind hier buchstäblich »in den Sand gesetzt worden«. Den Schaden hat letztendlich und bedauerlicherweise der Steuerzahler zu konstatieren.“ (CZ, 14.04.1984)

Aber schließlich war es nicht der öffentliche Streit, sondern die Klagen gegen die Trassenführung, die die Ostumgehung ein erstes Mal scheitern ließen.

Ostumgehung – die Zweite ...

Endgültig beerdigt war die Ostumgehung damit nicht, ja die gescheiterte Planung hatte weder einen Politiker, noch einen Straßenbauer den Job gekostet. Und so wurde nach kurzer Bedenkzeit einfach aufs Neue losgeplant.

Schon im Juli 1989 einigten sich Behörden und der Rat per Beschluss für die alte Trasse – nur diesmal sollte ein 800 – 1500 Meter langer Tunnel statt Brücke die Planung gerichtsfest machen. Ein entsprechender Ratsbeschluss erfolgte gegen die Stimmen der beiden Grünen Hans-Günter Deuschle und Reinhard Rohde sowie der SPD-Ratsmitglieder Franz Awisus, Edzard Buismann und Joachim Schulze. (CZ, 04.07.1989) Dass die SPD tatsächlich weit zerrissener war, zeigte sich Ende Juni, als sich eine Delegiertenversammlung aus allen Celler Ortsverbänden eindeutig gegen eine Ostumgehung und gegen eine Untertunnelung der Aller aussprach und sich für eine Ausbaulösung im Westen aussprach. Die Ostumgehungsgegner hatten dabei den Unterbezirksvorsitzenden Carl-Bertil Schwabe wie auch den Landtagsabgeordneten Fritz Riege auf ihrer Seite. (CZ, 29.07.1989)

Für die Grünen war das Tunnel-Projekt die „Scheinlösung einer sich immer weiter zubetonierenden Wachstumsgesellschaft“: „Erst zerstört man mit den aufwendigen Bauarbeiten das Ökosystem Alleraue, legt anschließend einen Wildgarten mit grüngestrichenen Lüftungsschächten an, und wundert sich vielleicht noch, warum die vielen bedrohten Tier- und Pflanzenarten nicht zurückkehren.“ (CZ, 15.08.1989) Die Ostumgehung habe für die Autogesellschaft im übrigen die gleiche Wirkung wie Schnaps für Alkoholiker. Die Kosten der Tunnelvariante wurden seinerzeit übrigens auf rund 263 Millionen Mark geschätzt.

Von den Umweltverbänden sprach sich der DBV klar gegen die vorgeschlagene Variante aus und bevorzugte eine Stärkung des ÖPNV sowie des Ausbaus der westlichen Variante – zu den negativen Folgen für die Natur hieß es: „In diesem Gebiet, dem oberen Allertal, sind noch 130 Vogelarten, sieben Amphibien- und Reptilienarten und mehrere hochgradig gefährdete Libellen und Heuschreckenarten nachgewiesen worden. 36 Farn- und Blütenpflanzen der roten Liste finden dort geeignete Wuchsbedingungen.“ (CK, 03.09.1989)

Der Planungsprozess verlief im Folgenden zäh. Und 1997/98 war auch die Tunnelvariante wieder vom Tisch. Dass der Bund weder die Tunnelvariante noch einen vierspurigen Ausbau wolle, machte der damalige Staatssekretär im Verkehrsministerium Norbert Lammert bei einem Besuch in Celle im August 1997 deutlich. (CZ, 27.08.1997) Im Januar 1998 war dann endgültig klar, dass die Tunnellösung von der Bundesregierung aus Kostengründen abgelehnt wird. (CZ, 17.01.1998)

Ab 1997 verschärfte sich erneut die öffentliche Auseinandersetzung. Mit dabei waren diesmal auch neue Gruppen: eine Ortsgruppe von »Robin Wood« und die lokale Initiative »In Nomine Terra Incognita« (INTI). Am Nikolaustag 1997 kletterten zwei Aktivisten von »Robin Woos« den Weihnachtsbaum am Großen Plan hoch und befestigten ein zwei mal vier Meter großes Transparent mit der Forderung „Ostumgehung stoppen!“ Das dazu verteilte Flugblatt betont zum einen den ökologischen Wert der Allerniederung, argumentiert zum anderen aber explizit antikapitalistisch:

„Neue Straßen sind nicht zum Wohle der Bevölkerung, sondern dienen hauptsächlich zur Expansion der Transportwege (sowohl für Waren, als auch für Arbeitskräfte) der Marktwirtschaft. In deren Konkurrenzkämpfen spielt ja auch sonst Natur und Mensch keine sonderliche Rolle. Echte Lösungen können nur in einer radikalen Veränderung der Verkehrsformen und –gründe gesucht werden. JedeR einzelne sollte wenigstens versuchen dem (verinnerlichten) Positiv-Image des PKW-LKW Verkehrs entgegenzuwirken. Nicht der Illusion von Freiheit, die Autofahren vermittelt, sollte angehangen werden, sondern der Sehnsucht nach wirklicher gesellschaftlicher Freiheit.“ (Flugblatt vom 06.12.1997)

Ein Flugblatt der Gruppe INTI von Mitte 1998 knüpft eng an den »Robin Wood«-Text an: „Hinter der Ostumgehung steht das Kapital! [...] Diese Logik und diese Interessen sind nicht die unseren! [...] Unser Kampf gegen die Ostumgehung ist ein Ansatz von vielen zur Überwindung dieses menschenverachtenden Systems und der ihm zugrunde liegenden HERRschaftsverhältnisse.“

Im April 1998 kennzeichnete »Robin Wood« die Trassenführung bei der Lachtemündung mit in die Bäume gehängten blauen Plastiksäcken, beschrieben mit Parolen wir: „Hier droht Naturzerstörung durch die Ostumgehung“ oder „Bald ist hier keine Natur mehr, sondern nur noch eine Müllhalde“. (CZ, 21.04.1998)

Beide Gruppen führten am 18. Juli 1998 ein »Buntes Umweltfest« in Thaers Garten durch. Auf dem Plakat ist zu lesen: „... mit phantasie und lebendigkeit / GEGEN DEN STRASSENWAHN“ Zum Programm gehörten u.a. ein Baumkletter-Workshop und eine naturkundliche Radführung; am frühen Abend spielten Celler Grunge- und Hardcore-Bands.

Im Februar 1998 hatten sich unter dem Namen »Aktionsbündnis für ein besseres Verkehrskonzept« elf Gruppen zusammengeschlossen: AG Energiewende, AK Umwelt Nienhagen, BI Stadtentwicklung Celle, BUND, Bündnis ’90/Die Grünen, Flores e.V., INTI, NABU, Robin Wood und Naturfreunde. (CZ, 20.02.1998) Das Bündnis forderte eine „menschenfreundliche Verkehrsplanung, flächendeckend und bedarfsgerecht.“ Interessanterweise wurde der Blick auf ein gänzlich unbeachtetes »Verkehrsproblem« gelenkt, das Planer und herrschende Politik unbeachtet ließen: die „fehlende Mobilität von Menschen ohne Auto vor allem im ländlichen Bereich, von sozial Schwachen, von Jugendlichen, Senioren, Familien mit Kindern ohne Zweitwagen,... besonders an Wochenenden, abends, nachts.“ Zu den vom Bündnis vorgelegten „Bausteinen zur Verbesserung der Verkehrssituation in Celle“ gehörten deshalb: Verbesserung des ÖPNV, Anschluss an den Großraumverbund Hannover, Entwicklung eines Fahrradkonzepts, Entschleunigung und Entlärmung des motorisierten Verkehrs, Einrichtung einer Mobilitätszentrale (Car- Sharing, Fahrgemeinschaften). Der Punkt „Ausbau Westtangente mit Lärmschutzmaßnahmen“ war so nur einer unter vielen.

Parallel gründete sich im Januar 1998 auf Anregung des CDU-Landtagsabgeordnete Otto Stumpf ein »Arbeitskreis pro Ostumgehung«. Behilflich war ein Vertreter der »Gesellschaft zur Förderung umweltgerechter Straßen- und Verkehrsplanung“ (GSV), der die Aufgabe des Lobbyistenverbands unverblümt als die eines „Roten Kreuzes für Straßen, die schneller gebaut werden sollen“, beschrieb. (CZ, 30.01.1998)

Die Ignoranz von Planern und herrschender Politik wird vielleicht am deutlichsten in dem Zitat von CDUMdB Klaus Hedrich: „Das Maß an Dummheit, das sie den Deutschen zumutet, hat in Celle seinen Höhepunkt gefunden.“ So meinte er die Prognose der verkehrspolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion der Bündnisgrünen, Gila Altmann, kontern zu müssen. Die hatte anlässlich eines Celle-Besuchs auch der Brückenquerung keine Realisierungschance gegeben, weil dies gegen die Naturschutzrichtlinie der Europäischen Union verstoße. (CZ, 10.07.1998) Joachim Falkenhagen, FDP-Ratsherr schloss sich übrigens Hedrich mit der Kritik an, Altmann betreibe einen „autofahrer- und damit bürgerfeindlichen Feldzug“. – Gila Altmann sollte Recht behalten.

Flora – Fauna – Habitat

Die Ostumgehung wurde zunehmend zur „Schicksalsfrage für die wirtschaftliche Entwicklung der Region“ (Landrat Wiswe, CZ, 18.02.1999) hochstilisiert. Aber im März 1999 musste Landrat Wiswe im Umweltausschuss des Kreistages mitteilen, dass für die Allerniederung die Aufnahme in das europäische Naturschutzprogramm »Flora – Fauna – Habitat« (FFH) anstehe. Wären derartige Schutzgebietsysteme in das FFHProgramm aufgenommen, seien „Gestaltungsspielräume“ sehr gering. Bei der Einrichtung von FFH-Gebieten ging und geht es darum, nicht nur einzelne Pflanzen und Tiere zu schützen, sondern deren Lebensräume als Ganzes unter Schutz zu stellen und zu erhalten. Statt sich darüber zu freuen, machte – wie die CZ schrieb – das Wort von einer „Naturschutz-Käseglocke“ die Runde. (CZ, 26.03.1999)

Ende 1999 sickerte dann zusätzlich noch durch, dass der Bundesverkehrswegeplan, der der Celler Ostumgehung „vordringlichen Bedarf“ eingeräumt hat, erheblich unterfinanziert sei und in einem Investitionsprogramm bis 2003 die Celler Ortsumgehung nicht mehr auftauche. Ohne Druck aus Celle und ohne deutliche Unterstützung, meinte der FDP-Bundestagsabgeordnete Hans-Michael Goldmann bei einem Besuch in Celle, sei keineswegs sicher, dass sich die 250 Millionen Mark teure Ostumgehung 2003 im neuen Verkehrswegeplan unter vordringlichem Bedarf wiederfinde. Er brachte dabei die Beteiligung von Kommunen an Straßenbaumaßnahmen des Bundes ins Gespräch. (CZ, 16.12.1999) – Und stieß auf offene Ohren.

Trotz erheblicher kommunaler Schuldenberge beschlossen Stadt und Landkreis Celle, jeweils vier Millionen Euro für den Bau des ersten Bauabschnitts zuzuschießen. Durch diesen vom SPD-Wahlkreisabgeordneten und Bundestagsfraktionsvorsitzenden Peter Struck vermittelten Deal mit dem Bundesverkehrsministerium rückte die Celler Umgehungsstraße in der Reihenfolge der Planungsvorhaben des Bundes wieder deutlich nach oben. Wichtig war zudem, dass die Realisierung des ersten Abschnitts eine Vorfestlegung auf eine östliche Umfahrung bedeuten würde. Diesen Schachzug rechnete sich vor allem Alfred Tacke (SPD) zu, der als gebürtiger Celler in der Schröder/Fischer-Regierung Staatssekretär im Wirtschaftsministerium war. Die Losung: Aufteilung in fünf Planungsabschnitte und einfach mit dem Bau beginnen, unabhängig davon ob es für die Allerquerung eine Genehmigung gibt oder nicht. Bernd Skoda, Verkehrsplaner im Celler Rathaus: „Wenn erst einmal der erste Spatenstich gesetzt sei, müssten schließlich Lösungen gefunden werden.“ (CZ, 26.02.2002)

im interesse allerIn der politischen Landschaft hatte sich im neuen Jahrtausend nichts geändert: CDU, SPD und FDP im Ratshaus waren bei ihrem bedingungslosen JA für die Ostumgehung geblieben, einziger Gegner war Bündnis ’90/Die Grünen – allerdings inzwischen realpolitisch gebürstet mit einer starken Betonung auf der „Alternative“ Westumgehung. Die CZ war zwischenzeitlich allerdings ins Lager der Befürworter gewechselt. Am deutlichsten wird dies in einem Kommentar von Hans- Jürgen Galisch: „Bei allem Verständnis für die Anliegen von Grünen und anderen Naturschützern organisierter und unorganisierter Art: In meinen Augen vergessen sie, dass auch der Mensch Teil der Natur ist. Ob die Bedenkenträger es wahr haben wollen oder nicht: Die meisten von uns sind tagtäglich mit dem Auto unterwegs. Die wenigsten gehen zu Fuß, fahren mit dem Rad oder benutzen den Bus, und wir quälen uns von Stau zu Stau. Dabei gibt es bei weitem ja nicht nur Gegner der Ostumgehung. Es wird Zeit, dass sich auch die Befürworter wieder deutlich zu Wort melden. Auch wir Menschen sind teil der Natur, und die Staus müssen weg. Amen.“ (CZ, 19.11.2001)

Als sich die Stadt im August 2002 der Jury des europäischen Wettbewerbs »Entente Florale» stellte, störten die autonomen Ostumgehungsgegner_innen die Pflanzung eines Baums in Thaers Garten mit einem Anti- Ostumgehungstransparent und Verkehrslärm aus dem Ghetto-Blaster. – Ein Jahr später wurden Werbebanner für die Ostumgehung, die die Stadt über die Einfahrtstraßen spannte, zerstört.

Während Celles autonome Linke sich unter anderem so gegen die Ostumgehung positionierte, musste sie erleben, dass die PDS kein „natürlicher“ Bündnispartner war: Auf einer Diskussionsveranstaltung mit den Kandidat_ innen für die Bundestagswahl 2002 setzte sich deren Kandidat Lothar Kaminski für die Ostumgehung ein und dies in 100-%iger Übereinstimmung mit Struck (SPD) und Hedrich (CDU). (CZ, 31.08.2002) – [Die Linke vertritt seit einigen Jahren aber eine ablehnende Haltung.]

In diesem Wahlkampf musste sich Verkehrsminister Bodewig (SPD) mit Protesten auseinandersetzen, Bei seinem Wahlkampfauftritt in Celle erntete er für seinen Satz „Die Menschen in Celle warten auf diese Straße" auch Pfiffe, denn unter die 250 Zuschauer_innen hatten sich etwa 30 Gegner_innen der geplanten Ortsumgehung gemischt, die mit Transparenten, Flugblättern und Zwischenrufen ihrer Forderung nach dem Verzicht auf das Projekt Nachdruck verleihen wollten.

Im Spätsommer 2002 mussten die Planer die nächste Schlappe hinnehmen. Die von ihnen favorisierte Trassen- Variante 11, also die Allerquerung in Höhe der Lachtemündung, war nicht zu halten – jetzt richteten sich alle Hoffnungen auf die Variante 8N, die nahe an Altencelle vorbeiführen sollte. Die Trassenverlegung nach Osten beruhigte eine Gruppe der Gegner_innen, nämlich jene, denen es vor allem auf den Naherholungscharakter von Dammaschwiese und Lachtemündung ankam. Gleichzeitig jedoch sammelte sich etwa in Lachtehausen neuer Protest, der die neue Trasse als trennendes Element zur Stadt bzw. für den Ortsteil wahrnahm.

Gegen die neue Trassenführung gründet sich der Vereins „Im Interesse Aller"; Zweck des Vereins ist es, eine Trasse durch das Landschaftsschutz- und Naherholungsgebiet „Oberes Allertal“ zu verhindern. Stattdessen soll eine „Nordspange“ die Bundesstraße 3 von Klein Hehlen nach Groß Hehlen verbinden (Westumgehung). (CZ, 08.03.2002) Die Kritik des Vereins an der neuen Variante: Die neue Ostumgehungsvariante 8N entlaste die Allerbrücke nur um 4800 Fahrzeuge pro Tag, die Bundesstraße 214 belaste sie mit 7000 Fahrzeugen pro Tag mehr. Und die Kreisstraße 74, die durch Altencelle führt, wäre mit 12150 Fahrzeugen pro Tag immer noch erheblich belastet. Annegret Pfützner, auch Vorsitzende der Bündnisgrünen Kreistagsfraktion verwies in diesem Zusammenhang auf ein Gutachten der Ingenieurgemeinschaft Schubert: Die Variante 8N sei nicht geeignet, „den verfolgten Zweck ohne oder mit geringeren Beeinträchtigungen für das FFH-Gebiet zu erreichen“.

Der Protest gegen die Ostumgehung wurde in den letzten Jahren neben dem Zusammenschluss von »Im Interesse Aller« vor allem von den klassischen Umweltund Naturschutzverbänden getragen, insbesondere dem BUND. Die ökologische Linke der Stadt trat kaum noch in Erscheinung – mit einer kleinen Ausnahme: Die Blumenkästen vor dem Café Rio’s wurden im Frühjahr 2012 mit Pflanzen besetzt, die vor der Betonwalze des Zweiten Bauabschnitts gerettet wurden. In dezentraler Ergänzung zur Kasseler Documenta verwies ein Schild auf den Hintergrund: „Asylum seeking plants taking refuge from Ostumgehungs traffic terror“. (siehe Foto) Sie gediehen prächtig und werden als kleines Symbol des Widerstands in diesem Frühjahr wieder sprießen.

Ende November 2011 erging der Planfeststellungsbeschluss für den dritten Bauabschnitt. Er wurde u.a. vom BUND beklagt. Am 28. September 2012 erklärte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht den Planfeststellungsbeschluss für vorläufig nicht vollziehbar, da sich „zahlreiche komplexe Tatsachen- und Rechtsfragen stellen [würden], die den europarechtlich veranlassten Gebietsund Artenschutz betreffen. Deren Beantwortung kann mit der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht hinreichend sicher prognostiziert werden.“ Ein sofortiger Vollzug würde „zur Folge haben, dass gewichtige, auch europarechtlich geschützte Gemeinwohlbelange des Naturschutzes beeinträchtigt werden.“ (Presseinformation OVG vom 28.09.2012)

So stehen die Planer und die politisch Verantwortlichen im Jahr 2013 vor der von Gegner_innen immer kritisierten Situation, dass sie eventuell eine Ortsumgehung gebaut haben, die mit dem ersten und zweiten Bauabschnitt endet und so erst das Verkehrschaos herstellt, das sie seit 50 Jahren heraufbeschwören.