Ohne gymnasiale Oberstufe ist das Konzept gefährdet

Mit einer deutlichen Mehrheit seitens des bürgerlichen Blocks und der AfD hat der Kreistag in seiner letzten Sitzung den Antrag der Integrierten Gesamtschule Celle abgelehnt, zum Schuljahr 2020/2021 eine gymnasiale Oberstufe einzuführen. Nachdem man in Celle über Jahrzehnte das Angebot einer IGS verhindert hatte, soll mit dieser Entscheidung offensichtlich der IGS ihre Attraktivität für Eltern und Schüler*innen genommen werden.

Die Argumentation von Landrat Wiswe lässt sich so zusammenfassen: 1.) Es gibt keinen Rechtsanspruch auf die Einführung einer gymnasialen Oberstufe an einer IGS; 2.) würde eine solche eingeführt, stelle man die IGS besser als die Oberschulen; 3.) eine Oberstufe an der IGS gefährde den Bestand des Gymnasium Ernestinum; 4.) die IGS-Schüler*innen könnten an die Oberstufen der bestehenden Gymnasien wechseln; 5.) der Landkreis habe nicht das Geld zusätzliche Räume für eine Oberstufe zu schaffen.

Die Gegenreden im Kreistag zielten insbesondere auf das pädagogische Konzept der IGS ab, das ohne gymnasiale Oberstufe erhebliche Risse bekommen könnte. Die AfD zeigte sich offen reaktionär. Ein Zitat ihres Abgeordneten Frank Pillibeit: „Wir brauchen schulische Vielfalt statt integrierte Einfalt. Allein der Begriff „Gesamtschule“ ist schon ein Euphemismus – es handelt sich hier nicht um eine Gesamtschule sondern um eine Einheitsschule.“

Auch wenn die IGS ihren Antrag im nächsten Jahr erneut stellen kann, sieht es aktuell schlecht aus: Der CDU-Kreistagsabgeordnete Hubertus Bühmann, bis zu seiner Pensionierung übrigens Schulleiter am Kant-Gymnasium in Lachendorf und „alter Ernestiner“, verkündete, die CDU-Fraktion werde ihre Haltung in den nächsten vier Jahren nicht ändern. Es bedarf also einer erheblichen Intensivierung des gesellschaftlichen Drucks, um im Kreistag zu anderen Abstimmungsverhältnissen zu kommen.

Wir haben mit Ulrike Schwengfelder, stellvertretende Schulelternratsvorsitzende der IGS Celle, ein Interview geführt. Ergänzend finden sich in den Kästen Informationen zur IGS, der Position der GEW.

Interview mit Ulrike Schwertfeger
„Für das pädagogische Konzept brauche ich auch die leistungsstarken Schüler.“

??: Sicher ist bei Eltern, Schüler*innen und Lehrer*innen die Enttäuschung über die Abstimmung im Kreistag groß. Hattet ihr überhaupt damit gerechnet, dass sich der bürgerliche Block im Kreistag derartig querstellen würde?

!!: Ja, leider mussten wir damit rechnen, obwohl bekanntlich stirbt ja die Hoffnung zuletzt. Zumal wir als Schulelternrat bis in der Woche vor der Kreistagssitzung Kontakt zu Politikern aus dem konservativen Lager hatten, die unsere Argumente wohlwollend aufgenommen haben.

??: Ihr habt ja einen Haufen guter Argumente. Arbeiten wir mal eins nach dem anderen ab. Was unterscheidet die IGS von Oberschulen und Gymnasien? Warum ist für dieses pädagogische Konzept wichtig, dass die IGS eine eigene gymnasiale Oberstufe bekommt?

!!: In einer IGS lernen alle Kinder zusammen, egal wie begabt man für das eine oder andere Fach ist. Jeder ist mal der Lernende und auch Lehrende. Natürlich werden nicht alle über einen Kamm geschert, sondern jeder wird individuell betrachtet, gefördert und gefordert, in einem Klassen- bzw. Lernverband. Ein großer Teil des Unterrichts findet deshalb auch nicht im herkömmlichen Sinne als Frontalunterricht statt, sondern in klassenübergreifenden Lernbüros. An Gymnasien sind normalerweise nur die leistungsstarken Schüler, obwohl auch dort immer wieder Kinder angemeldet werden, die dem Leistungsdruck nicht gewachsen sind und das Gymnasium nach ein oder zwei Jahren verlassen müssen. Oberschulen beherbergen in der Regel Schüler, die früher eine Real- oder Hauptschule besucht hätten.
Dort werden in der 8. Klasse die Kinder wieder in Haupt- und Realschulklassen getrennt. Durch meinen Beruf bekomme ich Einblick in viele Schulen. In Gymnasien und Oberschulen habe ich nur Frontalunterricht gesehen.
Für das pädagogische Konzept, dass alle Schüler zusammen miteinander und voneinander lernen, brauche ich auch die leistungsstarken Schüler. Wenn die IGS keine eigene gymnasiale Oberstufe bekommt, werden sicher eine ganze Menge Eltern, die für ihr Kind ein Abitur anstreben und es ab der 5. Klasse in ein Gymnasium geben können, nicht mehr an der IGS anmelden. Auch um ihrem Kind möglicherweise einen Schulwechsel in der Oberstufe zu ersparen. Es ist nun mal einfacher an seiner angestammten Schule, wo man sich auskennt, Schüler und Lehrer kennt, zu lernen.

??: Landrat Wiswe argumentiert ja dahingehend, dass die Schüler*innen der IGS nach Klasse 10 auf ein Gymnasium oder die Fachgymnasien der Berufsschulen wechseln könnten, um dort ihr Abitur zu machen. Was sagt ihr dazu?

!!: Natürlich werden die Kinder befähigt sein, auch an einer anderen Schule Abitur zu machen. Ich vertraue darauf, dass unsere Lehrer unsere Kinder gut auf alles was nach der 10. Klasse kommt vorbereiten. Egal, ob es eine Oberstufe oder eine Berufsausbildung sein wird. Aber darum geht es eigentlich nicht. Wir brauchen die Oberstufe, damit wir auch die Anziehungskraft für gymnasiale Kinder schon ab Klasse 5 haben und auch unsere guten gymnasialen Lehrer an unserer Schule bleiben, weil sie auch hier in einer Oberstufe arbeiten können. Ich glaube für Gymnasiallehrer ist es bei ihrer Entscheidung Gymnasiallehrer zu werden auch darum gegangen, sich mit jungen Erwachsenen, die der Pubertät entwachsen sind, fachlich auseinanderzusetzen. 

??: Dann wird vor allem auch ein Kostenargument aufgeführt, weil es keine Räume für eine eigene gymnasiale Oberstufe gäbe. Es ist nicht unbedingt, Eure Aufgabe, sich darüber Gedanken zu machen. Trotzdem die Frage: Zieht dieses Argument?

!!: Natürlich nicht. Geld darf bei Bildung nur eine untergeordnete Rolle spielen.

??: Was sind die wichtigsten Argumente für Eltern, ihre Kinder auf die IGS zu schicken? Und: Hast du den Eindruck, dass die Kommunalpolitik dies auch nur ansatzweise verstehen?

!!: Die Argumente sind sicher sehr vielfältig. Für manche sicher die Lage, für andere das Konzept mit den Tablets zu arbeiten, aber sicher für einen großen Teil auch das Konzept, anders zu lernen. Hier wird viel Wert auf Selbstständigkeit im Lernen gelegt: weniger Frontalunterricht, Lernen lernen, die Kinder müssen sich selber organisieren, reflektieren. Ich persönlich finde auch wichtig, dass die Kinder lernen, dass der Wert eines Menschen nicht nur vom IQ abhängt. Sie erfahren täglich, dass auch weniger (lern-) begabte Kinder in den Hauptfächern durchaus ihre Stärken an anderer Stelle haben, weil es die eigenen Freunde und Klassenkameraden sind.
Für eine ganze Reihe Eltern, deren Kinder nicht ganz klar und spielend leicht eine gymnasiale Empfehlung bekommen haben bzw. bekommen würden, spielt sicher auch eine Rolle, dass der Leistungsdruck nicht so groß ist, wie am Gymnasium und man sich auch die Zeit der Entwicklung geben kann.
Sicher sehen die meisten Politiker bei uns im Kreis schon, dass die Schule gute Arbeit leistet. Ich vermute, dass aber viele das Konzept nicht richtig kennen und verstanden haben. Es wird die IGS immer wieder mit der Oberschule verglichen und man hört auch immer wieder, dass es doch im Grunde das Gleiche ist. Sie sehen den Unterschied zur Oberschule nicht oder wollen ihn nicht sehen. Denn dann kann man ja auch gut argumentieren, dass die Schüler einer Oberschule ja auch keine eigene gymnasiale Oberstufe haben.

??: Im nächsten Jahr wird die Schule ja erneut einen Antrag stellen. Leider scheinen die Verhältnisse im Kreistag betoniert. Wie wollt Ihr diese Mauer an Ignoranz zum Bröckeln bringen?

!!: Das wird ein schwieriges Stück Arbeit. Es gibt aber durchaus auch im konservativen Lager Personen, die uns verstehen und auch signalisiert haben, dass sie durchaus eine gymnasiale Oberstufe an der IGS befürworten, nur nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Denen müssen wir klarmachen, dass es aber schädlich ist, zu lange damit zu warten. Einmal für die IGS, weil sie, wie bereits erwähnt, einen Teil ihrer Anziehungskraft gerade bei den gymnasialen Kindern verliert. Und zweitens für die Politik, weil dann der Landkreis wertvolle Zeit für Planungen verliert.
Wir werden gleich im neuen Jahr eine Podiumsdiskussion durchführen und hoffen natürlich, dass zu diesem Termin mehr Vertreter aus der Politik kommen, als zu unserer letzten Einladung in die Schule im November. Da sind leider von den 60 eingeladenen Kreistagsmitgliedern (inkl. Landrat Wiswe) nur 13 Abgeordnete gekommen; leider fand der Landrat keine Zeit für die Kinder der IGS.

GEW Celle
Unverständnis über Umgang mit der IGS

Die Entscheidung des Kreisschulausschusses, gegen die Einrichtung einer gymnasialen Oberstufe an der IGS zu stimmen, stößt beim Kreisverband Celle der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf vollständiges Unverständnis.

Eine IGS ohne Oberstufe ist vor allem für die zahlreichen dort unterrichtenden Gymnasiallehrkräfte problematisch. Wer in Niedersachsen in der Gehaltsklasse bzw. der Besoldungsgruppe A13 beschäftigt und auf Lebenszeit verbeamtet sein möchte, muss dreierlei erfüllen:

1. Die theoretischen Grundlagen legen und ein Studium zweier Unterrichtsfächer mit der Fachrichtung Gymnasiales Lehramt erfolgreich abschließen (früher Erstes Staatsexamen, heute Master of Education), dies dauert in der Regel fünf Jahre.

Viele Lehramtsstudierende wollen gerne an einem Gymnasium unterrichten, weil sie die Altersvielfalt der Schülerschaft sowie den fachlichen Anspruch des Oberstufenunterrichts schätzen. Einen Studienschwerpunkt „Unterrichten an einer IGS“ gibt es bislang nicht.

Zuletzt durften die Gesamtschulen in Niedersachsen nur Lehrerkräfte mit einem solchen Studienabschluss einstellen – das Interesse an einer IGS ohne Oberstufe zu unterrichten dürfte daher gering sein, solang es noch ausreichend Stellen an Gymnasien gibt. Geeignete Bewerber für die offenen Stellen zu finden könnte der IGS Celle in Zukunft also schwer fallen.

2. Die praktischen Grundlagen legen und einen 18-monatigen Vorbereitungsdienst (Referendariat) an einem Studienseminar für das Gymnasium absolvieren (Zweites Staatsexamen).
Diese Ausbildung erfolgt nur in seltenen Fällen an einer IGS. Es kommt sogar vor, dass Ausbilder die IGS für eine gymnasiale Ausbildung als nicht geeignet ansehen. Fehlt der IGS Celle die Oberstufe, wird dort wohl auch in Zukunft keine gymnasiale Ausbildung stattfinden.

3. Sich für die Laufbahn qualifizieren, d. h. nach einer dreijährigen Probezeit erfolgt eine abschließende Beurteilung durch die Schulleitung.

Dadurch werden die zahlreichen Gymnasiallehrkräfte, die bereits an der IGS Celle unterrichten, gezwungen, diese zu verlassen. Für die Laufbahnqualifizierung sollen Unterrichtserfahrungen in der Oberstufe und die Teilnahme an Abiturprüfungen vorgewiesen werden. Dafür müssen die Lehrerinnen und Lehrer zeitweilig am KAV und am HBG unterrichten, also an einer fremden Schule, mit anderen Räumlichkeiten, Strukturen, Absprachen und Gepflogenheiten. Die Lehrkräfte sind verständlicherweise enttäuscht – und denken gegebenenfalls darüber nach, die IGS Celle zu verlassen.