Wer nicht spurt, kriegt kein Geld
Erwerbslosigkeit beherrscht immer dann die Schlagzeilen, wenn die „Hartz-IV-Sauerei“ (BILD) aufgedeckt werden soll. Dabei geht es selbstverständlich nicht um das entwürdigende Zwangsregime, sondern um die „Drückeberger“. Anlass war diesmal im April die Statistik für das Jahr 2012: 1.024.600 Sanktionen verhängten die Jobcenter gegenüber Erwerbslosen, 98.900 (11 %) mehr als 2011. Was sagt diese Zahl eigentlich aus? Im Laufe eines Jahres sind knapp sechs Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte mindestens eine gewisse Zeit innerhalb der 12 Monate auf Arbeitslosengeld II angewiesen, im Durchschnitt des 12-Monatszeitraums sind es knapp 4,5 Millionen. Da gegen eine Person immer mehrere Sanktionen ausgesprochen werden können, lässt sich sagen, dass gut eine halbe Millionen Menschen über das Sanktionsregime unter das Existenzminimum gedrückt wurden. Und da Sanktionen immer die gesamte Haushaltskasse einer so genannten Bedarfsgemeinschaft treffen, waren im Jahresverlauf direkt und indirekt wahrscheinlich tatsächlich über eine Million Menschen von Kürzungen der Leistung betroffen – und als Teil der Bedarfsgemeinschaften hochgerechnet auch mehr als 250.000 Kinder und Jugendliche.
Die Sanktionsdichte ist regional unterschiedlich. In Berlin wird öfter sanktioniert als im Saarland. Noch gravierender sind die Unterschiede hinsichtlich der Kreise und Städte. Und hier sticht der Landkreis Celle in besonderer Weise hervor. Im bundesweiten Vergleich liegt Celle auf Platz 8 – bis auf Leverkusen sind die anderen Kreise ausschließlich in Bayern und Baden- Württemberg. Und in Niedersachsen liegt Celle damit eindeutig auf Platz 1, hier sind in Relation zur Zahl der Erwerbslosen die meisten Sanktionen verhängt worden. Im Monat Dezember hatten 3,4 % aller Erwerbslosen eine Kürzung, in Niedersachsen belief sich diese Quote auf 3,8 % - und in Celle waren es 6,3 %. Bei genauerer Betrachtung der Zahlen ergibt sich, dass die allermeisten Sanktionen wegen so genannter Meldeversäumnisse verhängt werden. Und es ergibt sich auch, warum in Celle mehr Sanktionen verhängt werden als anderswo. Die Tabelle gibt die „Gründe“ an für die im Dezember 2012 neu ausgesprochenen Sanktionen in Prozent (der häufigsten vier Gründe):
Sanktions-"Gründe" | Celle | Nds. | Bund |
Weigerung Erfüllung der Pflichten der Eingliederungsvereinbarung | 7 % | 14 % | 14 % |
Weigerung Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, AGH oder Maßnahme | 6 % | 11 % | 10 % |
Abbruch bzw. Anlass zum Abbruch einer Maßnahme | 1 % | 3 % | 3 % |
Meldeversäumnis | 85 % | 68 % | 69 % |
Es ist auffällig, dass in Celle im Vergleich zum Bundesgebiet und Niedersachsen überproportional Kürzungen wegen so genannter „Meldeversäumnisse“ verhängt werden, während die anderen „Gründe“ logischerweise dann hinter den Durchschnitt zurückfallen.
Wenn flapsige Sprüche helfen würden, könnten wir jetzt die Ausgabe von Kalendern und Uhren an Celler Erwerbslose fordern. Denn woran sonst könnte es liegen, wenn es hier nicht klappt, dass Leute Termine einhalten. Die Wahrheit dürfte anders aussehen: Das Jobcenter Celle scheint es darauf anzulegen, durch häufige Ladungen einen besonders hohen Grad an Sanktionierungen zu erzielen. Das nun wieder wäre eine gezielte Strategie, die – wie die Vergleichszahlen zeigen – nichts mit dem individuellen Verhalten der Erwerbslosen zu tun hat. Und da hört jeder Spaß nun wirklich auf.
Materiell sowieso. Was bedeutet es eigentlich für die Betroffenen, wenn ihnen Leistungen gekürzt werden. Nehmen wir als Fallbeispiel eine alleinlebenden Erwerbslose. Sie ist von ihrem Fallmanager zu einem Gespräch über ihre berufliche Situation eingeladen worden. Schriftlich, aber von der – wie nicht nur Erwerbslose klagen – nicht immer zuverlässigen City-Post zugestellt oder eben auch nicht. Die Erwerbslose versäumt also ihren Termin. Nach § 32 SGB II kann das Jobcenter gegen sie eine Sanktion verhängen, die 10 Prozent des für sie maßgebenden Regelbedarfs umfasst und drei Monate dauert. D.h.: Gekürzt werden 10 % von 382 Euro = 38,20 Euro – und das für drei Monate (= 114,60 Euro).
Den Betroffenen hilft es immer wenig, wenn angesichts der Zahlen der BA-Chef Alt relativiert („Gemessen an der Gesamtzahl der Leistungsberechtigten haben die Jobcenter nur wenige Menschen sanktioniert.“) oder Bundesministerin von der Leyen die Erwerbslosen „in Schutz nimmt“ („96 Prozent verhalten sich korrekt.“).
Alt hat ja seine eigene Erklärung. Zurückzuführen sei der Anstieg der Sanktionen auf die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt und eine intensivere Betreuung in den Jobcentern: „Wenn wir den Menschen mehr Angebote machen können, nehmen auch die Meldeversäumnisse zu.“ Selbst wenn dies für Bayern und Baden-Württemberg Gültigkeit haben sollte, wie die Statistik auch nahelegt – aber was hat Celle dann auf Spitzenplätzen zu suchen?
46 selbstständige Städte und Kreise gibt es in Niedersachsen. Und egal, um welche Betroffenengruppe es sich handelt: Immer liegt Celle unter den fünf Regionen mit den prozentual am häufigsten Sanktionierten (einzige Ausnahme: Ausländer_innen); einige Bespiele.
Der Soziologe Stephan Lessenich von der Universität Jena sagte in einer Anhörung des Bundestages im Juni 2011 zu den Hintergründen folgendes: „Das Sanktionsregime gegenüber Erwerbslosen ist meines Erachtens der sichtbarste Ausdruck eines Sozialstaates, der sich als ein paternalistischer Erziehungsstaat versteht, der davon ausgeht, dass es Verhaltensprobleme der Arbeitsmarktakteure sind, die zu zentralen Problemen des Sozialstaates führen, dass es nicht nur Strukturprobleme sind, sondern das Fehlverhalten von Menschen und dass Menschen im Erwachsenenalter - Bürgerinnen und Bürger mit eigentlich politischen und sozialen Rechten - dazu gezwungen werden müssten, sich entsprechend einer angeblich richtigen Verhaltensweise auch auf dem Arbeitsmarkt zu gerieren."
Und dass die Sanktionen nicht allein auf die Erwerbslosen zielen ist die These eines Projektberichts für die IG Metall aus dem Jahr 2008: „[Die Sanktionen] sind vielmehr auch ein wichtiges Element der Regulierung von Arbeitsbedingungen und dienen der Sicherung von Mindeststandards auf dem Arbeitsmarkt. […] Je größer diese Risiken [etwa durch Entzug bzw. Kürzung der Leistung durch Sanktionen, Anm.] desto wichtiger wird der Erhalt des Arbeitsplatzes und desto eher sind die abhängig Beschäftigten zu Zugeständnissen im Hinblick auf die Beschäftigungsbedingungen (Entgelt, Arbeitszeit, Leistungsanforderungen usw.) bereit."
Auch international steht das bundesdeutsche Sanktionsregime am Pranger. Die mit Sanktionen bedrohte Verpflichtung nach § 31 SGB II, jede zumutbare Arbeit anzunehmen, hält z.B. der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte für so problematisch, dass er die Bundesrepublik in seiner Sitzung im Mai 2011 öffentlich rügte. Die Bundesrepublik wurde aufgefordert, „sicherzustellen, dass seine Systeme zur Arbeitslosenhilfe die Rechte des Individuums zur freien Annahme einer Beschäftigung seiner oder ihrer Wahl ebenso wie das Recht auf angemessene Entlohnung“ respektieren.
In der bundesdeutschen Politik allerdings zeigt dies kaum Wirkung. Am 26. April 2012 kam es im Deutschen Bundestag zu einer namentlichen Abstimmung über einen Antrag der Fraktion DIE LINKE. über die Abschaffung der Hartz IV-Sanktionen. Aus der SPDFraktion gab es fünf Enthaltungen, bei den Bündnisgrünen 62 – mit Ausnahme der LINKEN (und einer Ablehnung durch eine_n Bündnisgrünen) stimmten alle anderen für die Beibehaltung der Sanktionen. „Wer nicht spurt, kriegt kein Geld.“ – Das bleibt die Haltung der SPD. Parteichef Sigmar Gabriel lehnte im April 2013 strikt die Forderung der Grünen ab, im Fall eines Regierungswechsels im September Sanktionen für unwillige Langzeitarbeitslose auszusetzen, bis die Vermittlung in den Job-Centern verbessert wird. „Das ist mit uns nicht zu machen“, sagte Gabriel der Süddeutschen Zeitung.
So bleibt zunächst nur die Hoffnung auf ein Erstarken der Erwerbsloseninitiativen und der sie unterstützenden Wohlfahrtsverbände und parlamentarisch wenigstens die Stärkung einer linken Opposition, die in der Chefin der Linkspartei, Katja Kipping, eine der entschiedensten Gegnerinnen des Sanktionsregimes hat.
Und: Wehren lohnt sich: Im Jahr 2009 waren beispielsweise 36,2 % der Widerspruchsverfahren und 53,6 % der Klagen gegen Sanktionsbescheide erfolgreich.
Interessante Informationen bietet die Broschüre „Wer nicht spurt, kriegt kein Geld. Sanktionen gegen Hartz- IV-Beziehende. Erfahrungen, Analysen, Schlussfolgerungen“, die zum download im Internet bereitsteht.