Interview mit »Bunt – Sozial – Gerecht«

BILD Hetze gegen Hartz4-EmpfängerDer gemeinnützige Verein »BSG - Celle 2012 Bunt - Sozial- Gerecht e.V.« gibt Erwerbslosen im »Büro« in der Neustadt 52 Tipps zur Selbsthilfe im Umgang mit der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter. Wir sprachen mit Monika und Marcus vom BSG.

??: Celle ist in Niedersachsen Spitzenreiter bei den Sanktionen, vor allem hinsichtlich der Kürzungen für so genannte "Meldeversäumnisse". Wie beratet ihr, wenn Betroffene mit einer solchen Sanktion bei euch auflaufen?

!!: Bei den Meldeversäumnissen sollte zuerst geprüft werden, ob die Einladung den Empfänger überhaupt rechtzeitig erreicht hat. Das ist oft nicht der Fall. Die Einladungen werden manchmal so kurzfristig verschickt, dass sie den Empfänger erst nach dem Termin erreichen. Wichtig: Das Jobcenter darf bei versäumten Meldeterminen keine Leistungskürzungen vornehmen, wenn die Einladung nicht auf dem normalen Postweg angekommen ist. Kann das Jobcenter den Zeitpunkt des Zugangs eines Termins nicht nachweisen, darf keine Sanktion verhängt werden.

??: Könnt ihr euch erklären, wieso Celle gerade bei den Meldeversäumnissen im niedersächsischen Vergleich absoluter Spitzenreiter ist?

!!: Alle Sanktionen werden auch vor dem Hintergrund von Sparvorgaben verhängt, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales über die Bundesagentur für Arbeit den Jobcentern auferlegt. Immer wieder wird das »ehrgeizige« Ziel gesetzt, die existenzsichernden Leistungen zu senken und die Vermittlungsquote in den enger werdenden Arbeitsmarkt zu erhöhen. Vielfach sehen Mitarbeiter nur durch verstärkte Sanktionen die Möglichkeit, diese Zielvorgaben zu erreichen. Die Vermittlungsquote kann ohnehin nur durch den Zwang, zur Annahme ausbeuterischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse erreicht werden. Außerdem sind die Jobcenter nicht in der Lage, ausreichend vernünftige Angebote (Arbeit, Ausbildung, Maßnahmen) zu machen und greifen stattdessen auf das Mittel zur Disziplinierung zurück. Das Jobcenter im Landkreis Celle scheint ein besonderes Interesse daran zu haben, diese Sparvorgaben auch durch Sanktionen zu erfüllen.

??: Es gibt ja auch härtere Sanktionen, die gleich mit Kürzungen von 30 % der Regelleistung beginnen. Um was handelt es sich dabei? Könnt ihr Beispiele aus der Beratungspraxis nennen?

!!: Eine Kürzung um 30 % gibt es, wenn Arbeitslosengeld II-Empfänger sich weigern, eine angebotene Stelle, Arbeitsgelegenheiten oder eine aufgezwungene Maßnahme anzunehmen. Im Wiederholungsfall droht eine Kürzung um 60 %. Beispiele wollen wir hier nicht nennen, weil wir die Beratung absolut vertraulich machen.

??: Wie können sich Betroffene wehren?

Hartz 4 Sanktionen verstoßen gegen Art. 20 GG!!:. Bei der Verhängung von Leistungskürzungen muss eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung vorangehen. Es reicht also nicht aus, wenn der Sachbearbeiter schreibt, dass bei Pflichtverletzungen Sanktionen drohen. Die Belehrung zu den Rechtsfolgen muss je Einzelfall konkret, verständlich und ausreichend begründet erfolgen. Ansonsten ist die Verhängung von Strafen nichtig und der Leistungsbezieher sollte Widerspruch gegen den Sanktionsbescheid einlegen. Zu der Rechtsfolgenbelehrung gab es bereits Urteile vom LSG Hamburg (Az. L 5 AS 78/09 vom 18.08.2010) sowie SG Gießen (Az. S 29 AS 676/11 vom 14.01.2013).

??: Bei Jugendlichen unter 25 Jahren können die Sanktionen besonders hart sein. Da können sich die Kürzungen ja auch bis in die Kosten der Unterkunft hinein auswirken. Wie ist da der Ablauf? Und andere Frage: Welche Möglichkeiten der Beratung habt ihr da in der Beratung?

!!: Weigert sich ein junger Arbeitsloser unter 25 Jahre z.B., eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit aufzunehmen, wird die Regelleistung für die Dauer der Sanktion ganz gestrichen. Lebensmittelgutscheine können beantragt, müssen aber nicht genehmigt werden. In diesem Fall werden lediglich die Kosten für Unterkunft und Heizung übernommen und regelmäßig direkt an den Vermieter gezahlt. Bei über 25-Jährigen kann eine Nullsanktion bei der dritten Pflichtverletzung verhängt werden. Ob die Betroffenen schuldhaft gehandelt haben oder nicht: Im Sanktionsfall wird die ganze Bedarfsgemeinschaft bestraft - die Familie wird in Sippenhaftung genommen. Die Sicherung der Existenz wird nahezu unmöglich, Miet- und Stromschulden laufen auf. Ist die Sanktion bereits verhängt, dann gilt es zu prüfen, ob der Betreffende einen wichtigen Grund für sein Verhalten hatte, der eine Sanktion ausschließt. Und: Selbst wenn die Sanktion vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt sein sollte, empfehlen wir die rechtliche Gegenwehr. Schließlich ist die Härte der Strafen nicht verfassungsgemäß. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.

??: Was geht unterhalb der gerichtlichen Auseinandersetung?

!!: Ganz praktisch kann bei 18 bis unter 25 Jährigen die Sanktionszeit von drei Monate auf sechs Wochen reduziert werden. Erklärt sich der Bestrafte nachträglich bereit, seine Pflichten (zukünftig) erfüllen zu wollen, können in der 2. Sanktionsstufe die KdU (Kosten der Unterkunft) wieder an den Vermieter gezahlt werden. für ab 25-Jährige gilt: Der vollständige Leistungsentzug kann in eine 60-%-Kürzung umgewandelt werden, wenn sich der Bestrafte nachträglich bereit erklärt, seine Pflichten (zukünftig) erfüllen zu wollen. Diese Abmilderungen der Strafe liegen aber im Ermessen des Jobcenters. Gibt es kein Entgegenkommen, hilft nur noch der Gang zum Anwalt und das sollte man auch zwingend tun.

??: Bundesweit gibt es ja einige Initiativen, z. B. das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium. Was sind da die Forderungen?

!!: Schon vor Jahren haben wir uns dem Bündnis für ein Sanktionsmoratorium angeschlossen, weil wir Sanktionen für grundrechtswidrig halten. Deshalb zitieren wir hier aus dem Aufruf für ein Sanktionsmoratorium vom August 2009: „Sanktionen sind Strafen ohne Gerichtsverhandlung. Offiziell gelten sie als sozialrechtliche Maßnahmen, nicht als "Strafe". Strafen gehört zum Strafrecht, und dort gibt es ordentliche Gerichtsverfahren mit dem Gelten der Unschuldsvermutung bis zur letzten Instanz. Der Sanktionierte hingegen wird durch bloßen Entscheid eines Angestellten mit Geldkürzungen bis hin zum völligen Entzug des Existenzminimums bestraft. Nicht Richter verhängen die Sanktion, sondern Job Center-Angestellte [...] Der gegenwärtige Sanktionsparagraf muss grundlegend überdacht werden. Dazu gehört auch, die sozialen Grundrechte mit Leben zu erfüllen, und ein prinzipielles Überdenken des Verständnisses von Arbeit und der Bedeutung von Erwerbsarbeit. Ein Weg dahin liegt auch in der Neubestimmung des Begriffs der Zumutbarkeit von Arbeit und der schlichten Rückbesinnung auf den Grundsatz der aufschiebenden Wirkung von Widersprüchen.“ Dies alles - die Änderung der Zustände in den Jobcentern und das Überdenken der gegenwärtigen Sanktionsregelungen - braucht Zeit. Währenddessen dürfen Erwerbslose nicht den derzeitig verbreiteten Sanktionspraktiken ausgesetzt werden. Hier kann nur ein sofortiges Moratorium, ein Aussetzten des Sanktionsparagrafen weiteres Leid und weiteren Rechtsbruch verhindern.

??: Die Linke fordert im Leitantrag des Parteivorstandes zum Wahlprogramm 2013 eine "sanktionsfreie Mindestsicherung", die Bündnisgrünen wollen ein Moratorium, bis - wie sie schreiben - "neue faire Regeln etabliert sind"; abschaffen wollen sie immerhin die verschärften Sanktionen für jugendliche Erwerbslose. Bei der SPD findet sich im Wahlprogramm nichts; die scheinen ganz zufrieden mit dem von ihnen eingeführten Sanktionsregime zu sein. Was meint ihr: Wird das Thema überhaupt eine Rolle spielen im Wahlkampf?

!!: Vor den Wahlen erinnern sich alle Parteien plötzlich wieder an die sozial benachteiligten Wähler. Selbst die niedersächsische Sozialministerin Cornelia Rundt (SPD) fordert ein Aussetzen der Strafen gegen Hartz-IVEmpfänger. "Die neuen Zahlen belegen, wie dringend wir ein Moratorium oder vergleichbare Maßnahmen brauchen", erklärte sie gegenüber der HAZ. Nach den Wahlen sind Themen wie Mindestlohn von 10 € (außer von der Partei Die Linke), der Gleichstellung von Leiharbeit, Aufstocker, geringes Rentenniveau usw. leider schnell wieder vergessen ... In eigener Sache möchten wir auf den Blog von Inge Hannemann, einer Arbeitsvermittlerin des Jobcenters Hamburg, die öffentlich auf die Missstände aufmerksam macht, hinweisen.

Von diesen Mitarbeitern wünschen wir uns viel mehr, in allen Städten besonders auch in Celle.