Interview mit LIST zum Earth Overshoot Day

Die Gruppe LIST hat am 1. August vor der Volksbank auf der Stechbahn eine kleine Aktion zum „Earth Over-shoot Day“. Wir haben nachgefragt, was es mit diesem Tag auf sich hat.

??: Warum habt ihr eure Flyer eigentlich vor Volksbank und Sparkasse verteilt?

!!: Wir haben auf unserem Flyer das Motiv aufgenommen, dass die Menschheit ab diesem Tag bildlich gesprochen „auf Kredit“ lebt oder anders gesagt: Wir in den Dispo gehen. Deshalb vor Banken, einen drüber hinausgehenden Zusammenhang gibt es nicht.

??: Erklärt bitte mal den „Earth Overshoot Day“.

!!: Es bedeutet soviel wie „Erdüberlastungstag“. Es gibt als anderen Begriff „Ecological Debt Day“, das lässt sich besser übersetzen als „Ökoschuldentag“. Es geht darum, dass die Menge der global verfügbaren natürlichen Ressourcen ins Verhältnis gesetzt wird zur Nachfrage bzw. zum Verbrauch. Und die Nachfrage hat die Kapazität der Erde zur Erneuerung der Ressourcen in diesem Jahr am 1. August überschritten. Das heißt, wir beleihen die Zukunft. Und weil wir nichts zurückzahlen können, geht’s vor allem auf Kosten künftiger Generationen. Denn es gibt eben keinen zweiten Planeten, den wir plündern könnten.

??: Um welche Ressourcen geht es beim Earth Overshoot Day?

!!: Die Kennzahlen sind festgelegt vom Global Footprint Network, einer Non-Profit-Organisation im Umweltsektor. Es geht z.B. um Abholzung der Wälder, Rückgang der Artenvielfalt, Überfischung – also um „erneuerbare“ Biokapazität. Bei Treibhausgasen geht es um jenen Anteil, der über die Abbaufähigkeit von Wäldern und Ozeanen anfällt.

??: Jetzt sind „die“ Menschen aber in sehr unterschiedlicher Weise beteiligt. Das blendet der symbolische Tag aus. Was sagt ihr dazu?

!!: Wir haben auf unserem Flyer darauf hingewiesen, dass der „Earth Overshoot Day“ auf Deutschland bezogen schon am 2. Mai war. Auf der Homepage des Global Footprint Network finden sich Vergleichszahlen für alle möglichen Länder. Aber klar, die früh-industrialisierten Länder auf dem Planeten sind am Ressourcenverbrauch auf allen Ebenen vorn. Und auch auf die Bevölkerung in Deutschland geschaut, ist es so, dass die wohlhabenderen Schichten trotz der Anschaffung von energieeffizienteren Geräten und dem Kauf von Bio-Lebensmitteln einen deutlich schlechteren ökologischen Fußabdruck haben als Normalverdiener*innen und die eben auch nochmal schlechter abschneiden als einkommensschwache Schichten. Das liegt zum Beispiel einfach an Flugreisen, insgesamt an unterschiedlichen Formen der Mobilität, aber auch an dem pro Kopf in der Regel deutlich größeren Wohnraum.

??: Daraus könnten wir jetzt den Schluss ziehen, dass es für die Menschheit besser wäre, wenn alle leben würden wie Menschen in Albanien oder Hartz IV-Empfänger*innen in Deutschland.

!!: Das wäre die falsche Schlussfolgerung. Der Kern einer fortschrittlichen Kritik besteht zunächst in einem Gerechtigkeitsanspruch. Die Nachhaltigkeitsdefinition des sogenannten Brundtland-Berichts, also dem 1987 von der UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung verabschiedeten Bericht „Our Common Future“, will inter- und intragenerationellen Gerechtigkeit. Es geht um Gerechtigkeit zwischen den heute gleichzeitig lebenden Menschen (intragenerationell) und der Gerechtigkeit zwischen der heutigen und künftigen Generationen (intergenerationell). Einfach gesprochen geht es also um Gerechtigkeit in den Dimensionen Raum und Zeit.

??: Trotzdem. Wer Ressourcen nicht verbrauchen will, muss verzichten, oder?

!!: Ja und nein. Beispiel Lebensmittel: Selbstverständlich muss sich in Deutschland jede und jeder Bio-Lebensmittel leisten können, nicht wegen der Gesundheit, sondern weil Böden und Artenvielfalt so besser erhalten werden. Auf der anderen Seite ist eine deutliche Verringerung des Fleischkonsums unumgänglich. Oder nehmen wir den Bereich der Mobilität: Wer von Celle nach München will, kann diese Absicht hinsichtlich des Ressourcenverbrauchs in sehr unterschiedlicher Weise verwirklichen. Der Flug von Hannover aus ist ökologisch eindeutig belastender als die Fahrt mit der Bahn. Fliegen ist die eindeutig schädlichste Fortbewegungsart. Und deshalb ist aus unserer Sicht hier ein Verzicht angebracht. 80 Prozent der Menschen auf diesem Planeten sind noch nie geflogen, die anderen 20 Prozent beteiligen sich gerade in nicht unbeträchtlichem Maß an der Klimakatastrophe. Hier geht es aus unserer Sicht dann schon um die Infragestellung der imperialen Lebensweise.

??: Noch ein neuer Fachbegriff.

!!: Der Rosa-Luxemburg-Club hatte im Frühjahr Burkhard Wissen hier in Celle, der zusammen mit Ulrich Brand diesen Begriff entwickelt hat. Es geht vereinfacht gesagt darum, dass das Alltagshandeln von Menschen in den früh-industialisierten Ländern in Strukturen eingebettet ist, die sich schwer hinterfragen lassen. So wird ein Wissen darum verstellt, dass die Folgen dieses Lebensstils einerseits externalisiert, also in die Länder des Südens verlagert werden, andererseits dieser Lebensstil nicht im Weltmaßstab verallgemeinerbar ist. So gesehen ist die Selbstverständlichkeit, mit der viele frische Abiturient*innen meinen, alle Kontinente der Erde besuchen zu können, neo-kolonial unterfüttert und in letzter Konsequenz auch rassistisch.

??: Sie müssten also zum Verzicht gezwungen werden?

!!: Nein und Ja. Sie sollten sich – mit Harald Welzer gesprochen – fragen: Wer wollen wir gewesen sein? Jene Generation, die weiter kräftig an der Klimakatastrophe mitgearbeitet, oder jene, die sich der Frage der Gerechtigkeit konsequent gestellt hat. Und nebenbei: Angerichtet haben das nahende Desaster die Nachkriegsgenerationen in den früh-industrialisierten Ländern, die beim Wunsch, ihren Kindern solle es besser gehen als ihnen, nicht an radikale Arbeitszeitverkürzung denken, sondern an ein mehr an Konsummöglichkeiten. - Aber klar, genauso wie ein rascher Kohleausstieg per Gesetz her muss, könnten auch Inlandsflüge gesetzlich verboten werden. Und, auch wenn der Gedanke wie Öko-Diktatur daherkommt, für einen Langstreckenflug sollte man/frau schon einen sehr überzeugenden Grund haben: „Ich war noch niemals in New York ...“ darf da nicht mehr ausreichen.

Die Gruppe LIST trifft sich jeden 2. Mittwoch im Monat, 17 Uhr im Bunten Haus – Infos über Aktionen finden sich auf dem Blog: http://list-celle.over-blog.com/