Kreisverwaltung senkt Mietobergrenze für Hartz IV-Empfänger*innen

Panik geht um in vielen Hartz IV-Haushalten im Landkreis Celle. Sie sollen umziehen, weil ihre Mieten nicht „angemessen“ sind. Die Alternative: Sie zahlen die Miet-Lücke aus ihrem Regelsatz.

Anfang Januar setzte der Landkreis Celle eine neue Mietwerttabelle in Kraft. Diese spiegelt die Angemessenheitsobergrenzen, d.h.: Teurer als die dort angegebenen Beträge darf die Miete nicht sein. Das Ganze ist dann differenziert nach Haushaltsgrößen und Vergleichsräumen. Eine Wohnung in Celle darf also mehr kosten als eine in Lachendorf, und ein Vier-Personen-Haushalt darf höhere Wohnkosten haben als ein Zwei-Personen-Haushalt.

Das völlig Überraschende bei der neuen Mietwerttabelle ist: Das Wohnen in Stadt und Landkreis Celle soll im unteren Segment billiger geworden sein. Einige Beispiele:

In Celle bekommt ein Ein-Personenhaushalt nur noch 380 statt wie bisher 410 Euro Miete (inkl. der kalten Nebenkosten) ersetzt.

In Hermannsburg sinkt die Obergrenze für einen Ein-Personenhaushalt von 456 auf nur noch 364 Euro, ein Minus von 92 Euro oder 20 Prozent.

Ein Zwei-Personenhaushalt in Celle bekommt die Miete statt bis zu einer Obergrenze von 458 die Bruttokaltmiete nur noch bis zu 410 Euro erstattet.

Ein Fünf-Personenhaushalt in Wietze hat jetzt eine Obergrenze in Höhe von 591 Euro statt 638 Euro.

Was passiert, wenn die aktuelle Miete über den neuen Obergrenzen liegt? Die Personen oder Familien – im Amtssprech: Bedarfsgemeinschaften – erhalten eine Kostensenkungsaufforderung. Das Jobcenter im Landkreis Celle fordert die Betroffenen auf, sich in den nächsten sechs Monaten eine Wohnung zu suchen, deren Miete unterhalb der Obergrenzen der neuen Mietwerttabelle liegt. Bis dahin wird die alte Miete weitergezahlt – vorausgesetzt, es können die Bemühungen zur Suche einer günstigeren Wohnung nachgewiesen werden. Wenn dieser Nachweis nicht gelingt, kann gekürzt werden. In der Regel dürfte dies aber nach spätestens nach sechs Monaten der Fall sein.

Was ist die gesellschaftliche Realität? Kein vernünftiger Mensch wechselt eine Wohnung, in der man/frau sich wohlfühlt oder in deren Umfeld die Kinder einen Freundeskreis haben, weil das Amt künftig 30 oder 50 Euro weniger erstattet. Die Miet-Lücke wird also aus der Regelleistung selbst gezahlt – egal, ob das Geld dann anderswo fehlt.

Im Zusammenhang mit dieser Recherche sind wir darauf gestoßen, dass dies in Stadt und Landkreis Celle im Jahr 2017 für 1.031 Haushalte sowieso schon so war. Das waren 13,4 % aller Bedarfsgemeinschaften. Ihnen wurden monatlich rund 80 Euro weniger als die tatsächliche Miete erstattet. Der Landkreis „sparte“ so 987.000 Euro. Diese katastrophale Situation hatte sich dabei zuletzt sogar Jahr für Jahr entschärft (siehe Tabelle auf der nächsten Seite). Doch jetzt dürfte es einen Rückschlag in die andere Richtung geben.

Verantwortlich dafür ist die Kreisverwaltung, die in einer Arbeitsgemeinschaft als Teil des „Jobcenter im Landkreis Celle“ für die „Kosten der Unterkunft“ zuständig ist. Sie hat bei der Hamburger Firma Koopmann Analytics ein Gutachten in Auftrag gegeben, Titel: „Erstellung eines schlüssigen Konzepts zur Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft SGB II/XII - Methodenbericht 2019“. Auf Grundlage dieses rund 80.000 Euro teuren Berichts sind dann die neuen Zahlen zustande gekommen.

Am 26. Februar 2019 stellte der Chef des Unternehmens diesen Bericht den Mitgliedern des Sozialausschusses des Kreistages vor. Die Mietwerte waren bereits seit dem 1. Januar gültig. Dies hatte Behiye Uca (Die Linke) schon vor der Ausschusssitzung kritisiert. Sie forderte einen Bestandsschutz, mit dem Zwangsumzüge verhindert würden. Doch ihr Antrag erhielt genauso wenig eine Mehrheit wie jener der SPD, die ein Gegengutachten einforderte, oder jener mit dem die FDP überraschte. Die (Neo-)Liberalen hatten nicht nur beantragt, die alte Tabelle wieder in Kraft zu setzen, sondern diese sogar noch mit einem 10 %-igen Aufschlag zu versehen (wegen Inflationsausgleich).
Die Kreisverwaltung vertrat im Übrigen die Ansicht, dass „die Politik“ das Ganze nichts angehen würde – es sei Teil der laufenden Verwaltung. Auf den nächsten beiden Seiten werden wir das Thema für Interessierte noch weiter auffächern.

Hunderte Betroffene zahlen schon jetzt selbst drauf statt umzuziehen


Einige hundert Familien dürften in den letzten Wochen Post vom Jobcenter im Landkreis Celle bekommen haben. Im Betreff: „Kostensenkungsaufforderung – Anhörung“. Mitgeteilt wird zum Beispiel:

„Ab 01.01.2019 haben sich die Angemessenheitsgrenzen der Kosten der Unterkunft verändert (Wohnungsmarktgutachten).“ Dann kommt viel Allgemeines, bevor es irgendwann auf der zweiten Seite heißt: „Ihre Kosten der Unterkunft (ohne Heizkosten) belaufen sich derzeit monatlich auf insgesamt xxx Euro. Für einen Zwei-Personenhaushalt liegt der Höchstbetrag nach der bereits erwähnten Mietwerttabelle jedoch nur bei 410,00 Euro.“ Und auf Seite Drei wird über die Konsequenz belehrt: „Es können daher ab dem 01.09.2019 nur noch die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung berücksichtigt werden. Nach Ablauf der Übergangsfrist müssen Sie ggf. den unangemessenen Teil selbst bezahlen.“ Die Betroffenen werden darauf hingewiesen, dass sie sich "umgehend" darum bemühen müssten, „unangemessen hohe Kosten zu senken.“

Haben Sie es beim ersten Lesen verstanden? Oder anders gefragt: Können Sie sich vorstellen, dass Menschen, die vor vier Jahren aus Syrien oder Afghanistan gekommen sind, problemlos verstehen, worum es geht?

Aber wer es versteht, wird in Panik geraten. Denn es steht eine Entscheidung an: Entweder sich eine Wohnung zu suchen, die im behördlichen Mietspiegel als „angemessen“ ausgewiesen ist, oder künftig die Miet-Lücke aus der Regelleistung zu bezahlen.

Betroffen sind Menschen, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV), Sozialgesetzbuch XII (Grundsicherung im Alter) oder dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLg) bekommen. Die Diskussion darüber, dass die Regelleistung zu niedrig ist, wird aktuell gerade wieder intensiver geführt. Sozialgerichte problematisieren seit längerem, dass es sich bei den gezahlten Beträgen um das Existenzminimum handelt. Und das bedeutet: Jede Kürzung geht an die Existenz.

Miet-Lücke „spart“ Millionen

Und doch gehört es schon jetzt für über eine halbe Million Bedarfsgemeinschaften zu ihrem Alltag, dass ihnen die Mietkosten nicht voll erstattet werden. Im Jahr 2017 betrug die Differenz rund 560 Millionen Euro, d.h.: Knapp ein Fünftel zahlen aus ihrer Regelleistung rund 80 Euro monatlich bei der Miete dazu. Das ergab eine Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 29.06.2018 („Drucksache 19/2536 - Lücke bei den Wohnkosten im Arbeitslosengeld II“). In dieser Antwort sind auch die Werte für die einzelnen Arbeitsamtsbezirke aufgelistet.

Im Bereich des Jobcenter Celle waren es 2017 genau 1.031 Bedarfsgemeinschaften, die im Jahr fast eine Million Euro aus ihrer Regelleistung zugeschossen haben.

Interessant: Die Zahl der selbst zuzahlenden Bedarfsgemeinschaften ist seit 2013 kontinuierlich zurückgegangen. Vor neun Jahren waren es noch über 1600 Bedarfsgemeinschaften – und damit über ein Fünftel aller Hartz IV-Haushalte. Die zugezahlten monatlichen Beträge bewegen sich seit Jahren zwischen 75 und 95 Euro. Die Tabelle verdeutlicht eine Situation, den den wenigsten Kommunalpolitiker*innen so bekannt sein dürfte.

Fast acht Millionen Euro haben Hartz IV-Empfänger*innen im Landkreis Celle in den Jahren 2012 – 2017 zu ihren Mieten zugeschossen. Vor diesem Hintergrund ist es sicher keine gänzlich absurde These zu behaupten, dass der Landkreis Celle mit seiner neuen Mietwerttabelle die jährlich eingesparten Ausgaben wieder über die Millionenschwelle bringen will. Warum? Nur etwa 35 – 40 % der Kosten werden durch den Bund erstattet.

KdU – Ärger von Beginn an

Von Beginn des Hartz IV-Zeitalters an sind es die „Kosten der Unterkunft“ – wie im Gesetz für Miete und Heizkosten genannt werden –, die am häufigsten die Sozialgerichte beschäftigen. Das hat den einfachen Grund darin, dass nicht Pauschalen gezahlt werden, sondern nach „Angemessenheit“ erstattet wird. Und darüber lässt sich trefflich streiten, weil es sich um einen „unbestimmten Rechtsbegriff“ handelt.

Grundlage für die Frage der „Angemessenheit“ ist im besten Fall ein „Mietspiegel“. Den aber gibt es praktisch nur in Großstädten. Ersatzweise können Jobcenter mit sogenannten Mietwerttabellen operieren, an die Gerichte die Anforderung eines „schlüssigen Konzepts“ stellen. Wo es weder das eine noch das andere gibt, ist die Wohngeldtabelle der Maßstab, der herangezogen wird. Diese wird vom Bund für die Berechnung von Wohngeld erstellt. Und da die Tabelle der Wirklichkeit immer etwas hinterherhinkt, nehmen die Gerichte die Werte der Wohngeldtabelle plus 10 Prozent.

Die Celler Kreisverwaltung operiert seit 2009 mit einer Mietwerttabelle. Damit ist sie zwar immer wieder vor Sozialgerichten aufgelaufen und musste am Ende die in der Regel besseren Werte der Wohngeldtabelle (plus 10 Prozent) zahlen. Aber eben nur an jene, die in ein Klageverfahren gehen. Denn: Bevor es zu richtungweisenden Urteilen durch das Landessozialgericht kommen konnte, stimmte die Kreisverwaltung im Einzelfall zu.

„Schlüssiges Konzept“ erforderlich

Zur rechtssicheren Gewährung der Bedarfe der Unterkunft (KdU) (Bruttokaltmiete und Heizkosten) muss der Leistungsträger laut der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts über ein schlüssiges Konzept verfügen. Für ein solches Konzept hat die Kreisverwaltung die Hamburger Firma Koopmann Analytics beauftragt.

Ausgangspunkt der Analyse muss eine statistisch transparent ausgewertete Mietwerterhebung sein. Dafür müssen sogenannte „Vergleichsräume“ gebildet werden (siehe in der Tabelle die drei „Regionen“). Über eine Befragung von Wohnungsbaugesellschaften und Vermie-ter*innen (freiwillig) wurden Bestandsmieten ermittelt sowie Mietangebote ausgewertet.

Am Ende kam eine Tabelle heraus, die die „Mieten im einfachen Wohnungsmarktsegment“ abbilden soll. Die Werte (siehe die Tabelle unten) sind in keinem Fall höher als 2017 und in gerade mal zwei Fällen unverändert. Besonders gravierend sind mit 10 – 25 % die Absenkungen im Bereich der Wohnungen für Haushalte mit sechs und mehr Personen ausgefallen. Mit einer Senkung um 25 % sind zudem alle Ein-Personenhaushalte im Nordkreis massiv betroffen.

Kritik ohne Mehrheit

Auf welch tönernen Füßen das Gutachten von Koopmann Analytics steht, machte in der Sozialausschusssitzung Wolfgang Pauls (SPD) deutlich. Er wies darauf hin, dass der wichtigste Baustein für die „Schlüssigkeit“ nicht erreicht sei. Koopmann Analytics hatte zwar einen Ausgangsbestand von 4.421 Bestandsmieten, was nach eigener Berechnung rund 13 % der Mietwohnungen im Landkreis abbildet. Letztlich flossen aber nur 2.562 Mieten in die Auswertung ein, u.a. weil die Gutachter über 1000 Wohnungen herausnahmen, weil sie keine Sammelheizung hatten. Für die Gutachter ist dies ein Sub-Standard, weil sie davon ausgehen, diese Angabe der Vermieter beziehe sich auf Ofenheizungen – wer den Celler Mietwohnungsmarkt kennt, weiß, dass es das in der Dimension hier nicht mehr gibt. Es ist eher von einem Missverständnis bei der Beantwortung der Frage durch die Vermieter auszugehen. Fakt ist aber, dass damit ein wesentliches Kriterium des schlüssigen Konzepts nicht erreicht wurde. Das Bundessozialgericht meint, schlüssig sei ein Konzept nur, „wenn die Datenbasis auf mindestens 10 % des regional in Betracht zu ziehenden Mietwohnungsbestandes beruht“. Das hat Koopmann Analytics mit seinem letztlich verwandten Datensatz deutlich verfehlt.

Behiye Uca (Die Linke) forderte einen Bestandsschutz. Sie argumentierte, dass doch nicht Familien zum Umzug aufgefordert werden dürften, denen einmal amtsseitig bescheinigt worden sei, ihre Miete sei angemessen. Im Sozialausschuss fanden aber Anträge von Pauls, ein Gegengutachten einzuholen, sowie der Bestandsschutz-Antrag von Behiye Uca keine Mehrheit.

Wie sich wehren?

Die Betroffenen haben ein Problem: Gegen die Kostensenkungsaufforderung kann kein Rechtsmittel eingelegt werden. Dies ist erst möglich, wenn die Kürzung erfolgt ist. Folgendes Vorgehen ist deshalb sinnvoll:
Die „Wohnungssuche“ muss dokumentiert werden, d.h.: Zeitung kaufen und Immo-Scout beobachten und notieren: Wann habe ich auf welches Angebot hin angerufen.

In den Bescheiden gibt es die Aufforderung, diese Nachweise jeden Monat beim Jobcenter einzureichen. Wir sind der Auffassung, dass dies rechtswidrig ist und Nachweise erst nachträglich erbracht werden müssen, wenn nach sechs Monaten keine Kostensenkung erfolgt ist.

Wie lange das Jobcenter dieses Spiel treiben will, bleibt abzuwarten. Sollte trotz aller dokumentierten Bemühungen eine Kürzung erfolgen, muss ein Widerspruch eingelegt werden – und nach Möglichkeit mit der Hilfe einer Beratungsstelle eine einstweilige Anordnung beim Sozialgericht angestrengt werden.

Besser aber wäre selbstverständlich, wenn Proteste und Kritik aus dem Kreistag die Verwaltung zumindest zu einem Bestandsschutz veranlassen würde, d.h.: Niemand soll wegen der neuen Tabelle umziehen müssen.