Über den Schriftsteller HANS PLESCHINSKI und Celle - von Oskar Ansull

 

Ich binde den Schuh wie ein Elf.

Bildnis eines Unsichtbaren 2002

 

Eine Geschichte zu erzählen

 

Ich lernte in Celle Heimweh und bittere Verlorenheit kennen.

Celler Seligkeiten 2002

 

Diesem Schriftsteller verdankt Celle eine Liebeserklärung und einige treffende Bemerkungen obendrein, die er in der Süddeutschen Zeitung [7.5.2002] und später auch im Brevier „Verbot der Nüchternheit“ [2007] veröffentlicht hat. Laut PLESCHINSKI befindet man sich in Celle „an einem verdeckten Knotenpunkt der Welt“, eine Feststellung, die RWLE MÖLLER sofort unterschrieben hätte. In erfrischender Kürze durchzieht der Autor die Knotenpunkte der Celler Welt, dass selbst griesgrämige Cellerzerknirscher lächeln müssen: „Die Königin der Heide.“ – „Fachwerkjuwel an der Aller.“ – „Als Kind wollte ich meistens in London oder in Celle wohnen.“„… um 1965 wurde das Wort ‘Schloß‘ für mich zum Schlüssel für Kultur, Lebensart und erstrebenswerte Zivilisation. Das Celler Schloß […] Aus einem flüchtigen Besuch entwickelte sich Bleibendes.“„Um über die hirnlos-destruktive Vaterlandsvergötzung auf dem Laufenden zu bleiben, hat die ‘Antifaschistische Infogruppe Celle‘ ihre Internetseiten eingerichtet.“„Albrecht Thaer war ein frischer, praktischer Geist der Goethezeit.“ usw. Kurz: er stellt pointiert fest: „Wer in Celle nichts sieht, sieht auch woanders nichts.“ Schließlich überlegt er, warum er lange Zeit in Celle leben wollte.

Warum rührt mich die Stadt unvermindert an? Sie ist ein Platz der Kindheit. Sie war meine große Welt, die nicht erschlagend war. Die liebevolle Mühe, unser flüchtiges Dasein zu schmücken, drückt sich in den Akanthusschnitzereien der Häuser und in der Stukkaturenorgie in der Hauptkirche aus. Die Stadt birgt weiterhin Geheimnisse.

„Man wird unter den heute Vierzig- bis Sechzigjährigen selten einen deutschen Schriftsteller finden“, erkennt die Schriftstellerin SIBYLLE LEWITSCHAROFF im Nachwort zu „Verbot der Nüchternheit“, „der so fürsorgliche Blicke auf seine Heimatregion wirft.“ Doch er täuscht sich nicht und lässt sich nicht täuschen, wenn er seiner Liebeserklärung noch hinzufügt:

Celle ist ein Rest des malerischen Deutschland, ein europäischer Geschichtsvorrat, heimelig, in unguten Fällen muffig, geizig, boshaft. Es kann sich deutsch-venezianisch-englisch geben und eine Aufforderung an Fremde und Einwohner sein, solchem Reichtum zu entsprechen.

 

Über Abgründe

 

Man muss Geschichten erfinden,

die über den Abgrund führen.

Bildnis eines Unsichtbaren 2002

 

Es gibt schon lauernde Abgründe anzuzeigen, etwa in „Die Ostheide, das tolle Nichts“ [2003] benennt er einen davon beiläufig: „Wer an Heimat denkt, macht ein Fass auf, aus dem es zuerst tröpfelt. Dann ersäuft man unter den Fluten.“ Doch seine erste Geschichte über einen Abgrund erlebt der spätere Autor bereits im embryonalen Zustand. Eine spezielle Heimatdurchfahrt auf dem Weg vom Zonenrandgebiet (Wittingen) zu seiner Geburts(stadt) Celle und ohne zu ertrinken.

Der junge Autor leistet Mitte der 1970er Jahre seinen Zivildienst „in einem Altenheimneubau am Celler Waldrand“ ab. Ausführlich in seinem autobiographischen Roman „Bildnis eines Unsichtbaren“ [2002] erzählt. Dies Buch erzählt auf leichte Weise eine tief berührende Liebesgeschichte, die Leben und Tod des Gefährten über den Abgrund balanciert. In dem besagten Altenheimneubau am Waldrand serviert als Aushilfe eine „Frau Bargfeld“, der er seine Geburtsgeschichte haarklein erzählt. Ein wenig scheint sich der junge Autor vom älteren Kollegen in Bargfeld anfangs abgeguckt zu haben, ohne ihn nachzuahmen. Ach ja, als Fahrschüler fährt HANS später in Zügen der OHE, „der Osthannoverschen Eisenbahn, deren Waggons aus dem Jahre 1904 stammten. Jedes Abteil besaß eine eigene Tür zum Perron.“

Der Schriftsteller betritt 1984 mit „Frühstückshörnchen“ (Satiren) das zweifelhafte Gelände der Literatur, das Abgründe in allen tiefen und Preislagen bereithält, ja, die abgründigsten Abgründe Suchenden geradezu hinterlistig einlädt. In den verklammerten Unter- oder Nebentiteln seiner folgenden Bücher – „Gabi Lenz. (Werden & Wollen. Ein Dokument)“; „Nach Ägyppten (Ein moderner Roman)“ – macht er sich unterhaltsam und munter fabelnd lustig über die eher nach Innen gewandte Literatur seiner Kolleginnen und Kollegen im Betrieb.

Der neue Ton, der mich dann weiter auch geprägt hat, war vielleicht eine gewisse Frechheit, Lebenslust und um sich nicht dem deutschen Jammergehabe hinzugeben. Das war neu und für mich ein inneres Anliegen, nicht in dieses deutsche Dauerlamento einzustimmen. […] Mir ging es immer darum, eine Geschichte zu erzählen, etwas auch zu erfinden, glaubhaft zu erzählen, viel Welt einzubeziehen und vor allen Dingen auch Historie wachzurufen.

HANS PLESCHINSKI im Gespräch, am 23.5.2016 (Deutschlandfunk).

 

Das sichtbare Nichts

 

Die Historie des Mittelalters erweckt er in „Pest und Moor“, aber noch lieber geht er ins Barock, von dort erzählt er in „Der Holzvulkan“. Er fabuliert vom „exquisiten Größenwahnsinnigen“ Herzog Anton Ulrich in Braunschweig und Wolfenbüttel, der 1714 mit 81 Jahren starb. Der Erzähler, Charles, kommt im Nieselregen aus Berkeley in Kalifornien mit einem sich in Hamburg zugelegten schrottreifen Opel in der Abenddämmerung auf einem leeren Parkplatz im Vorharz an und mit einem merkwürdigen Mann ins Gespräch. Niemand anderer als Lessing oder doch der Herzog selbst, der ihm nach und nach das fürstliche Lustschloss Salzdahlum aus dem Nichts imaginiert. Ein Schloss, das einst aus Holz statt Steinen erbaut wurde, in Ermangelung nötiger Finanzen. PLESCHINSKI gelingt es, ein literarisches Kabinettstück zwischen den Einöden Harz und Heide einzurichten. Spielerisch erscheinen, während sich die gegen den Regen Beschirmenden vom Parkplatz hügelabwärts in die feuchten Niederungen zwischen Sumpf, Kuhfladen und Baumstümpfen bewegen: Herzog Anton Ulrich, die Dichter Christian Bressand und Sigmund von Birken, Lieselotte von der Pfalz, auch der Universalist Leibniz, dazu Musik, Ballett und Fackeltänze. Es entfaltet der Erzähler verschwundene, opulente Pracht. Er kommt auch auf den Schlüsselroman des Herzogs, auf „Octavia“ zu sprechen, in dem dieser unter Decknamen die grausame Liebesgeschichte der Herzogtochter SOPHIE DOROTHEA verbirgt, wo er die Prinzessin von Ahlden [de jure Königin von England] als Eponilla auftreten lässt. PLESCHINSKI fährt mit dem „Holzvulkan“ (ein kleiner Roman, verfasst als überlanger Brief, den ein Charles nach Berkeley in die USA schreibt), das ist sowohl das Schloss als auch ein Abbild des Alongeperückengeschmückten, des Jupiters aus Wolfenbüttel. Der Autor fährt norddeutsches Barock vom Feinsten auf, das jedoch in der Folgezeit verfaulte und als arg feuchtes Brennholz verbrannte, im Schwelfeuer der Geschichte … aber für den Autor dennoch eine nennenswerte Utopie birgt, in diesem größenwahnsinnigen Anton.

 

Komik & Elend

 

Populär werden HANS PLESCHINSKIS autobiographisch geprägten Romane „Ostsucht“ und „Bildnis eines Unsichtbaren“. Letzter ist in der Münchner Boheme angesiedelt und thematisiert die Trauer um seinen verstorbenen Lebensgefährten. Hier tauchen wieder die Lebens- und Todesmotive der Barockliteratur auf. Wie Zugluft aus „Pest & Moor“ durchzieht es die Abgründe der immer mit brillanter Ironie und erzählerischem Schwung verfassten, immer sehr lesbaren Romane: „Brabant“, „Ludwigshöhe“, „Königsallee“ und „Wiesenstein“. Ihnen allen ist, neben akribischer Recherche, stets Komik & Elend & Glanz & (zuweilen) Ruhm eingeschrieben. In den beiden letzten Büchern beleuchtet er mit analytischem Blick die deutsche Literatur- und Gesellschaftsgeschichte durch ihre bürgerlichen Großschriftsteller als Repräsentanten. Auf der einen Seite der Romanautor THOMAS MANN und auf der anderen der Dramatiker GERHART HAUPTMANN. Dabei nimmt der nach Bayern ins eher lebensfrohe Barock entflohene gebürtige Niedersachse in all seinen Büchern ein Thema nur ganz am Rande auf und er begründet es zu seinem 60. Geburtstag im Gespräch mit HAJO STEINERT: „Ich will mich nicht durch das Dritte Reich identifizieren lassen.“ Obwohl auch der Nachgeborene von den Nachwehen der jüngeren deutschen Geschichte ganz sicher infiziert sein dürfte.

Seine außerordentliche Affinität zum europäischen Adel, sichtbar in den Herausgaben und Übersetzungen aus dem Briefwechsel von Voltaire und Friedrich dem Großen, den Briefe der Jeanne Antoinette Poisson de Pompadour oder im geheimen Tagebuch des Herzogs von Croÿ, geht sicher auf eine Initiation des kleinen HANS PLESCHINSKI zurück, der Mitte der 1960er Jahre mit Oma das Celler Herzogschloss als ein für sich „Bleibendes“ entdeckt hat.

 

Ehrungen

 

Die Ehrungen für das inzwischen umfangreiche und vielfältige Werk bleiben nicht aus. Sie beginnen gleich 1984 mit dem in Frankfurt am Main verliehenen Hungertuch-Preis für die Erzählung „Gabi Lenz“. Zwei Jahre später folgen gleich zwei Preise. Einmal der Bayerische Kunstförderpreis (Literatur) und dann der Literaturförderpreis des Landes Niedersachsen. Damit sind die geographischen Pole zwischen Herkunft und gewähltem Lebensraum klar abgesteckt. Zwischendurch residiert er 2004 als Stadtschreiber von Amman (Jordanien) und 2008 an der Miami University in Oxford (Ohio) als Writer in Residence. 2012 wird er zum Mitglied in die Bayerische Akademie der Schönen Künste berufen (2015 gar zum Leiter der Abteilung Literatur ernannt). Zu der Zeit schmücken ihn schon acht Preise. Und weil dieser Autor gern zwei Auszeichnungen pro Jahr entgegen nimmt, folgt die zum „Chevalier dans l’ordre des Arts et des Lettres“ auch unmittelbar 2012. Zwei Jahre später kommt der Literaturpreis der Landeshauptstadt München hinzu, das löst keine Verwunderung mehr aus, aber der sich hinzugesellende Niederrheinische Literaturpreis stammt doch noch aus einer anderen Gegend. 2019 erscheint hingegen eine besondere Würdigung seiner Arbeit, ein Buch über den Autor, in dem Literaturwissenschaftler, Kollegen, Weggefährten sich zu Wort melden, plaudern und nachdenken über HANS PLESCHINSKI: Kay Wolfinger/Laura Schütz (Hrsg.), „Eleganz und Eigensinn, Studien zum Werk von Hans Pleschinski”, im Verlag Königshausen & Neumann.

 

Ein Elf

 

Eine klitzekleine Stelle ist hier zum Beschluss aus dem „Bildnis eines Unsichtbaren“ von 2002 noch zu erzählen, sie gibt die Tonlage des Romans wieder und beschreibt einen möglichen, wenn auch gewagten Bogen zu HANS CHRISTIAN ANDERSENS Elfen, die jener vor 125 Jahren auf seiner Postkutschenfahrt durch die Lüneburger Heide sich und seinen Lesern imaginierte. PLESCHINSKIS Roman quillt ohnehin nur so über von klassischer Bildung in Literatur, Musik und bildender Kunst, aber protzt nicht damit. Die Atmosphäre, in der die folgende Stelle eingebettet wurde, ist in sich schon ein Anspielungsreich. Der Ich-Erzähler bindet dem durch eine Bandscheibenoperation gehandicapten älteren Freund die Schnürsenkel:

„Zieh nicht am Fuß.“

„Ich ziehe nicht am Fuß. Ich binde den Schuh wie ein Elf.“

„Ein Elf aus Niedersachsen.“

„Sonst hast du keine guten Geister mehr, mein Lieber!“

 

LITERATUR (Auswahl)

Frühstückshörnchen, Satiren. Siegen 1984; Gabi Lenz (Werden und Wollen. Ein Dokument). Zürich 1984; Nach Ägypten (Ein moderner Roman). Zürich 1984; Pest und Moor (Ein Nachtlicht). Zürich 1985; Der Holzvulkan (Bericht einer Biographie). Zürich 1986; Ostsucht. München 1993; Bildnis eines Unsichtbaren. München 2002; Verbot der Nüchternheit. Kleines Brevier für ein besseres Leben. München 2007 .

Der Text von Oskar Ansull ist ein leicht veränderter Vorabdruck aus seinem Buch: "Heimat, schöne Fremde".

 

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 Von wegen "nix los hier"!

 OSKAR ANSULL - Überblick zu meinen Forschungsergebnissen

Lesung, Vortrag und Gespräch

Wer in Celle nichts entdeckt, entdeckt auch woanders nichts, meinte einmal der in Celle geborene Wahlmünchner Hans Pleschinski. Das dachte sich auch Oskar Ansull während der Recherchen zu seinem bisher aufwendigsten - das Celler Land betreffende - Unternehmen.

Er erzählt an diesem Abend von seiner über acht Jahre währenden Arbeit am Buch "Heimat, schöne Fremde", das im November im Wehrhahn Verlag (Hannover) erscheint. Er spricht über Zusammenhänge und Struktur seiner Celle und den Landkreis umfassenden Literaturgeschichte. Ein Modellversuch, das Gebiet von über 800 Jahren Heimatliteratur mal ganz anders als bisher üblich anzugehen.

Bomann-Museum , 1. Oktober 2019, 19 Uhr, Eintritt frei

Ansulls Buch

„ Heimat, schöne Fremde . CELLE Stadt & Land. Literarische Sichtung in vier Teilen“

wird ausliefert ab 15.11.2019 - der Wehrhahn-Verlag bietet das 1088 Seiten dicke Buch bis 15.10.2019 zu einem Subskriptionspreis von 39,00 EUR an, danach kostet es 48 EUR.