Von abgeschriebenen Wahlversprechen zur Verwaltungsdiktatur

Dass Wahlversprechen im Nachhinein gebrochen werden, ist bekannt und üblich. Eine zusätzliche Variante hatte uns 2016 der Oberbürgermeisterkandidat Jörg Nigge vorgeführt. In der revista #81 hatten wir kurz vor der Oberbürgermeisterwahl Plagiate des Kandidaten Nigge aufgedeckt. Viele Ankündigungen in seinem Programm „Celle kann mehr“ waren in großen Teilen wortgleich aus der Wahlkampfbroschüre der damaligen Kölner Oberbürgermeisterin Reker geklaut. So wurden durch Nigge nicht nur die Wähler*innen getäuscht, sondern einfach über das Recht hinweggegangen. Die von Reker geklauten Texte waren von ihr gekennzeichnet durch das Urheberrecht geschützt. Kackfrech wurden die Plagiate seinerzeit als geistiges Eigentum von Dr. Jörg Nigge umetikettiert: „…Werke sind urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung dieser Werke durch Dritte ohne Erlaubnis … ist rechtswidrig und kann rechtliche Folgen nach sich ziehen.“ Reker hatte nichts dagegen und auch 14.134 von den 56.471 Wahlberechtigten fanden es unerheblich und wählten Nigge am 25. September 2016 zum Oberbürgermeister der Stadt Celle.
Nach knapp drei Jahren Amtszeit haben wir uns jetzt mal den Spaß erlaubt, die plagiierten Wahlkampfaussagen mit dem Handeln von Dr. Jörg Nigge zu vergleichen:

Köln ist doch wohl irgendwie anders

Nigge 2016: „Ich lade für die nächsten Jahre alle demokratischen Kräfte zu einer offenen Diskussion mit breiter Beteiligung der Öffentlichkeit ein, um Mehrheiten für gute und zukunftsfähige Lösungen zu finden. Nicht Blockbildung und Hinterzimmer du?rfen entscheidend sein, sondern die besseren Ideen und Argumente.“

Eins hat Nigge bis heute nicht verstanden: Dass auch die bessere Idee eine Mehrheit im Rat benötigt. Und dass dafür die eine oder der andere überzeugt werden muss. Und dass manchmal auch ein Kompromiss zu Mehrheiten führen kann. Nigge scheint all dies nicht zu interessieren. Mal „hoffen“ er und sein Block aus CDU/FDP/Unabhängige auf die AfD (Abgabe der Jugendhilfe), mal auf B '90/Die Grünen (Grundschulstruktur), mal auf die SPD (Grundsteuererhöhung). Damit ist er bis auf Ausnahmen erfolgreich, aber mit konsistenter Politik hat das nichts zu tun.
Auf der anderen Seite bleibt so manches hinter verschlossen Türen: Für die Entscheidung, den Fußgänger- und Fahrradverkehr am Neumarktkreisel mit Zäunen auszugrenzen, bemühte die Verwaltung nur ihre unvergleichliche Weisheit – ohne einen Fachausschuss und damit die Öffentlichkeit zu „konsultieren“. Eine öffentliche Diskussion über den Erhalt der MTV Halle am Nordwall wurde verweigert und der Abriss im vertraulich tagenden Verwaltungsausschuss beschlossen.

Nigge 2016: „Ich werde mich dafu?r einsetzen, dass unsere Stadt gru?ner wird und mit innovativem Umwelt- und Klimaschutz Maßstäbe setzt.“

Wir haben im letzten Heft ausführlich auf das Versagen der Verwaltung aufmerksam gemacht („Kein Grund zur Panik?“). Der größte Widerspruch zu der Wahlkampfaussage ist zweifellos, ein Neubaugebiet nach dem anderen zu beplanen, ohne den Bau-“herren“ energetische Auflagen zu machen, die über den aktuellen Gesetzesstandard hinausgehen. Für die umweltfeindliche Versiegelung gibt es also nicht einmal ein Trostpflaster.

Nigge 2016: „- vor allem bei Neubauprojekten, Fahrradstraßen planen und umsetzen […] - bessere Anbindung der äußeren Stadtteile durch Rad-Expresswege“.

Bei keinem Neubaugebiet hat der Fahrradverkehr bisher eine Rolle gespielt. Und sein persönlicher Einsatz für die Ostumgehung ist eben auch ein Einsatz dafür, eine autobahnähnliche Straße – ohne Radwege wohlgemerkt – durch ein Naturschutzgebiet zu rammen. Die Möglichkeit zu Rad-Expresswegen vom Osten in die Stadt ist nicht Bestandteil der Planung und wird nach Fertigstellung der Ostumgehung praktisch unmöglich.

Nigge 2016: „ Oberste Priorität messe ich der Qualität des Bildungsangebots und dem Elternwillen bei. […] Nicht der Staat, sondern die Familie entscheidet, welchen Lernweg ein Kind gehen soll. Die Beförderungswege der Schulkinder kontinuierlich u?berpru?fen, um Zumutbarkeit zu gewährleisten. Kurze Wege fu?r kurze Beine!“

Die Wirklichkeit sieht so aus, dass die Verwaltungsspitze sich massiv gegen das Zustandekommen einer Ratsresolution gewehrt hat, in der der Wille der Eltern der IGS nach Einrichtung einer gymnasialen Oberstufe unterstützt werden sollte. Und dafür, dass die Beabsichtigte Schließung zweier Grundschulen zur Verlängerung von Schulwegen führt, ist nicht einmal ein Maßband erforderlich. (Mehr dazu im Artikel auf Seite 9.)

Nigge 2016: „in alle städtischen Beschlussvorlagen eine Klimafolgenabschätzung integrieren“.

Da könnte es demnächst im Rat „lustig“ werden – denn immer noch steht die Beratung der Antrags zum „Klimanotstand“ aus. Der verwaltungspraktische Anteil des Antrags besteht genau darin, was Nigge vor vier Jahren bei Henriette Reker abgeschrieben hat. Da wir davon ausgehen, dass wenigstens einige Ratsmitglieder unser Blatt lesen, sagen wir zu dieser erinnernden „Vorlage“ unsererseits mal: Gern geschehen.

Auf die Barrikaden

Die Cellesche Zeitung und insbesondere deren Lokalredakteur Michael Ende dürften Anfang September ein Fass aufgemacht haben. Ist ihnen doch gelungen, die Politik in Sachen Ostumgehung vor sich herzutreiben. Dies vor allem, indem sie eine Pro-Bürgerinitiative promotete, die sich vor allem mit hasserfüllten Parolen gegen den klagenden BUND zusammenschweißte.

Für Oberbürgermeister Nigge, der vordem gern ein Neutralitätsgebot für sich in Anspruch nahm, die Aufforderung, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Am 16. Juli versammelte er alle der Ostumgehung zuarbeitenden Bundes- und Landtagsabgeordneten (CDU, FDP, SPD, AfD) aus Stadt und Land im Rathaus, um – wie es hieß – „den Gordischen Knoten“ durchschlagen zu können. Jörg Bode (MdL, FDP) fand es „gut, dass Nigge als neutrale Instanz die Koordinierung übernimmt.“

Bei der ersten Informationsveranstaltung der „Bürgerinitiative Ostumgehung - Celle jetzt“ im August waren mehrere Ortsbürgermeister, Landrat Wiswe und Nigge als Oberbürgermeister anwesend. Der „neutrale Koordinierer“ Nigge stachelt die emotional aufgeladene Versammlung dazu auf, „weiter Druck aufzubauen und ohne Scheu auf Parteifreunde zu schießen.“ Nigge hatte dann nur noch wenige Tage Zeit, seinen großen Coup einzufädeln, denn am 31. August versammelte sich zum Landesparteitag der Niedersachsen-CDU die Bundes- und Landesprominenz in Celle.

Doch durch die kurzfristige Absage einer für den 29. August angesetzten Ratssitzung konnte die CDU-Stadtratsfraktion ihre Resolution zum sofortigen Weiterbau der Ostumgehung nicht mehr vom Rat der Stadt Celle abstimmen lassen. Verwaltungschef Nigge umging dann einfach den Rat, indem er die CDU-Resolution am 27. August vom nicht öffentlichen tagenden Verwaltungsausschuss beschließen ließ. Öffentlich erklärte er: „Die Resolution ist vom Verwaltungsrat einstimmig angenommen und kommt nicht mehr in den Stadtrat.“ Bei dem CDU-Antrag „gehe es um ein Partei unabhängiges Thema“. Neben den üblichen Mahnungen zur Beschleunigung enthält der Antrag vor allem aber die Aufforderung an den BUND, „zum Wohle unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die eingereichte Klage sofort zurückzuziehen und von weiteren Verzögerungshandlungen endgültig abzusehen.“

Damit war alles vorbereitet für den 30. August: Exklusiv in den Redaktionsräumen der CZ trafen sich die CDU-Politiker Ferlemann (Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium), Althusmann (nds. Wirtschaftsminister), Otte (MdB) und Nigge für ein gemeinsames Foto („historischer Fotomoment“, CZ) mit der Finanzierungsbewilligung für den sofortigen Brückenbau über die B214 in Altencelle. Am Nachmittag entert die CDU-Truppe die Bühne der „BI Ostumgehung - Celle jetzt“, um sich vor den versammelten Demonstrant*innen als alleinige Wegbereiter (Sofortvollzugs-Anordnung mit 92 Mio. Euro Sofortzusage) für den Weiterbau der Ostumgehung in Szene zu setzten. Anschließend beschwerten sich Kirsten Lühmann (SPD) und Jörg Bode (FDP) bitterlich über diese einseitige CDU-Partei-Inszenierung. Nigge konnte es egal sein, bekam er doch am darauf folgenden Tag bei der Krönungsmesse (CDU-Landesparteitag) von AKK und v. d. Leyen die Salbung als König von Celle. Der Parteitag ging noch ein Stück weiter als die Ratsresolution, die der Rat nicht zu Gesicht bekam. Er forderte – auf Antrag der Celler CDU – Einschränkungen im Verbandsklagerecht, um Infrastrukturmaßnahmen zu beschleunigen.

Am 5. September durften sich dann die Hände der beiden Initiatoren der Ostumgehungsdemo (Lohmann und Dommes) bei einem „privaten Treffen“ im Rathaus mit den gesalbten Händen unseres Königs von Celle vereinen.

Dass sich Nigge so eindeutig zum Fürsprecher einer Bürgerinitiative macht, muss vor allem vor dem Hintergrund seines bisherigen Verhaltens verwundern. Erinnert sei kurz an die von den rechtsextremistischen „Patrioten Niedersachsen“ im Juli 2018 angemeldete Demonstration. Seinerzeit erklärte Nigge gegenüber der CZ, dass das Amt des Oberbürgermeisters ein politisch neutrales sei. „Auch eine Stadtverwaltung habe sich in nicht in politische Meinungsbildungsprozesse einzumischen.“ Erinnert sei auch daran, dass den leitenden Mitarbeiter*innen von Bomann-Museum, Stadtarchiv und CD Kaserne nahegelegt worden war, sich nicht mit Nennung ihrer Funktionen an der Initiative „Die Vielen“ zu beteiligen. Kurzum: „Neutral“ hat sich „unser“ Oberbürgermeister bisher vor allem verhalten, wenn's gegen Rechtsextremismus und Rassismus ging. (Nebenbei: In Sachen „Kollerscher Wald“ merkte der OB an, mal wolle sich nicht von Fridays-for-Future-Demos vor sich hertreiben lassen.)

Celle kann vor allem weniger

Nigges zentraler – ebenfalls von Henriette Reker geklauter – Wahlkampfslogan war: „Celle kann mehr“. In den letzten drei Jahren verfolgte Nigge dieses Ziel vor allem mit der Strategie, Celle kleiner zu machen.

Beispiele gefällig? Am Bedeutsamsten war sicherlich die Abgabe fast des gesamten Bereichs der Jugendhilfe an den Landkreis, wobei sich Nigge der AfD-Fraktion als Mehrheitsbeschafferin bediente.

Zum Jahresanfang 2020 gibt die Stadt viele Aufgaben im Rahmen der Sozialhilfe (SGB XII) an den Landkreis ab, weshalb mindestens 14 Mitarbeiter*innen in die Kreisverwaltung wechseln. Die hat zwar auch originär die Zuständigkeit, aber die Stadt zeigte wenig Interesse daran sich die Kosten ersetzen zu lassen, statt den ganzen Bereich abzugeben.

Ohne Ansprache oder Austausch in Ratsgremien verzichtete Nigge auf den Aufsichtsratssitz der Stadt in der AKH-Gruppe. Seine Begründung: „Den mit den Beschlüssen im Kreistag strategisch eingeschlagenen Weg zur Rettung unseres Krankenhauses kann ich nicht mittragen, insofern ist meine Mitarbeit obsolet.“ Was ist denn das für ein Demokratieverständnis? Sich aus einem Gremium verabschieden, weil man in der Minderheit ist? Selbst das Angebot eines beratenden Sitzes ohne Stimmrecht wollte Nigge nicht ausüben, und bekam dafür im Verwaltungsausschuss eine knappe Mehrheit. Künftig ist die Stadtverwaltung und damit auch der Rat in Sachen AKH auf Mitteilungen aus zweiter Hand angewiesen, die sie angesichts der Vertraulichkeit des Aufsichtsrats dann eigentlich gar nicht mehr bekommen kann.

Im Juni 2019 beschloss der Rat mit großer Mehrheit den Beitritt zum Zweckverband Kommunale Datenverarbeitung Oldenburg (KDO) mit dem Ziel, die städtische IT-Infrastruktur durch die KDO betreiben zu lassen. Betroffen sind rund 16 Mitarbeiter*innen, die immerhin so künftig einen anderen Dienstherren haben.

Hier darf jetzt nicht der Eindruck entstehen, dieses „Weniger“ in der Verwaltung sei keine Politik – im Gegenteil: Es ist der Verzicht auf Gestaltungsmöglichkeiten.

Weniger ist – nebenbei – auch das Motto, wenn's um Rats- und Fachausschusssitzungen geht. Waren unter Dirk-Ulrich Mende (SPD) noch 11 jährliche Ratssitzungen die Regel, schrumpft die Zahl seit Nigges Amtsantritt: 9 (2017), 8 (2018), 7 (2019).

Manchmal kann Celle aber auch mehr: Im Januar beschloss der Rat mehrheitlich (gegen die Stimmen von Die Linke/BSG) die Zahlung einer zusätzlichen Aufwandsentschädigungen an den hauptamtlich tätigen Hauptverwaltungsbeamten (d.i. Jörg Nigge) in Höhe von 310 €, an den Herrn Ersten Stadtrat Thomas Bertram in Höhe von 205 € und an den Herrn Stadtbaurat Ulrich Kinder in Höhe von 155 €. Das sind 8.040 € im Jahr – nichts von wirklicher Bedeutung und nichts, was den Herren fehlen würde. Aber behalten wir das mal im Hinterkopf für den Fall, dass irgendwann wieder einer kleinen Initiative eine „freiwillige Leistung“ weggekürzt werden soll.