Die französischen Resistance-Kämpfer Armand Roux und Camille Déletang sind schon 58 Jahre alt, als sie im Februar 1944 an unterschiedlichen Orten in Frankreich von der Gestapo verhaftet werden. Nach Deutschland verschleppt, treffen sie erstmalig im KZ Holzen aufeinander.

Im September 1944 gehören sie zu den ersten Häftlingen, die in dem neu errichteten Arbeitslager bei Eschershausen zum Ausbau einer Stollenanlage gezwungen werden. Hier sind sie mit etwa 500 Häftlingen auf engstem Raum unter desolaten hygienischen Verhältnissen eingepfercht.

Armand Roux ist als Häftlingsarzt eingesetzt und beginnt, heimlich ein Tagebuch zu führen. Camille Déletang ist seit seiner Jugend begeisterter Portraitzeichner. Unter Lebensgefahr zeichnet er in seiner knappen Freizeit Porträts seiner Mithäftlinge und Szenen aus dem Lageralltag. Es gelingt ihm, seine Zeichnungen unentdeckt in einer Mappe zu sammeln.

Anfang April 1945 ist das Lager hoffnungslos überfüllt mit Häftlingen aus dem geräumten Lager Auschwitz und auch das Lager Holzen steht kurz vor der Entdeckung der anrückenden alliierten Streitkräfte. Am 5. April werden etwa 370 Häftlinge vom Lager Holzen auf Güterwaggons verladen und zum KZ Salzgitter-Drütte transportiert, wo schon etwa 2600 Männer und etwa 450 Frauen für den Weitertransport zusammengepfercht sind. Aus geringstem Anlass folgen schwere Misshandlungen oder Tötungen durch die SS-Wache. Déletang muss im überfüllten Lager um sein Leben fürchten, wenn bei ihm seine Mappe mit den Zeichnungen entdeckt wird. Er übergibt sie an den unverdächtigeren Armand Roux, der als Häftlingsarzt gekennzeichnet, „Material“ mit sich führen darf. Roux verstaut die Mappe zusammen mit seinem Tagebuch in einem Brotbeutel.

Die etwa 3400 Häftlinge müssen unter der Bewachung von zweihundert SS-Männern und 34 Aufseherinnen in offene Güterwaggons steigen. Am Abend des 7. April setzt sich der Zug in Richtung Belsen in Bewegung. Am Nachmittag des 8. April werden die Ölförderanlagen bei Nienhagen von Bombern angegriffen. Vom Zug aus beobachten die Häftlinge die gewaltigen Rauchwolken und hoffen auf ihre nahende Befreiung.

Die Bewacher befürchten weitere Bombenangriffe und lassen den Zug nach Celle umleiten. Auf dem Güterbahnhof wird der Häftlingszug gegen 16.00 Uhr abgestellt, weil seine Lokomotive ausgetauscht werden soll.
Während dessen sind Bomber der der 9. U.S. Air Force unterwegs zu einem taktischen Routineangriff zur Unterbrechung von Bahnverbindungen. Damit soll der Vormarsch der 2. Britischen Armee in westlicher Richtung unterstu?tzt werden.

Die erste Welle der Bombenangriffe auf die Gleisanlagen des Güterbahnhofes beginnt um 18:11 Uhr und dauert nur drei Minuten.

Entscheidende Treffer erhält der vordere Teil des Häftlings-Zuges. Bis 19 Uhr folgen noch zwei weitere Angriffswellen. Wieder wird das gleiche Gebiet auf und um die Bahnanlagen in Neuenhäusen/Neustadt getroffen. Für jeden Einzelnen dort bleibt jetzt nur der Kampf um das eigene Überleben. In dieser Ausnahmesituation wird Armand Roux von einem flüchtenden Mithäftling der vermeintlich mit Lebensmitteln gefüllte Brotbeutel mit den Dokumenten und Zeichnungen entrissen.

Wachmannschaften nehmen Flüchtende sofort unter Beschuss. Die meisten Häftlinge flüchten westwärts in Richtung Neustädter Holz. Zu Hunderten stürmen die Elendsgestalten durch die du?nn besiedelte Celler Neustadt und werden brutal von der SS-Wachmannschaft vorangetrieben. Eine Anwohnerin: „Diese Gefangenen waren halb verhungert, du?nn und verletzt. Es war schrecklich. … Ein KZ-Häftling war hingefallen, und einer der Wachen schlug ihn sofort mit dem Gewehrkolben.“ Viele Überlebende berichten, in den Stunden nach dem Angriff auch von älteren Volkssturmmännern und Hitlerjungen verfolgt worden zu sein. Ein Augenzeuge berichtet von der Ermordung dreier seiner Kameraden durch Hitlerjungen auf dem Waldfriedhof.

Mit Einbruch der Dunkelheit wird es ruhiger, doch die damals 22-jährige Slowenin Marija Martin?i? berichtet von einer Schreckensnacht. Zusammen mit einer Gruppe von zwölf jungen Polinnen hatte sie den Kontakt zu den anderen Häftlingen verloren und wird von „deutschen Kriminellen“ und Soldaten angehalten und zum Bleiben aufgefordert. In der Nacht werden alle zwölf Polinnen vergewaltigt.

Am fru?hen Morgen des 9. April durchkämmen bewaffnete Einheiten das Gelände im Neustädter Holz. Der damals zwölfjährige Adolf Völker: „Und dann hörte man ein ganz großes Geschrei. Nämlich dann kam eine Schu?tzenkette von der Bahn her, die nun diese Häftlinge, die sich da im Felde versteckt hatten, die in den Lauben der dazwischenliegenden Schrebergärten u?bernachtet hatten, die sich verkrochen haben aus Angst, denn auch die waren ja in Panik geraten durch die Bomben, trieben die vor sich her und haben auf alles geschossen, was Häftlingskleidung anhatte und sich bewegt hat.“

Der überlebende KZ-Häftling Hans Bluhm: „So sahen wir auch ein Kommando von Polizei mit gezogener Pistole herankommen und einfach zwischen unsere Häftlinge tretend und ca. 20 Häftlinge abtrennend, wegschiebend, einkeilend, und diesen befehlend, sich hinzulegen mit dem Gesicht zur Erde. So erhielten sie Genickschu?sse. Das unmittelbar neben mir.“

Die 17-jährige Polin Barbara Dobrowolska kann zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester noch bis nach Dasselsbruch flüchten. Wegen angeblicher „Spionage“ werden sie dort von Luftwaffensoldaten am 11. oder 12. April erschossen.
Am Abend treiben einige Volkssturmmänner etwa 180 Verwundete und Umherirrende in einen verdreckten Pferdestall der Heidekaserne (heute Rathaus) und verlassen sie dort unversorgt.

Gegen Mittag des 9. April werden die verbliebenen etwa 2000 Häftlinge von Celle nach Bergen-Belsen getrieben. Unter ihnen befinden sich auch Armand Roux und Camille Déletang. Ein Zeugenbericht: „ Ich sah, wie der kranke und geschwächte Chlebowski den Oberst Déletang, der gestürzt war, wieder aufrichtete. Beide konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. Beiden drohte der Wachmann. So gingen wir weiter und halfen uns gegenseitig. Schon war der SS-Mann hinter uns und wartete nur darauf, dass einer von uns hinfiel. Er hasste alte Leute wie Déletang. Der Oberst aber stürzte nicht und er konnte in deshalb nicht töten. Wir wussten, wie gerne er den alten Mann getötet hätte.“

Die Häftlinge aus Celle gehören zu den letzten Ankömmlingen, die in das bereits vollkommen u?berfu?llte Hauptlager Bergen-Belsen getrieben und dort weitestgehend sich selbst u?berlassen werden.

Die damals 17-jährige Ukrainerin Nadezda Prokopenko (KZ-Salzgitter) berichtet: „Was wir dort sahen, erschu?tterte uns so, dass es uns die Sprache verschlug. Ausgezehrte, du?rre, entkräftete Menschen saßen bei den Barackenwänden, einige von ihnen krochen die Stufen hinauf, da ihnen die Kraft fehlte, aufzustehen. Überhaupt waren das keine Menschen, das waren nur noch Schatten. Im Lager herrschten Hunger, Kälte, Krankheit und Tod. Tagsu?ber war es erlaubt, auf das Gelände zwischen den Baracken hinauszugehen, aber die Mehrheit der Häftlinge konnte schon nicht mehr zuru?ckkehren, sie starben vor meinen Augen. Man gab uns nichts zu essen, fu?r jedes Wort zu viel mußten wir schreckliche Pru?gel ertragen. In den Baracken, wo man uns unterbrachte, gab es zweistöckige Pritschen. Hier lagen alle zusammen, Kranke und Sterbende. Kranke behandelte hier niemand, nur die Stärksten u?berlebten.“

Als Folge der unvorstellbaren Überbelegung, der chronischen Unterversorgung, der katastrophalen sanitären Bedingungen und einer Typhusepidemie ist Bergen-Belsen zu einem „Sterbelager“ geworden.

Als britische Truppen Bergen-Belsen am 15. April erreichen, finden sie etwa 10.000 unbestattete Leichen und rund 55.000 größtenteils halb verhungerte, dem Sterben nahe Menschen vor.

Mit letzter Kraft haben Armand Roux und Camille Déletang den Todesmarsch überlebt. Im Sommer 1945 können sie nach Frankreich zurück kehren. Bis zu ihrem Tod in den 1960er Jahren halten sie ihre in Celle geraubten Zeichnungen und Notizen für immer verloren.
Was sie nicht wissen konnten: Noch am Tag des Bombenangriffs hatte eine Cellerin die verloren geglaubte Mappe in ihrem Schrebergarten nahe dem Bahnhof gefunden. Erst 67 Jahre später gelangte diese Mappe an die Öffentlichkeit.
Die durch Camille Déletang mit einfachsten Mitteln und unter Lebensgefahr hergestellten 130 würdevollen Häftlingsportraits zeigen keine Opfer. Sie sind unsterbliche Lebenszeichen aus der Hölle.

Mindestens acht der französischen Mithäftlinge, die Déletang erst wenige Monate zuvor im Lager Holzen portraitiert hatte, starben nach unermesslichen Qualen in Bergen-Belsen. Stellvertretend für die vielen UNBEKANNTEN wird hier an sie erinnert.