Theaterstücke in Celle

Die gegenwärtige dritte Runde der Premieren am Schlosstheater kann mit ganz unterschiedlichen Einblicken in die Mentalität der Gegenwart punkten:

Auf der Hauptbühne konnten wir mit Ibsens „Nora“ eine zeitgenössische Lesart des Dramas einer jungen Beziehung der bürgerlichen Klasse sehen (großartig Zora Fröhlich und Gintas Jocius) – ein Klassiker ins Heute gehoben mit wenigen lässlichen Modernismen und einem aktuellen Schlussdeutungs-Angebot. So dürfen die Klassiker der Spielpläne auch einmal ausgelegt werden!

Weniger ist mehr:

Auf die Stärke der Textvorlage verlässt sich auch „Bin nebenan“ im Malersaal (bis Ende April) der Autorin Ingrid Lausund, von der bereits „Benefiz“ in der letzten Spielzeit in der Halle 19 zu sehen war.
Es geht nicht um das Wohnen (einmal mehr ein wenig unglücklich: die Präsentation des Inhalts im Flyer – bei „Unser Dorf soll schöner werden“ hingegen wurde seinerzeit zu viel vorab verraten), sondern um die Befindlichkeit von Frauen aus unterschiedlichen Klassen. Wir erleben den Status von Beziehungen. Beziehungsweise die Un-/Fähigkeit zu gelebter Verbindlichkeit.

Lausund mag sich an Brückners „Ungehaltene Reden ...“ erinnert haben und beamt die Befindlichkeit so unterschiedlicher Personen wie der upperclass Lady an ihrem Beziehungsende, der „sozialschwachen“ Frau mit dem großen Kämpferherz, der Gutmenschin und ihrem Problem im politisch-korrekten Umgang mit der Putzhilfe-mit-Migrationshintergrund auf die Bühne des kleinen Malersaales.

Das ist nicht immer lustig, weil der Blick stets scharf auf die inneren Widersprüche der Protagonistinnen gerichtet bleibt. Jedoch: Hier wird nie mensch vorgeführt oder denunziert. Das macht die Stärke des Abends aus - diese kluge Vorlage. Dies und zwei Spielerinnen mit einer großen Leidenschaft für ihr Tun. Wenn am Premi-erenabend eine solche Spielfreude erlebt werden kann, dann war die Probenarbeit erfolgreich. (Mit einem Gruß an die Hausleitung: Es geht auch mit sparsamen Einsatz von Video - und Bühnentechnik.) Verena Saake und Johanna Marx finden in der blitzgescheiten Textvorlage wahrhafte Schauspielerleckerlis und eignen sich diese in bemerkenswerter Weise an. Ein Schmankerl dabei: die Möbelhausrally - eine krasse Kaufrausch-Satire.

Bühne und Ausstattung sind unaufdringlich und höchst effektvoll.

Außerordentlich bemerkenswert diese Meldungen aus der Nachbarschaft.

Ausblick:

Wie es um die Beziehungsfähigkeit eines heutigen Menschen bestellt sein mag, das könnte einer von vielen Aspekten von Ariella Kornmehls „Alles was wir wissen konnten“ (ab 17.4. auf der Hauptbühne) sein. Wie lebe ich als erfolgreicher junger Kunsthändler in den Staaten, inwieweit kann ich selbstbestimmt mein (Familien-) Leben gestalten, wenn mir meine wahre Identität - nämlich das Ergebnis einer Vergewaltigung während der Besetzung der Niederlande durch die Nazis zu sein - nicht offenbart werden durfte, damit das Umfeld nicht in Gefahr gerät.

Kornmehls Roman variiert vielfach die Fragen nach dem Woher-komme-ich und wird in Celle zum ersten Male dramatisiert.

Das wird spannend: Anfang März skizzierten in einer längeren Veranstaltung für Schüler*Innen aus dem Landkreis im Bergener Stadthaus Regisseur, Dramaturg und Schauspieler*innen des Celler Theaters in Anwesenheit der Schriftstellerin Ariella Kornmehl den aktuellen

Stand der Erarbeitung von Kornmehls autobiographischem Roman „Alles was wir wissen konnten“.

Wie die Prosa-Form der Roman-Vorlage in eine spielbare Bühnenfassung überführt wird, wurde anhand konkreter Szenen vorgeführt: Zuerst las die Autorin Passagen aus dem Roman - dann trugen die Spielerinnen die bis dahin erarbeitete Textfassung für die Bühne vor; wie Regisseur Bruno Winzen erläuterte, ermöglicht die eben andere Form der Vermittlung dem Zuschauer einen je andern Zugang zum Stoff als dem Leser. Phantasie, Empathie und das Hineinversetzen in das Innenleben der Figuren - das bleibt am Ende Aufgabe des Publikums. Und in der Tat: Das Hauptaugenmerk der Befragungen lag in eben dieser Richtung, wie fühlt es sich an, als Enkelin - gewissermaßen über den Kopf der Muttergeneration hinweg - Erbin eines schlimmen Familiengeheimnisses zu sein, wie mag sich die Oma gefühlt haben jahrelang schweigen zu müssen, oder aber auch: wie steht es um den Haupttäter, einen Gewaltverbrecher der gleichwohl Kunstliebhaber und liebevoller Vater seines durch eine Vergewaltigung gezeugten Sohnes zu sein vermochte. Verena Saake und Zora Friedrich schilderten anschaulich, wie sie sich den Figuren durch Hineindenken – und Fühlen zu nähern versuchen, damit am Ende glaubhafte Personen auf der Bühne stehen, darüber hinaus spielen einige Spieler*innen gar noch mehrere Rollen; Dramaturg Matthias Schubert wies auf die Anforderungen hin, die eine so vielschichtige Darstellung, die ja auch unterschiedlichen Zeitebenen darzustellen hat, an den gesamten Theaterapparat stellt, hier sind ja auch die Abteilungen Kostüm, Maske und Bühnenbild ganz besonders gefordert.
Der Vormittag in Bergen zeigte, dass weiterführende Veranstaltungen für Schulklassen dem Verständnis dieser besonderen Theaterarbeit dienlich sind.

Bis zum 19. April hat das Schloßtheater erst einmal keine Vorführungen.

„Bin nebenan“ im Malersaal – Eintritt: 19 EUR - für Schüler*innen bis 20 Jahre 7 EUR, Schüler*innen und Studierende ab 21 Jahre 11 EUR
Hingewiesen sei hier mal wieder auf die Last-Minute-Tickets für Ermäßigungsberechtigte (z.B. Sozialleistungen nach SGB II, SGB XII und AsylbLG): In den letzten 20 Minuten vor Vorstellungsbeginn sind im Kauf verbliebenen Karten zum Einheitspreis von 7,00 Euro erwerbbar.

Johanna Marx in "Bin Nebenan - Monologe für Zuhause"; Foto: Hubertus Blume & Gintas Jocius und Zora Fröhlich in "Nora oder ein Puppenhaus"; Foto: Hubertus Blume