Celle steckt wieder hüfttief im Dispo

So wirklich absehbar ist noch nicht, wie sehr Corona unsere kleine Stadt und den Landkreis in den nächsten Monaten verändert haben wird. Fast der gesamte Freizeit- und Kulturbereich wird nur eingeschränkt den Betrieb wieder aufnehmen. Das Schloßtheater geht voran, und das Beispiel zeigt: Es werden deutlich weniger Menschen „bespielt“ werden können. Im Schloss bleiben wegen der Abstandsregel 2/3 der Plätze frei. Kneipen-Konzerte, die in den letzten Jahren eine unglaubliche Vielfalt geboten haben, sind auf mittlere Sicht nicht mehr durchführbar, auch alle größeren und kleineren Festival sind zwischenzeitlich abgesagt. Welche Kneipen angesichts des Lock-Down und der Einschränkungen überleben, ist eine offene Frage. Auch der Sportsektor dürfte bei den Mannschaftssportarten noch länger ausgesetzt bleiben.

Am härtesten trifft es jene, die ihre Arbeitsplätze verlieren werden. Die Zahl ist derzeit nicht absehbar. Aber bis Ende April hatten 1.362 Betriebe in Stadt und LK Celle, das sind 31 Prozent, Kurzarbeit angemeldet. Insgesamt wurden 16.955 Personen angemeldet, d.h. 25 Prozent der zusammen 66.821 sozialversicherungspflichtige Beschäftigten (Stand der Statistik am 30.06.2019). Klar: Eine Anmeldung zur Kurzarbeit sagt noch nichts darüber, dass oder in welchem Umfang sie umgesetzt wird. Trotzdem ist die Ausgangsbasis dramatisch. Dazu kommt, dass angesichts der katastrophal niedrigen Ölpreise die lokale Zulieferindustrie in einer eigenen Krise steckt.
Verwaltungsspitze planlos

Und die öffentliche Hand? Die Verwaltungsspitze geht von Einnahmeverlusten aus in Höhe von ca. 13 Mio. Euro bei der Gewerbesteuer und dem Gemeindeanteil an der Einkommens- und Umsatzsteuer. Eingeplant waren hier für 2020 rund 72 Mio. Euro, also ein Einbruch um rund 18 Prozent.

Politische Initiative wäre gefragt, oder? In Celle verabschiedete sich der Rat und seine Fachausschüsse am 12. März in eine Corona-Pause, die erst elf Wochen später am 27. Mai ihr Ende fand (mit einer vertraulichen zwischenzeitlichen Verwaltungsausschusssitzung). Dem Vernehmen nach sollen die Fraktionen von CDU und SPD bei einer Rundumfrage für diesen politischen Lockdown gestimmt haben.

Was kam von der Verwaltung in dieser Zeit? Ein bisschen Public Relation seitens des Oberbürgermeisters, der eine Stippvisite in Altenheimen vornahm, eine City-Spenden-Challenge für „Corona-Helden“ startete und einmal Spenden für den Malteser-Gabenzaun übergab. Eine politische Idee verkündete er nach dem Eingang eines Antrags von Die Linke/BSG als seine: nämlich der Gastronomie, die Erweiterung ihrer Außenbestuhlung zu ermöglichen und dieses Jahr auf die Sondernutzungsgebühren zu verzichten, die dafür anfallen.

Dann gab noch Stadtkämmer Thomas Bertram der CZ Anfang April ein Interview, indem er auf die zu befürchtenden Einnahmeausfälle hinwies.

Zum politischen Streitpunkt wurde der Erlass der Kita-Gebühren für den Monat April, in dem OB Nigge gereizt reagierte und sich dann in einer Pressemitteilung der Stadt als „kleiner Alexander“ abfeiern ließ (siehe Kasten auf Seite 4).

Dass der Oberbürgermeister in Bezug auf die Dimension der Krise keine Plan hat, zeigt die Antwort auf die Anfrage von „Die Linke/BSG“ (siehe komplett auf Seite 5). Die Verwaltungsspitze weigert sich, gegenüber Rat und Verwaltung Basisdaten zu Infektionsfällen, Kurzarbeit oder der Situation der städtischen Betriebe und Gesellschaften zu recherchieren bzw. offenzulegen. Der Unmut von Oliver Müller (BSG) ist nur verständlich, wenn er konstatiert: „Das grenzt an Arbeitsverweigerung.“

Solidarität und Kreativität statt Warten auf den „Normalzustand“

Aber was sind denn jetzt die Themen, die auf die lokale Tagesordnung gehören?

1.) Die Krise trifft besonders jene, die nach einer Phase von Kurzarbeit ihre Arbeitsplätze verlieren werden, weil trotz aller Zuschüsse Betriebe pleite gehen werden. Da Jobs nicht aus dem Nichts entstehen, wären zwei Dinge jetzt wichtig: Die Arbeitsagentur soll mal das „Fordern“ lassen (was ja seit drei Monaten ganz gut geht) und anfangen zu fördern, wo die Erwerbslosen selbst für sich einen Plan und ein Interesse an Qualifizierung haben. Die Gewerkschaften sollten Räume schaffen für Diskussionen und Selbstorganisation der Betroffenen. Und auf der Metaebene braucht's eine offene Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen.

2.) Die Aktivitäten gegen die Klimakatastrophe dürfen nicht unter die Räder eines neuen Wachstumsfetischismus kommen. Um das zu verhindern, braucht es möglichst schnell eine zweite Welle von … all-days-for-future.

3.) Ein lokal wichtiger Akteur für neue Arbeitsplätze und „Klimaschutz“ könnten die Stadtwerke werden. Hier sollte ein kreditfinanziertes Programm zum Ausbau der regenerativen Energien aufgelegt werden, wobei es in Celle insbesondere um Photovoltaik geht – erstmal auf allen verfügbaren öffentlichen Dächern. Die Stadt muss (zusammen mit anderen Akteuren) endlich eine offensive Strategie für die energetische Sanierung von Altbauten entwickeln und umsetzen.

4.) Gegen die „abstandsbedingte“ Verödung der Kulturlandschaft muss Kreativität her. Dass sie in der Stadtgesellschaft vorhanden ist, zeigen unkommerzielle Videostream-Projekte wie „Kultur 29“ oder „music@home“. Jetzt kann es darum gehen, diese Potenziale auch wieder in den öffentlichen Raum zu überführen. Und von der Stadt ist hier zu fordern, dass sie die Möglichkeiten dafür schafft. Wo kann in diesem Jahr – unter Einhaltung der Abstandsregeln – kulturell noch etwas laufen? Auf Plätzen und Grünflächen. Dafür braucht es eine Offenheit und Unterstützung seitens der Verwaltung – Grünflächenunterhaltung mal anders interpretiert. In die öffentliche Nutzung einbezogen werden sollten jetzt in den Stadtteilen auch die Schulhöfe (und im Winter die Aulen) der Grundschulen. Das kann die sozial und kulturell verödeten Stadtteile sogar nachhaltig „entwickeln“. Klar: Dafür bräuchte es eine Initiative und Förderung seitens der Stadt – z.B. mit einem lokalen Förderprogramm „Kultur und Demokratie im Stadtteil“. Darüber könnten auch Projekte des Teilens (share-economy) in den Stadtteilen entstehen, also da, wo sie hingehören.

Ride a Black Swan

Die unabhängige Linke in unserer kleinen Stadt (die Partei ist – sagen wir es mal so hart – kein relevanter Player) macht das, was sie kann: Solidarisch sein (Food-Saving als Tafel-Ersatz) und sich das Demonstrationsrecht nicht nehmen lassen (siehe Berichte im Heft). Eine Diskussion, die den „Schwarzen Schwan“ als Chance begreift, findet bisher nur im Ansatz statt. [Dieser Management-Begriff meint ein Ereignis wie die Pandemie, was althergebrachtes Denken und Handeln in Frage stellt.] Wir sollten uns gegen einen „Neustart“ wehren, der nur das schlechte Alte wieder in die Spur bringen will. Dafür in Theorie und Praxis die richtigen Weichen zu stellen, wäre die Aufgabe.