Im Grunde sind wir ja ein Anachronismus. Was wir machen, wurde in den 1970er und 1980er Jahren als sogenannte „Alternativpresse“ geboren und hat sich in der damals vorhandenen Breite noch im vergangenen Jahrhundert verabschiedet oder kommerzialisiert. Was wir nach wie vor im Printformat vertreiben, gibt's anderswo nur noch in Form von Internet-Blogs.

Wir wissen um unsere begrenzte Wirkmacht. Wenn wir's trotzdem weiter betreiben, dann auch, weil jede Recherche zuvörderst ein Stück Selbst-Aufklärung ist, an der wir dann gern unsere Leser*innen teilhaben lassen.

Anstelle eines zusammenhängenden Rückblicks auf die letzten 100 Ausgaben, gibt’s hier eine Top Twenty an Artikeln, die unterm Strich aber kein Ranking darstellen, sondern einen Überblick geben über wesentliche Themen der letzten 20 Jahre. Aber auf Platz 1 steht dann doch die Story, mit der wir's ins Fernsehen und die überregionale Presse schafften.

1 Der CDU-Oberbürgermeisterkandidat, das Celler Kind und „sein“ Programm / Dr. Jörg Nigge: ein Großmeister in Copy & Paste

Fast, ja fast hätten wir unserem aktuelle Oberbürgermeister eine andere Zukunft beschert. Wir stolperten über einige sehr grüne Vorschläge in seinem Wahlprogramm und stellen schnell fest: abgeschrieben – und zwar per Copy & Paste vom Programm der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Als wir die „Bombe“ platzen ließen, zeigte sich zweierlei: Die negativen Eigenschaften des „Celler Kinds“, die wir seitdem auch in seiner Amtsführung beobachten können, und die moralische Bankrotterklärung seiner Wähler*innen. Denn in der Stichwahl schaffte er es bekanntlich auf den Chefsessel. Im Nachhinein können wir uns vielleicht den Vorwurf machen, die Story ein bisschen zu früh gebracht zu haben. Hätte Mende dann noch erklärt, nach fünf Jahren – statt der formal erlaubten zehn – abzutreten … [81, 09-10/2016, 3-4]

2 Hände weg vom Tafelsilber / Privatisierungspläne? Wegspülen!

Seit Mai 2012 hatte Oberbürgermeister Mende Gespräche mit der Gelsenwasser AG geführt, ohne Rat und Öffentlichkeit darüber zu informieren. Als es aufflog, vermuteten wir Absichten zur Privatisierung der Abwasserwirtschaft und unterstützten die Gegenaktionen des Bündnisses mit dem Namen „Wassernetzwerk“. Erfolgreich? Im Großen und Ganzen ja. Zu einer Privatisierung kam es nicht. Die Abwasserwirtschaft wurde „nur“ in einen eigenen Betrieb ausgegliedert – und bei der Suche nach zusätzlichen Einnahmequellen entdeckte man im Rathaus die Niederschlagswassergebühr. - Unterm Strich war's aus unserer Sicht Mendes größter Fehler, die Geheimgespräche geführt zu haben. [64, 04-05/2013, 3-9]

3 Interview mit der Religionswissenschaftlerin Ina Wunn / Yezidische Religion vor dem Wandel?

Mit aktuell über 15.000 Aufrufen auf der revista-website ist das Interview mit Ina Wunn der meistgelesene Artikel ever. Warum? Einerseits weil Suchmaschinen all over the world zum Lesen verleiten, andererseits weil Analyse und Thesen so knackig sind, dass dieses Interview den Eingang in etliche wissenschaftliche Apparate gefunden haben dürfte. Eine ihrer Thesen war, dass das Yezidentum sich von einer ethnischen Religion, die sich über Geburt und Zugehörigkeit zu einer Kaste definiert, zu einer Glaubensreligion wandeln müsse. In der Diaspora sei das Regelsystem (z.B. Endogamiegebot) sinnlos. Nach wie vor lesenswert. [51, 11-12/2010, 20-21]

4 Die Sozialbetrüger sitzen im Amt / Über 3 Millionen Euro zu wenig an Hartz IV-Empänger gezahlt

Unter den Dutzenden von Artikeln gegen die Praxis der Landkreisverwaltung bei der Erstattung der sogenannten Kosten der Unterkunft haben wir diesen gewählt wegen der knackigen Überschrift. Hintergrund von 2006 bis heute: Hartz IV-Empfänger*innen werden systematisch über sogenannten Angemessenheitsobergrenzen in hunderten Fällen um die Erstattung der vollen Mietkosten gebracht oder zum Umzug gezwungen. Hier hatte der Landkreis gerade mal wieder ein Klageverfahren vor dem Landessozialgericht verloren, was – wie Landrat Wiswe meinte – die Kreisverwaltung eine Million kosten würde. Seit Einführung der Hartz IV-Gesetze waren damit – so unsere Rechnung – die Empfänger*innen um drei Millionen beschissen worden. Und leider ist Wiswe bis heute nicht von seiner Linie abgerückt … und deshalb berichten wir bis heute (und meiden Partys mit DJ Hartmut). Inzwischen hören immerhin die Kreistagsfraktionen von SPD und FDP auf uns – die Linke hatte es ein bisschen eher verstanden. [39, 06-07/2008, 24-25]

5 Wenn Lampenputzern das Licht ausgeht / Laternengespräche

Die ersten Laternengespräche wurden begleitet von Erich Mühsams Gedicht „Der Revoluzzer. Gewidmet der deutschen Sozialdemokratie“ - erste Strophe: „War einmal ein Revoluzzer / im Zivilstand Lampenputzer / ging im Revoluzzerschritt / mit den Revoluzzern mit.“ Gegenstand des ersten Laternengesprächs war die glorreiche Idee von Celler Rats-Sozen, es bei den Straßenlaternen mit Public Private Partnership zu versuchen – also Privatisierung, was die Laternen selbstverständlich zerpflücken. - Im Laufe der Jahre entwickelten sich die Charaktere. Der Besserwisser vertritt die ganz alte marxistische Schule, der lange Lulatsch ist vom nicht vorhandenen Scheitel bis zur Sohle ein Autonomer, die Dicke outete sich zwischenzeitlich mal hinsichtlich einer beendeten Mitgliedschaft in der SPD, Oma Lilo ist eine anti-autoritäre 68er-in. Für Klein Jonas fand sich lange keine vernünftige Rolle, aber ab diesem Heft gehört er zu Fridays-for-Future. (Die Namen sind übrigens jene der Celler Tourismus-“Attraktion“ in der Altstadt.) Das, was die Laternen dann bequatschen, geht vom lokalen Tratsch bis zu Weltsystemanalyse – typisch links(radikaler) Stammtisch, wie es ihn in den 1980ern noch gab. Manche Leserin findet's amüsant, andere finden's zu sehr Szene-Ghetto. Wir hoffen nach wir vor darauf, dass solche Gespräche mal wieder zu unserem Alltag gehören. [41, 11-01/2008/2009, 8-9]

6 Direktor des Deutsch-Islamistischen Instituts verklagt Antifaschistische Infogruppe Celle

Über lange Jahre war Celle ein Hort intensivster AntiFa-Recherchen, deren Ergebnisse (fast) immer einen Platz in unserer Magazin fanden. Mindestens einen hat's um seinen „guten Ruf“ gebracht. - Anfang der 00er-Jahre bemühte sich Hans-Christian Heydecke als Direktor seines „Deutsch-Islamischen Instituts“ um Zugang zu den einflussreicheren Kreisen und deren Spenden für sein Anliegen, „die Verständigung zwischen Deutschland und der islamischen Welt [zu] verbessern“ - so seinerzeit die CZ. Im Archiv der AIG befanden sich allerdings haufenweise fragwürdige Leserbriefe des Ehrenmannes, die in einem Fall mit folgendem Satz kommentiert wurden: „Inhaltlich relativiert er darin den Holocaust und vertritt antisemitische Thesen.“ Dumm für Heydecke, dass die Uni Erfurt, gerade als er eine Zusammenarbeit anbahnen wollte, über die Internet-Präsenz der AIG davon Kenntnis bekam. So wurde nichts aus dem Deal. Um seine „Reputation“ bemüht zog Heydecke vors Amtsgericht, um dort ziemlich krachend zu scheitern. In zwei Ausgaben haben wir derart viel Material über seine Gesinnung zusammengestellt, dass er als Antisemit reinsten Wassers entlarvt war. [23, 06-07/2004, 3-5 und 24, 09-10/2004, 8-9]

7 Drogenparadies und Terrorzentrale? / Buntes Haus am Pranger

Kaum waren die Neonazis mit ihrer Kampagne zur „Schließung des Bunten Hauses“ gescheitert, machten Polizei, Presse und Politik (in Gestalt von Polizeichef Schomburg, Oberbürgermeister Biermann und CZ-Redakteur Ende) Front gegen das soziokulturelle Zentrum. Wir entzauberten die Vorwürfe von „Drogenparadies“ und „Terrorzentrale“. Immerhin verhielten sich die Parteien-Vertreter*innen und die CDK Geschäftsführung seriös und sachlich. Da das Ganze mal wieder mit einer Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus einherging, nahmen wir auch hier unseren aufklärenden Bildungsauftrag wahr. Biermann schmiss sein Amt ein paar Monate darauf, Schomburg verschwand – nicht ganz freiwillig – zwei Jahre später nach Hannover, und das Bunte Haus besteht in 2021 dann schon 25 Jahre. [36, 03-04/2008, 3-9]

8 Skinheadkonzert und Sommerwendfeier in Eschede / Widerstand auf dem Land

Die erste Demonstration gegen Nazi-Treffen in Eschede führte noch mitten durch die Gemeinde. Gut 200 Leute nahmen teil. Die Neonazis waren leider mehr, weil sie am Vorabend mit einem Skinheadkonzert auf dem Hof Nahtz aufwarten konnten. Wir beklagten die Demo-Route: „ […] es ist schon mehr als nur ärgerlich, nicht den Protest dahin tragen zu können, wo er hingehört.“ Das hat dann über zehn Jahre gedauert. [40, 09-10/2008, 18]

9 Neue soziale Bewegungen in Celle (1) / Bürgerinitiativen gegen eine WAA und ein Atommüllendlager im Landkreis Celle

Unregelmäßig, aber stetig machen wir uns an Rückblicke auf die regionale Bewegungsgeschichte. Der Anfang wurde gesetzt mit der Entstehung der lokalen Anti-AKW-Bewegung, als Lutterloh im Landkreis Celle 1976 zu einem der möglichen Standorte für eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage und das nationale Atommüllendlager ernannt worden war. - Wir werden die Reihe demnächst gesondert auf die revista-Website einstellen. [34, 04-05/2006, 12-15]

10 „Wissenschaft entlarvt Klimaschwindel“ / Zu entlarven wäre ein Plagiator und Scharlatan

Der erste größere Klimablock fand sich 2009. Im Celler Kurier hatte sich Klaus Tänzer als Klimaleugner hervorgetan. Wir wiesen zum einen nach, dass er den ganzen unter seinem Namen veröffentlichten Artikel einfach aus dem Internet kopiert hatte. Die inhaltliche Scharlatanerie ließen wir zum anderen in einem Interview von Prof. Dr. Thomas Hauf von der Uni Hannover widerlegen. Daneben stellten wir Anträge von Die Linke/BSG in Rat und Kreistag vor, die forderten, „endlich Klimaschutz als kommunalpolitische Aufgabe konzeptionell anzugehen“. [43, 05-06/2009, 9-13]

11 Geflügelschlachtbetrieb in Wietze – 1.000.000 Masthähnchen pro Woche / Stehen wir vor dem Verhungern

Die Absicht des Frischgeflügelkonzerns Rothkötter in Wietze einen Schlachthof zu errichten, fand in uns selbstverständlich eine entschiedene Gegner*innenschaft. Warum? „Fleischkonsum muss reduziert werden, gerade im reichen Westen, dessen Lebensgewohnheiten Modellcharakter für die Schwellenländer haben.“ [46, 11-12/2009, 3-4]

12 Dritter Celler Trialog im Juli 2009 / Seit' an Seit' marschieren sie

Wenn es erstmals beim dritten Celler Trialog organisierte Proteste gab, so können wir das auch ein bisschen uns zuschreiben. Denn wir hatten das Treffen des militärisch-industriellen Komplexes früh „auf dem Schirm“ - Und dann immer wieder bis zum (vorläufigen) Aus. [43, 05-06/2009, 3]

13 Zur Tarifsituation bei CeBus / Lohnerhöhung nicht in Sicht

Obwohl (oder vielleicht auch weil?) wir die letzten bekennenden Freund*innen kämpfender Klassen sind, endet unsere Berichterstattung in der Regel vor den Werkstoren; Ausnahme: CeBus. Hier gab's über längere Zeit gute Kontakte zu ver.di und einem Beschäftigten, der sich von unseren parteinehmenden Artikeln zwar nichts erhoffte, aber es immerhin gut fand. Die hundsmiserable Lohnsituation, über die wir immer wieder berichteten, führte erst kürzlich zu einem halbwegs akzeptablen Tarifvertrag. In dem Interview mit der ver.di-Sekretärin Mira Ball wird das ganze Elend deutlich. [53, 03-04/2011, 4-5]

14 Interview mit der Celler Punkrockband ALARMSIGNAL / alles ist vergänglich – oder?

Ein super reflektiertes Interview, wie es manche unserer Leser*innen vielleicht nicht für möglich gehalten hätten. Lesen und vor allem mal wieder die Musik hören (wenigstens bei youtube). [66, 09-10/2013, 25-28]

15 Wann reißt der Himmel auf? / Dawn Doneck holt den Cup

Vier Jahre jetzt schon tragen wir die revista-Minigolf-Open aus - mit steigenden Teilnehmer*innen-Zahlen. Im Nachhinein gibt’s dann jeweils die einzige Sportberichterstattung, die sich in unserem Blatt findet. Das Schöne an den bisherigen Ergebnissen: Training nutzt selten, "entscheidend is auf’m Platz“ (Adi Preißler) [77, 11-12/2017, 25]

16 Besserwisser*innen aller Länder vereinigt Euch! / I. revista – Kneipen-Quiz am 2.12. im Morlock

Auf der Suche nach Finanzierungsquellen kam uns die Idee, ein Kneipenquiz zu veranstalten. So gehen wir in die Lokalgeschichte ein als erster Celler Kneipenquizveranstalter. Zu rühmen sind hier die ersten beiden Gewinner-Teams: die Blitzbirnen und das Morlock. [92,11-12/2018, 31]

 

17 Zum 100. Geburtstag von Fritz Grasshoff / „Hört mal her, ihr Zeitgenossen“

Eine schöne Story über Grasshoffs Wirken in Celle mit einem Interview-Dokument und seiner Erkenntnis: „Es röten sich die Dichter, wenn die Zeiten sich röten.“ [67, 11-12/2013, 23-29]

 

18 Schacht „Maria-Glück“ / Skandal um Asse-Laugen?

Manchmal braucht es unser Blatt, weil wir den Anspruch haben, Fakten haarklein aufzureihen; also das zu tun, was Tageszeitungen nur noch selten hinbekommen. Als Mitte 2006 bekannt wurde, dass die alte Schachtanlage Maria-Glück in Höfer mit radioaktiv kontaminierten Salzlaugen aus dem absaufenden Atommüllendlager Asse II geflutet wird, ging es um die Fakten. Wenn Betreiber radioaktive Lasten „herunterspielen“, lohnt sich genaues Hinschauen immer. - Schließlich stellte sich noch heraus, dass schon vorher Rauchgaslaugen mit toxischen Stoffen wir Arsen und Quecksilber in den Schacht eingebracht worden waren. Dagegen war das Tritium aus der Asse tatsächlich eher harmlos. [40, 09-10/2008, 5-7; 42, 03-04/2009, 8-9]

19 Schluss mit der Gutscheinpraxis? / Flüchtlingsinitiativen erfolgreich

Als eine unserer Aufgaben sehen wir, Kampagnen zu begleiten – bis zum Erfolg. Das war nach Jahren dann 2013 endlich erreicht. Worum ging's? Statt Bargeld erhielten Geflüchtete den allergrößten Teil ihrer Leistungen in Gutschein-form – Diskriminierung pur. [63, 02-03/2013, 11-12]

20 Was noch möglich wäre – eine kleine Utopie / Kommune jetzt!

Da haben wir uns mal vorgestellt, was das Programm einer linksradikalen Kommunalwahl-Kandidatur mit dem Namen „Kommune jetzt!“ sein könnte. Das ist heute vielleicht spannender zu lesen als vor zehn Jahren. [56, 09-10/2011, 5-7]

Alle Ausgabe gibt’s übrigens zum Download unter:
https://www.revista-online.info/index.php/archiv/heftarchiv