Dr. Jörg Nigge äußert sich im RUNDBLICK zu Fragen der Zeit
Selten äußert sich Celles Oberbürgermeister Dr. Nigge mal zusammenhängend zu gesellschaftlichen Fragen. Deshalb waren wir ein bisschen überrascht, dass das Politikjournal RUNDBLICK eine Art Doppelinterview mit ihm geführt hat. Das große Thema: Corona und die Folgen. Es gibt einen 28-minüttigen Podcast, in dem kommunalpolitische Probleme aufgegriffen werden. Und es gibt anschließend ein Textinterview zu eher makroökonomischen Fragen. Stilistisch sind die beiden Interviews sehr verschieden. Im Podcast ist Nigge der Small-Talker, als den wir ihn kennen. Das Text-Interview hätte auch in einem neoliberalen Magazin erscheinen können. Wir vermuten mal: Der zweite Teil war für den Podcast zu – sagen wir - „holperig“, um gesendet werden zu können und wurde dann zu einer Print-Fassung überarbeitet.
Schauen wir, welche Thesen der gewählte Repräsentant unserer Stadt hier vertritt. Und dann sei abschließend auch die Spekulation erlaubt, was ihn umtreibt.
Im Podcast hebt Nigge hervor, dass die Stadtverwaltung mit Hotlines sofort für ihre Bürger da war (Bürgerinnen gibt’s bei ihm nicht – eine Aufgabe für die neue Gleichstellungsbeauftragte) und das Rathaus weiterhin in Teilen geöffnet war. Es habe in Sachen Home-Office einen Schub (aus Nigges Sicht nach vorn) gegeben. Und die Stadt habe der Gastronomie geholfen mit der Gestattung zur Erweiterung der Außenbewirtschaftung.
Die Maßnahmenpakete der Bundes- und Landesregierungen kritisiert Nigge dahingehend, dass sie zu wenig von den Kommunen her gedacht würden und ihnen so Nachhaltigkeit fehle. Sein Beispiel: Statt 300 Euro pro Kind auszuschütten, wäre es sinnvoller gewesen, die Altschulden der Kommunen zu tilgen, um so Spielräume für Investitionen in Kita und Schule zu ermöglichen.
Nigge betont, wie wichtig es sei, in öffentliche Infrastruktur zu investieren. Das aber stelle sich für verschuldete Städte wie Celle trotz der Maßnahmenpakete nicht einfach dar, weil immer eine Kofinanzierung durch die Kommune gefragt sei.
Schließlich geht’s noch um die Altstadt, der – wie Nigge sagt – DNA der Stadt. Hier beschreibt der Oberbürgermeister ein paar Attraktivitätsinitiativen seiner Wirtschaftsförderung. Und er setzt sich für mehr verkaufsoffene Sonntage ein – ausdrücklich gegen die Argumente von Kirche und Gewerkschaften. Die Innenstädte seien wichtig für die Außendarstellung, zum Beispiel um Fachkräfte zu gewinnen. Und dann kommt der lustige Satz: „Wenn sie da einen marodierenden Laden nach dem anderen sehen, haben sie wenig Lust dahin zu gehen.“
Völlig unterschiedlich zu diesen eher mainstreamigen Auffassungen, ist dann das Textinterview. Hier vertritt Nigge harte neoliberale Thesen. RÙNDBLICK fasst diese so zusammen: „Jörg Nigge (CDU), Oberbürgermeister der Stadt Celle, übt scharfe Kritik an den Programmen von Bund und Ländern zur Bewältigung der Corona-Krise. Er befürchtet den Schutz von „Zombie-Firmen“ und sieht einen Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit.“
Die Maßnahmenpakete der Regierungen bezeichnet Nigge als „Verteilungsorgie“. In Zeiten von Corona seien „Dirigismus und saftige Konjunkturspritzen omnipräsent“. Und O-Ton: „Man könnte fast behaupten: Der Staat wird zum Sozialamt. Mit gigantischen Summen wird bislang die Wucht eines noch stärkeren Konjunkturabsturzes abgefedert. Es geht dabei insbesondere um großzügige Kurzarbeiterregeln oder milliardenschwere Überbrückungshilfen, die den Schaden in Grenzen halten sollen.“ Unternehmen mit unterdurchschnittlicher Produktivität, geringerer Investitionstätigkeit und Innovationskraft würden so künstlich am Leben gehalten. Nigge befürchtet sogenannte „Zombie-Unternehmen“. Die auf Pump finanzierte Wirtschaftspolitik müsse zum richtigen Zeitpunkt beendet werden.
Und dann positioniert der promovierte Wirtschafts- und Organisationswissenschaftler sich im aktuellen wirtschaftspolitischen Streit so: „Die Kosten der Gegenwart werden kurzerhand auf Konten transferiert, die in Zukunft bedient werden müssen. Dass die vom Bund aufgenommenen Schulden in Höhe von 218 Milliarden Euro eine immense Hypothek für die jüngere Generation darstellen, ist ja bereits allgemeiner Konsens.“ Es sei deshalb „schon heute unsere Pflicht, zielgenau gegenzusteuern und die staatlichen Schuldenberge durch ein hohes Wirtschaftswachstum abzubauen. Dafür bedarf es neben notwendigen Steuerstrukturreformen, insbesondere bei der Unternehmensbesteuerung, vor allem gründerfreundliche Rahmenbedingungen.“
Selbstverständlich macht Nigge keinen offenen Vorschlag zur Bewältigung der Schulden, sondern endet mit bundespräsidialen Allgemeinplätzen: „Lieber zielgenau die Unternehmen von Morgen retten, als die Zombies von gestern künstlich am Leben zu halten. Unsere Kinder und Kindeskinder verdienen nicht nur ein soziales und ökologisches, sondern auch ein wirtschaftliches Erbe, das Chancengerechtigkeit und Teilhabe für alle sicherstellt, unabhängig vom Elternhaus und dem Geburtsort.“ - Wer mag da widersprechen.
Beschäftigen wir uns also kurz mit der Frage, wer die Kosten der Corona-Krise begleichen kann oder soll? Dass Schulden eine Hypothek für künftige Generationen seien, kann zwar der schwäbische Hausmann so sehen, der Finanzwissenschaftler Rudolf Hickel aber meint dagegen: „Schulden haben immer dann eine intergenerative Wirkung, wenn mit öffentlichen Krediten in eine zukunftsfähige Infrastruktur investiert und eine intakte Umwelt vererbt wird. Aufgrund derartiger Vorteile ist künftigen Generationen eine gerecht verteilte Beteiligung an den Staatsschulden über die Finanzierung des Kapitaldienstes durchaus zumutbar.“
Nigge will einerseits „ein hohes Wirtschaftswachstum“ und andererseits – im Kern jedenfalls – Steuererleichterungen für Unternehmen. Hickel dagegen meint, dass es darum gehen muss, die „Einkommens- und Vermögensstarken relativ stärker in die Finanzierungspflicht zu nehmen“. Er schlägt eine einmalige Abgabe auf das Vermögen vor, insbesondere des obersten „einen Prozent“ der privaten Haushalte. Dieses eine Prozent besitzt 35 Prozent aller Nettovermögen. Und bei den obersten 10 Prozent konzentrieren sich sogar zwei Drittel. Eine solche Abgabe gab es schon einmal zur „gerechten“ Bewältigung der Integration der deutschen Flüchtlinge und Vertriebene des Zweiten Weltkriegs; Name des seinerzeit auf 30 Jahre ausgerichteten Projekts: Lastenausgleich.
Mit einer solchen Vermögensabgabe – so Hickel - „ersparen die heute Vermögensstarken den künftigen Generationen Belastungen, die ohne diese Maßnahmen gegen die Coronakrise weitervererbt werden würden – zu Lasten aller.“
Wenn wir es richtig verfolgt haben, hat sich Nigge im Februar nach dem Rücktritt von CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer erstmals wahrnehmbar zu bundespolitischen Fragen geäußert. Es war eine scharfe Kritik an AKK, die in gewisse Weise schon als Empfehlungsschreiben für Friedrich Merz gelten konnte (vielleicht auch in diesem doppelten Sinn). Und ist das jetzt etwas anderes? Wenn Nigge vor Ablauf seiner Amtszeit in politisch höhere Sphären wechseln will, kann ihm das nur auf dem Ticket von Friedrich Merz gelingen. Oder anders gesagt: Nur unter einem CDU-Parteichef und Kanzler Merz hat Nigge dafür eine Chance.
Quelle?:
https://www.rundblick-niedersachsen.de/celle-ob-nigge-die-juengeren-werden-hart-getroffen/
Rudolf Hickel: Die Kosten der Coronakrise. Wer begleicht die Rechnung?; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2020, S. 105-112.