Trauma und Zeugenschaft

1779 wird der Theaterautor des Sturm&Drang Jacob M.R. Lenz („Die Soldaten/Vorteile der Privaterziehung“) - als der Welt und sich selbst abhanden gekommen - von seinem Bruder zum Zwecke der geistigen Gesundung in die Livländische Heimat geholt; den Weg von Süddeutschland nach Lübeck legen die Beiden zu Fuß zurück.

Stephan Lohse (geb. 1964 in Hamburg, gelernter Schauspieler) lässt in seinem zweiten, 2020 erschienenem Roman einen Johann und dessen Bruder Paul eine Wanderung vom niedersächsischen Altensalzkoth in das niederländische Bergen unternehmen - immer entlang des 52. Breitengrades.

Die Brüder hatten einander jahrzehntelang nicht gesehen; Paul – ein Mutist, also ein ins Schweigen verfallener Mensch – hatte in Altensalzkoth zahlreichen Hühnern den Kopf abgeschlagen, war aufgefunden und von den ratlosen Behörden seines Schweigens wegen in eine Einrichtung der Psychiatrie verbracht worden; er war von der Person des NS-Verbrechers A. Eichmann besessen, welcher sich in den Jahren 1946-50 in dem Dorf Altensalzkoth versteckt gehalten hatte.

Vom Prozess gegen Eichmann in Israel hatte 1961 unter anderem der niederländische Autor Harry Mulisch berichtet – der hatte seinerzeit die Idee, ein Foto des Eichmann, dessen Gesicht durch einen Motoradunfall leicht entstellt war, mittenzwei zu schneiden und die „gesunden“ und die „kranken“ Hälften zu spiegeln. Mulischs kluge Frage lautete anschließend: Welches Gesicht wir wohl sehen, wenn wir uns die beiden Spiegelungen anschauen – den Täter, das „wahre“ Gesicht? Jedenfalls aber einen Zeugen.

Auf dem „Roadtrip“ von der Psychiatrie in Celle über Belsen, Hodenhagen, Vechta u.a. bis zur holländischen Nordsee erfahren wir mehr über das Verhältnis dieser so unterschiedlichen Brüder, die immerhin aber den prügelnden und religionskranken Vater gemeinsam haben. Und die Sehnsucht nach der Mutter, die die Familie verlassen hatte und so der Enge aus Eigenheim, Drogerie und Gottesdiensten entkommen konnte. Paul war Zeuge geworden, wie der Vater den jüngeren Bruder wiederholt schlug – auch für ihn als Zeugen der Misshandlung ein Trauma – der Geschlagene könnte immerhin geweint haben. Verständigen kann Paul sich mit dem jüngeren Bruder vermittels eines ganzen Konvoluts vorgefertigter Zettel, altvertrauter brüderlicher Gesten und Berührungen, kurzen Notizen, sowie einer Art Kinderspielzeug, dem Wunderblock, einer stets neu wiederbeschreibbaren Tafel, die schon S. Freud zu einer Reflexion über das Erinnern veranlasste hatte. Und während der Reise der Brüder erfahren wir mehr über das Nachsinnen Pauls, der an der Uni immerhin einen guten Job hat und in diesen Zeiten von Smartphone und PayPal recht gut zurechtkommt. Wir lernen, wie andererseits Johann sich in der Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen eingerichtet hat, – im besetzten Berliner K36 und auch dem Treff SO 36 mit wechselndem Erfolg und Behagen. Es scheint dann ein Leitmotiv Lohses auf: Es ist zu allen Zeiten ein Risiko für die Menschen, sich auf ein Gegenüber einzulassen. Die Begegnung mit dem Du ist ein Wagnis, manchmal bedrohlich; - zuweilen ist sie traumatisch.

Manchmal – immerhin gelingt hier am Ende der Bruderreise eine Befreiungsaktion: - ein Glück.

GEPUNKT

Stephan Lohse: Johanns Bruder – Roman. Suhrkamp Verlag Berlin 2020. 343 Seiten, ISBN: 978-3-518-42959-4, 22,00 €