Bomann-Museum zeigt: Textilien aus dem Nachlass von Arno und Alice Schmidt

Wer jemals bei verstorbenen Eltern oder Großeltern eine Haushaltsauflösung machen musste, wird in der Ausstellung „Vom Wert der Kleidung“ schnell ein Déjà vu haben: Warum nur um alles in der Welt konnten sie sich nicht von ihren Altkleidern trennen? Und dann kommt vielleicht der auratische Kick: Sie hatten eine anscheinend über den Gebrauchswert hinausgehende lebensgeschichtliche Bedeutung. Und wir selbst erinnern uns an den „gelungenen“ Fahrradausflug der Kindheit, bei dem die Mutter genau dieses eine Kleid getragen hat, bevor wir es in den Karton für die Altkleidersammlung oder den Umsonstladen tun.

Ein bisschen kann es auch Besucher:innen so gehen: Den Pullover mit V-Ausschnitt kenne ich z.B. in schwarz-weiß aus einem TV-Interview, das lange Zeit mal bei youtube zu sehen war. Und klar: Die grüne Lederjacke, die für Schmidt-Aficionados eine ähnliche Bedeutung haben wird wie das Woodstock-Fransenhemd für die Fans von Jimi Hendrix.

Und folgerichtig wird zu jedem der einzeln ausgestellten Exponate eine „Geschichte erzählt“, die unterschiedliche Facetten des Gebrauchswerts im Lebensalltag der beiden und im Werk Arno Schmidts beleuchten.

Auf den ersten Blick schon wird deutlich, dass Kleidung mal etwas ganz anderes war als „Fast-Fashion“, nicht Überfluss, sondern in den Nachkriegsjahren ein weiteres Feld der Mangelwirtschaft. Entsprechend wurde sie behandelt und eben auch repariert. Zu einem Wollpullunder aus einer amerikanischen Kleiderspende erläutern die Ausstellungsmacher:innen:

„Alice Schmidt stopft und repariert an vielen Abenden zerschlissene Kleidung, während ihr Mann ihr etwas vorliest oder das Radio läuft. Obwohl sie diese Arbeiten sorgfältig und fein ausführt, wirkt der graue Pullunder mit seinen großflächigen Reparaturstellen abgetragen. Da es sich um ein wertvolles Stück aus maschinengestrickter Schurwolle handelt, versucht Alice Schmidt immer wieder es noch zu retten.“

Zu einer Art Berufskleidung des Schriftstellers wird ein schwarzer Pullover aus Shetlandwolle, weil es etliche Fotografien gibt, die Schmidt in diesem Kleidungsstück zeigen. Auch dieses ist oft getragen, was sich nicht nur an den Reparaturen zeigt, „sondern auch daran, dass viele Waschgänge die Farbe von schwarz zu blau verwandelt haben.“

Wie sich Kleidung mit Schmidts Werk verbindet offenbart die Ausstellung am Beispiel eines blauen Regencapes von Alice Schmidt. Es taucht auf im Anfangssatz des Romans Das steinerne Herz: „In unserem Wassertropfen: Ein metallisch blauer Kegel kam mir entgegen; im Visier 2 stumpfe Augenkerne.“ In ihrem Tagebuch schreibt Alice: „Ich kränke Arno zu tiefst, weil ich den >blauen Kegel< in seiner (gewissermaßen) Overtüre für ein Auto gehalten (nach langem nachdenken) und da soll ich mir mein stahlblaues Cape anlegen u. vorn Spiegel treten.“

Mit der Beschreibung, die statt der menschlichen Gestalt nur geometrische Formen benennt, entferne sich Schmidt weit vom konkreten Kleidungsstück, erläutern die Ausstellungsmacher:innen, was auch zeige, wie literarische Texte funktionieren: „Es gibt keine eindeutigen Referenzen auf die außerliterarische Wirklichkeit, auch wenn der Autor selbst das in diesem Fall seiner Frau suggerieren möchte.“

Später, so erfahren die Besucher:innen, legte Schmidt sich Ausschnitte aus Versandhauskatalogen neben die Schreibmaschine und "bekleidete" sein Romanpersonal mit den abgebildeten Stücken.

Äußerst gelungen ist, wie über großflächige Medieninstallationen eine Meta-Ebene in den Ausstellungsraum eingebracht ist, die mit Fotos und allgemeineren Texten eine Auseinandersetzung über den „Wert der Kleidung“ anregt.

Die Auswahl der Exponate aus den über 1.000 Kleidungsstücke von Arno und Alice Schmidt war wahrscheinlich auch dadurch bestimmt, was über die einzelnen Stücke an Informationen verfügbar war. Was anfangen mit dem Rest? Die „Lösung“ überzeugt. Wie in einem altmodischen Bekleidungshandel werden sie in einem Regal von 20 Metern Länge präsentiert. Und die Besucher:innen fragen sich, wie das alles in dieses kleine Bargfelder Häuschen passte.

Und auch hier begegnet uns ein frappanter Gegensatz zu aktuellen Fast-Fashion-Gepflogenheiten. In den Schränken greifbar war jeweils nur die jahreszeitlich passende Bekleidung. Im Frühjahr verpackte das Paar die Winterkleidung , um es in Kisten auf dem Dachboden und Schuppen zwischenzulagern, wohin dann im Herbst die Sommerkleidung verschwand.

In diesem Regal ist die überwiegende Zahl der Stücke von Alice Schmidt, und die Ausstellungsmacher:innen fragen sich, zu welchen Gelegenheiten Alice Schmidt all diese Stücke getragen hat: „Angesichts der dörflichen Zurückgezogenheit, in der das Paar lebte, verwundert es nicht, dass viele der neueren hochwertigen Textilien fast unbenutzt wirken. Sie werden allenfalls bei den seltenen Ausflügen und Besuchen zu Ehren gekommen sein.“

Aber sie stellen auch eine weitere Vermutung an, die uns wieder an den Anfang dieser Betrachtung führt. Das älteste erhaltene und fotografisch dokumentierte Stück in der Sammlung sind Rock und Bluse (siehe Foto oben), die Alice bereits 1937 getragen – und dann bei Flucht und allen weiteren Umzügen mitgenommen hat. Es gibt kein einziges Nachkriegsfoto, das sie in diesem Ensemble zeigt: „Doch sie hat sie, möglicherweise als Erinnerung an Schlesien, sorgsam verwahrt.“

Vom Wert der Kleidung
Textilien aus dem Nachlass von Arno und Alice Schmidt
Eine Ausstellung der Arno Schmidt Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Bomann-Museum Celle. Kuratiert von Susanne Fischer, Friedrich Forssman und Hilke Langhammer.
Noch bis zum 7. Juni 2022 – Begleitveranstaltungen siehe Seite 24; am letzten Samstag im Monat ist der Museumsbesuch übrigens kostenlos (also: 26.2. und 26.3.).