Brutalisierung und Widerstand

Pushback ist Unwort des Jahres 2021. Die Jury kritisiert die Verwendung des Ausdrucks, weil mit ihm ein menschenfeindlicher Prozess beschönigt wird, der den Menschen auf der Flucht die Möglichkeit nimmt, das Menschen- und Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen. Passend dazu hörten wir im Wahlkampf: „2015 darf sich nicht wiederholen.“ Und in Belarus werden weiterhin etwa 2.000 Geflüchtete unter furchtbaren Bedingungen in Lagern festgehalten, teilweise mit Nummern angesprochen und in Handschellen vorgeführt.

Seit im „langen Sommer der Migration“ 2015 Hunderttausende die Grenzen Europas überwanden, ist das europäische Grenzregime grundlegend verändert worden. Was einhergeht mit einer zunehmenden Brutalisierung der Grenzschutzpraktiken und einer Politik des aktiven Sterbenlassens an den Außengrenzen. Parallel dazu erstarken im Inneren Europas rechte Bewegungen und Regierungen. Und obwohl die post-migrantische Gesellschaft der Vielen in Europa längst soziale Realität geworden ist, ist das neue Grenzregime weiter von Rassismus geprägt. Doch auch die Kämpfe um Teilhabe und Bewegungsfreiheit haben sich seit 2015 weiterentwickelt. Neue Allianzen haben sich entwickelt, die für radikale Vielfalt und Offenheit eintreten.
Mit diesen Entwicklungen befasst sich der jetzt im verlag Assoziation A erschienene vierte Band der Reihe „Grenzregime“. Das vielleicht Erstaunlichste ist, dass es eine deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft gibt, die sich derart facettenreich und kritisch mit der Brutalisierung der Grenzregime befasst. Die 19 Aufsätze versuchen mit unterschiedlichen Perspektiven das Spannungsfeld zu begreifen zwischen der europäischen Ausgrenzungspolitik und den Kämpfen um Bewegungsfreiheit.

Hier sollen im folgenden nur zwei Begriffe vorgestellt werden, die die Entwicklung der letzten Jahre zu fassen versuchen:

Die Migrationspolitik Europas ordnet der Politikwissenschaftler Fabian Georgi einem „autoritären Festungskapitalismus“ zu: Die Insel relativen Wohlstands soll repressiv und festungsgleich nach innen und außen abgesichert werden. Unkontrollierte Mobilität soll verhindert werden, dies auch um für die eigenen Bevölkerungen Akzeptanz für eine regulierte Arbeitsmigration herzustellen. Und daneben ist mit dem Ausbau des Sicherheitssystems auch Profit zu machen.

Dagegen steht „Bewegungsfreiheit“ als emanzipative Perspektive. Doch worum geht es bei dieser Kernforderung migrantischer Kämpfe? Da steht zum Beispiel ein „open borders“-Ansatz, der – sehr kurz gefasst – die Grenzen öffnen will, einer „no borders“-Forderung gegenüber, die auf die Abschaffung von Grenzen zielt. Abgesehen von all den damit verbundenen Problemen, drängt sich hier die Frage der Umsetzbarkeit in den Vordergrund. Anstatt sich an den Grenzen „abzuarbeiten“, hat vielleicht ein anderes Verständnis von Bewegungsfreiheit mehr Wirkmacht: Flucht nicht nur als Reaktion auf politischen und ökonomischen Druck aufzufassen, sondern als „kreative Subversion“, die – wie im Sommer 2015 – Machtverhältnisse nicht erduldet, sondern beeinflusst. Dies beschreiben Autor:innen des Bandes an etlichen Beispielen.

Dazu gehört auch „Der städtische Raum als regionales Laboratorium des Widerstands“ – so die Überschrift eines Kapitels, in dem auf „solidarische Städte“ geschaut wird (und hier exemplarisch auch auf Palermo).

Wer sich gegen Festungskapitalismus und für Bewegungsfreiheit engagiert, findet in diesem Band also Unterstützung dabei, die Welt und ihre Widersprüche vielleicht besser zu verstehen.

Hänsel | Heyer | Schmidt-Sembdner | Schwarz (Hg.): Von Moria bis Hanau – Brutalisierung und Widerstand. Grenzregime IV. Assoziation A, ISBN 978-3-86241-482-6, 440 Seiten, 22,00 Euro