Rede von Jens-Christian Wagner auf der Kundgebung von "Gelebte Demokratie" am 26.2.2022

Seit fast zwei Jahren ist unser Leben von der weltweiten Corona-Pandemie geprägt. Zum Schutz vor Ansteckungsgefahren mussten wir alle weitreichende Einschränkungen in Kauf nehmen; persönliche Kontakte wurden reduziert, Restaurants und Geschäfte mussten vorübergehend schließen, kulturelle Ange­bote wurden herunter­gefahren. Für viele Menschen bedeutete und bedeutet das eine große Belastung. Dennoch erträgt die große Mehrheit der Bevölke­rung die Belastungen solidarisch, denn sie weiß: Nur mit gegenseiti­ger Rücksicht­nahme und gesellschaftlichem Miteinander kann es uns gemeinsam gelingen, die Pandemie zu überwinden.

Das bedeutet nicht, dass Kritik an den Maßnahmen nicht legitim wäre. Im Gegenteil: Kritik an staatlichen Maßnahmen gehört zu einer funktionierenden Demokratie. Dem Recht auf freie Meinungs­äußerung und dem Demonstra­tionsrecht kommt weiterhin eine fundamentale Bedeutung zu; der Respekt gegenüber anderen Meinungen und Personen bleibt weiterhin eine wichtige Grund­voraussetzung für das gesellschaftliche Miteinander.

Doch bei den „Spaziergängen“, auch in Celle, und in den einschlägi­gen Inter­net-Foren geht es vielen längst nicht mehr nur um Kritik an einzelnen Infek­tionsschutzmaßnahmen, sondern darum, die liberale, plurale, demokrati­sche und solidarische Gesellschaftsordnung an sich zu delegitimieren. Ganz offen marschieren landesweit bei den „Spazier­gängen“ Rechtsextreme und „Reichsbürger “ mit (auch in Celle), werden Desinformation, Wissenschaftsfeindlichkeit und Antisemitismus verbreitet.

Was mich als Historiker mit am meisten besorgt, ist der notorische Geschichtsrevisionismus, der von „Spaziergängern“ und „Corona-Kritikern“ verbreitet wird. Infektionsschutzmaßnahmen werden mit dem Holocaust gleichgesetzt, und es wird behauptet, wir lebten in einer „Corona-Diktatur“. Lassen Sie mich von einigen Beispielen aus meinem beruflichen Umfeld in Weimar berichten: Schon vor einem Jahr, im Februar 2021, legten die „Bürger für Deutschland“ am Buchenwald-Platz in Weimar einen Kranz nieder, auf dessen Schleife der „Opfern des Nationalsozia­lismus und der Opfer der sich totalisie­renden Diktatur“ gedacht wurde – eine geschmacklose Gleichsetzung von NS und angeblicher „Corona-Diktatur“.

Knapp drei Monate später, am 1. Mai 2021, veranstalteten „Quer­den­ker:innen“ in Weimar eine bundesweite Demo unter dem Hashtag „Weiße Rose 2021“ und setzten ihren Protest mit dem Widerstand der Gruppe um die Geschwister Scholl gleich.

Ihren Tiefpunkt erreichten die NS-Gleichsetzungen mit einer Welle von etwa 250 Hassmails, die uns aus dem Milieu der „Maßnahmen­kritiker“ erreichten, nachdem wir im vergangenen November den behördlichen Vorgaben folgend für den Besuch der Ausstellungen in Buchenwald die 2G-Regel eingeführt hatten (eine Maßnahme, die mittlerweile übrigens wieder aufgehoben ist).

Sie seien die neuen Juden, schrieben uns etliche Impfgegner:innen, und wir Gedenkstättenmitarbeiter seien die neuen Nazis und Faschis­ten. Auch als Dr. Mengele wurde ich bezeichnet – eine Anspielung auf die pseudomedizi­nischen Menschenversuche in den Konzentrations­lagern, mit denen die Corona-Schutzimpfung gleichgesetzt wird. Diese sei, so kann man in den einschlägigen Telegram-Kanälen lesen, ein weltweiter Großversuch, bei dem Geimpfte als unfreiwillige Versuchskaninchen missbraucht oder, noch schlimmer, gezielt ermor­det würden: der angebliche „Impf-Holocaust“ mit der „Giftspritze“.

Dass sie sich selbst als neue Juden bezeichnen, hindert die Leute nicht daran, im selben Atemzug antisemitische Verschwörungslegen­den zu verbreiten. Ob sie nun „New World Order“, „Deep State“ oder „The Great Reset“ heißen oder behaupten, die globalen Eliten und ihre „Mainstream“-Medien planten, uns mittels 5G-Strahlung gleich­zuschal­ten – immer schließen diese Mythen an die klassischen antise­mitischen Verschwö­rungserzählungen an, bei welchen reiche Perso­nen oder Familien – meist jüdi­schen Glaubens wie George Soros oder die Rothschilds – oder auch finstere Gestalten wie die Illuminaten die Weltherrschaft anstreben oder sichern wollen.

Eine der schlimmsten und zugleich absurdesten Erzählungen ist sicherlich der QAnon-Mythos, also die Erzählung, finstere Gesellen um Hillary Clinton würden Kinder in unterirdischen Verließen gefan­gen halten, sie sexuell missbrauchen und zu rituellen Zwecken ihr Blut trinken. Das ist nichts anderes als die jahrhun­dertealte antisemi­tische Legende vom jüdischen Ritualmord.

Solche Legenden und ein notorischer Geschichtsrevisionismus werden nicht nur in Weimar oder Thüringen, sondern überall in Deutschland verbreitet, auch bei „Celle steht auf“. Lassen sie mich einige Beispiele nennen:

• Ungeniert teilen die Administratoren ihres Telegram-Kanals Chats, die aus dem QAnon-Milieu stammen.

• Auch Chats des radikalen Antisemiten Attila Hildmann wurden schon geteilt, wie auch Videos, in denen von der Weltverschwö­rung der „Rothschilds“ geraunt wurde.

• Erst vor zwei Wochen postete „Celle steht auf“ – in Anlehnung an das einschlägig bekannte Londoner Wandbild von Mear One – eine widerliche Zeichnung mit unverkennbar antisemitischen Klischees.

• Unwidersprochen laufen bei „Celle steht auf“ Reichsbürger mit Plakaten mit, auf denen behauptet wird, in Deutschland herrsche ein Besatzungsregime (Shaef). Nur noch das Militär könnte uns retten.

• Immer wieder wird bei „Celle steht auf“ mit falschen historischen Analogien der Nationalsozialismus verharmlost. „Inzidenz 1933“ war erst kürzlich auf Plakaten zu lesen, oder auch: „‘Sowas darf nie wieder passieren‘, sagt der Deutsche und schaut zu, wie es wieder passiert“.

• Dazu passt auch mein letztes Beispiel: Vor zwei Wochen, bei der Jubiläumsdemo von „Celle steht auf“ zu seinem einjährigen Geburtstag, berichtete ein gewisser Reinhard (ich vermute, es handelt sich um den „Basis“-Aktivisten Reinhard Thomas) davon, er schreibe derzeit ein Buch mit dem Titel „Worte für Freiheit“, das im Buchladen einmal neben Titeln wie „Celle im Nationalsozialismus“ stehen werde. Zudem schwadronierte er von den „Eliten“ (einer beliebten Chiffre für „die Juden“), die als „Fratzen der Macht“ der „vielköpfigen Hydra glichen, die man Herakles gleich enthaupten“ müsse – nur notdürftig verklausulierte antisemitische Hetze.

Statt sich von solchen belegbaren Positionen zu distanzieren, behaupten die Vertreter:innen von Celle steht auf, Antisemitismus­vorwürfe seien aus der Luft gegriffen und sie würden ungerechtfer­tigt in die rechte Ecke gestellt. Und dann beklagen sie, sie würden ausgegrenzt und die Gesellschaft sei gespalten.
Das ist ein Agitations­muster, das wir von der AfD kennen: Erst werden ganz bewusst Tabus gebrochen, ganz häufig, indem der Holocaust verharmlost wird, um sich dann nach berechtigter Kritik als Opfer angeblicher Ausgrenzung zu inszenieren. Um es ganz deutlich zu sagen: Spalter sind diejenigen, die mit bewussten Tabubrüchen den demokratischen Diskurs verlas­sen – und nicht diejenigen, die darauf aufmerksam machen.

Sicherlich sind bei weitem nicht alle, die NS-Gleichsetzungen und Verschwö­rungslegenden verbreiten, Rechtsextremisten oder Neo­nazis. Das zu behaupten wäre erstens falsch und würde es uns zweitens zu einfach machen. Tatsächlich kamen etliche Hassmails, die uns in Buchenwald erreichten, von Menschen aus einem esoterisch-anthroposophischen Milieu, Leuten, die jeden Verdacht zurückweisen würden, sie hätten etwas mit Neonazis zu tun.

Man muss aber deutlich festhalten: Wer Corona-Schutzmaßnahmen mit den NS-Verbrechen gleichsetzt, verharmlost den Holocaust. Und wer das macht oder wer antisemiti­sche Verschwörungslegenden verbreitet, spielt den Rechtsextremis­ten in die Hände – und damit auch Leuten wie Björn Höcke, die den angeblichen „Schuldkult“ geißeln und sich eine „erinnerungs­politische Wende um 180 Grad“ wünschen. Nicht umsonst mischen AfD-Politiker bei den Corona-Protesten mit, und nicht umsonst betäti­gen sich Neonazis (NPD, Dritter Weg) als Strippenzieher in Gruppen wie den Freien Sachsen, im Internet befeuert von „alterna­tiven Medien“, die systematisch Desinformation betreiben.

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist ein Grund­pfeiler unserer Demokratie. An diesen Grundpfeiler legen diese Leute die Axt an. Mit Holocaust-Verharmlosung und antisemitischen Verschwörungs­legen­den versuchen sie gezielt, die liberale Demokra­tie und die offene Gesell­schaft zu bekämpfen. Welche Folgen solche Verschwörungserzählungen haben, zeigen nicht zuletzt die Mord­anschläge von Halle und Hanau.

Diese Entwicklung erfüllt mich mit großer Sorge. Die Corona-Proteste sind gewissermaßen die Einstiegsdroge in eine Szene, die für Sach­argumente, wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung und demo­kratischen Diskurs nicht mehr zugänglich ist. Heute sind es die Corona-Schutz­maßnahmen, gegen die sich die Szene im Widerstand wähnt, morgen ist es die sogenannte Klima­lüge oder es sind, wie schon nach 2015, wieder die Geflüchte­ten und der angebliche Bevöl­kerungsaustausch, gegen den zu Felde gezogen wird.

Worauf ich hinaus möchte: Das demokratische Fundament unserer freiheitli­chen, offenen Gesellschaft erodiert. Ich will nicht alarmistisch klingen. Noch steht die große Mehrheit der Bevölkerung zum Rechtsstaat. Die „Spaziergän­ger“ und Corona-Kritiker sind eine Minderheit. Das kann sich aber, wenn wir ihnen nicht laut und deutlich wider­sprechen, schnell ändern. Die Entwicklung in Ländern wie Brasilien oder USA zeigt, wie schnell sich die Menschen hinter Leuten wie Trump und Bolsonaro versammeln können, notorischen Demagogen, die den demokratischen Austausch von Sachargumen­ten durch Hetze und offenkundige Lügen ersetzt haben.

Einer solchen Entwicklung müssen wir uns offensiv entgegenstellen. Mit denen, die noch nicht weggekippt sind, müssen wir das Gespräch suchen. Denen aber, die Antisemitismus, Hass und Geschichts­revisio­nismus verbreiten, denen, die – gewissermaßen sektengleich – den Austausch von Sachargumenten durch evidenzbefreiten Verschwö­rungsglauben ersetzt haben, denen sollten wir eine klare Absage erteilen: Schützen wir in der Pandemie nicht nur uns und andere, sondern auch unsere demokratische, offene, freie und solidarische Gesellschafts­ordnung.