Sven Hanuschek auf fast 1000 Seiten zu Leben und Werk
Wer sich irgendwann mal ein bisschen mehr als ein bisschen für Arno Schmidt interessiert hat, wird die Biografie von Sven Hanuschek mit Gewinn lesen. Dem Münchener Germanisten ist es auf fast 1000 Seiten hervorragend gelungen, das Leben Arno Schmidts aufzufächern und darüber auch interessante und neue Aufschlüsse zum Werk zu eröffnen.
Ein Geständnis vorab: Ich hatte Zettels Traum zwar bald nach Erscheinen auf dem Tisch liegen, aber gelesen … das wäre übertrieben. Auf Empfehlung eines Mitschülers hatte ich aber die Kurzromane aus den 1950er Jahren … naja: verschlungen wäre auch eine Übertreibung. Zettels Traum wurde dann in der Stadtbibliothek nur gegen Unterschrift ausgeliehen, weil: „besonders wertvoll“, womit aber der Preis gemeint war. Dieses unhandliche Stück Literatur gab zwar einen Eindruck davon, dass hier ein Groß-Schriftsteller am Werk war, aber leider irgendwie auch unlesbar. Das Buch hatte was von Free-Jazz (schräger Vergleich): irgendwie spannend, aber voraussetzungslos ungenießbar.
Hanuschek macht mir Appetit auf einen weiteren Versuch. Denn das ist eine ganz starke Seite der Biografie. Sie vermag genau die Zusammenhänge zu Leben und Entstehungsprozess herauszuarbeiten, die zu einer (erneuten) Lektüre anregen und beitragen zu einem besseren Verständnis. Darüberhinaus versteht Hanuschek sein germanistisches Handwerk, kann also auf Feinheiten hinweisen genauso wie ins große Ganze einordnen. Hier paar Einblicke:
Es dauerte bis in die 1960er Jahre, bis die Schmidts die materiellen Not hinter sich lassen können. Schmidt erhielt zwar gute Besprechungen und die Anerkennung vieler Kolleg:innen, aber in den Auflagen machte sich dies nicht bemerkbar. Am Anfang stand ein schwieriges Verhältnis zum Rowohlt-Verlag, das Hanuschek über Korrespondenzen und Tagebucheinträge von Arno und Alice differenziert nachzuzeichnen weiß. Erst mit Das Steinerne Herz (1956) hatte sich mit Stahlberg ein Verlag gefunden, bei dem in der Folge ein Dutzend Bücher erschienen, allerdings mit übersichtlichen Auflagen um die 3000. Das finanzielle Überleben sicherten Radio-Essays, Zeitschriftenbeiträge und Übersetzungen englischsprachiger Literatur. Lizenzausgaben über den Fischer-Verlag ab 1965 wie die Gelehrtenrepublik oder Seelandschaft mit Pocahontas begannen mit Startauflagen über 20.000. Vom Schreiben leben zu können, dafür brauchte es einer gewissen Umtriebigkeit, die Arno Schmidt – gewissen Klischees über ihn widersprechend – durchaus entwickelte.
Seelandschaft mit Pocahontas habe ich, angeregt durch die Ausstellung zu Schmidt 100-Jährigem im Bomann-Museum gelesen. Eingebettet in eine umfangreichen Beschreibung des Entstehungszusammenhangs liefert Hanuschek auf sechs Seiten eine eine Interpretation, die ich fast spannender finde als den Roman. Bernd Rauschenbach sah den Roman als einen „Hallraum voller Bedeutungen“, den Hanuschek für uns mit seinem feinen Germanistenbesteck freilegt.
Ein Bonmot ist Hanuschek hinsichtlich der Beziehung Arno Schmidts zu seiner Frau Alice gelungen: „[…] ein streng monogam lebender Mann [...], der also im Unterschied zu vielen anderen Künstlern nur eine Frau in seinem Leben unglücklich gemacht hat.“ Die Beziehung der beiden nimmt soviel Raum ein, dass es fast eine Doppelbiografie ist. Es lässt sich dadurch nachvollziehen, wie wichtig Alice für die „Schreibwerkstatt Arno Schmidt“ war. Und auch wie gereizt spannungsvoll die Beziehung des Öfteren war.
Hanuscheks Biografie kann quellengestützt viele der Klischees rund um den Einzelgänger in der Heide widerlegen und ihn als modernen Literatur-“Arbeiter“ kenntlich machen, der ein ganz besonders Werk hinterlassen hat. So ist nicht nur ein lesbares, sondern auch lesenswertes Buch herausgekommen.
Sven Hanuschek: Arno Schmidt. Biografie, 992 Seiten, Hanser 2022, ISBN : 978-3-446-27098-5, € 45,00 (D)
Foto: Quirin Hanuschek // Bild: RWLE Möller: Fränzel (zu Arno Schmidts >Zettels Traum<), 1984/85 – Öl auf Leinwand, 100 x 100 cm - mit Erlaubnis durch die RWLE Möller Stiftung