Soziale Wohltat, Einstieg in die Verkehrswende oder nur ein Feigenblättchen?

Nachdem die „Zeitenwende-Koalition“ den fossilen Energie-Konzernen einen Extra-Profit in Form des Tankrabatts gewährte, regte sich ein Restchen rot-grünen Gewissens und es wurde für Juni, Juli und August ein „Neun-Euro-Ticket für Alle“ beschlossen. ÖPNV sowie alle Nah- und Regionalzüge konnten deutschlandweit, über alle Regionen und Verkehrsverbundgrenzen hinweg, jeweils einen Monat lang für nur 9 Euro genutzt werden.
Endlich Mobilität für alle?

Viele Geringverdiener:innen und andere in prekären Verhältnissen lebende Menschen können sich bislang nicht einmal Mobilität per ÖPNV leisten. Für diesen Personenkreis wurde das 9-Euro-Ticket tatsächlich zum „Blick ins Paradies“. Viele Familien konnten sich erstmals wieder einen größeren Ausflug, wenn auch in überfüllten Zügen. Und auch die jungen, in Schule oder Ausbildung befindlichen Inhaber:innen von Monatstickets konnten oft erstmals eine ihr Tarifgebiet überschreitende Mobilität genießen.

Verkehrsverbünde als Mobilitätsschranke

Wer sich einen Pkw leisten kann, kommt – außer im Stau stehend – jederzeit überall hin. Wer auf den ÖPNV angewiesen ist, stößt auf Bezahlgrenzen oder landet an Endhaltestellen ohne Anschluss an das Nachbarnetz. Für eine Strecke von 10 km, die mit dem Pkw in Minuten­schnelle zurückgelegt sind, ist man/frau mit dem Bus dann schon mal zwei Stunden und 50 km unter­wegs – und gibt in der Regel mehr Geld aus als mit dem Auto. Dieser Missstand wird durch das 9-Euro-Ticket Experiment bestätigt: Plötzlich waren Millionen Menschen verbundüber­greifend unter­wegs, oder nutzten statt ÖPNV-Bussen für größere Strecken gleich die Regional­züge. Das zeigt, was nötig wäre: Solange Öffent­licher Ver­kehr Aufgabe von Ländern, Landkreisen und Kommunen bleibt, statt zu einer zentralen bundes­ein­heitlichen Aufgabe zu werden, wird es mit der für Treibhausgas-Null nötigen Verkehrswende nicht wesentlich vorangehen.

Überlasteter ÖPNV in den Ballungsgebieten

Deutschlandweit wird seit Jahren und auch aktuell in Niedersachsen die Einführung eines 365 Euro-Tickets diskutiert. Das wäre zwar billiger als viele Monatskarten, würde die Nutzung aber immer noch auf bestimmte Verkehrs­verbünde beschränken. Deshalb würde auf dem mit ÖPNV nur schlecht erschlossenen flachen Land ein 365 Euro Ticket nur eine sehr beschränkte Anzahl der Pkw-Nutzer zum ÖPNV locken.

Das 9-Euro-Ticket hob diese Beschränkungen auf, stieß aber genau deshalb in vielen Ballungsgebieten auf Kritik. Ob „Ruhrgebiet“ oder z.B. München, der ÖPNV ist vielerorts bereits so überlastet, dass zusätzliche Fahrgäste momentan unerwünscht sind. Für diese Gebiete gilt, nicht der Fahrpreis und der Geltungsbereich ist das vorrangige Problem, sondern der Mangel an Strecken, Fahrzeugen und Personal. So lehnte z.B. die Stadt München die Einführung eines 365 Euro Tickets ab, weil der ÖPNV so überlastet sei, dass, wer Termine pünktlich wahrnehmen will, mindestens eine oder besser zwei S-Bahnen früher nehmen muss. Und statt ca. 200 Mio. Euro Zuschuss von Land oder Bund (was für das Billig-Ticket nötig wäre) bräuchte die Stadt München erstmal die nächsten 15 Jahre pro Jahr mindestens eine Mrd. Euro Zuschuss von Land oder Bund für den Ausbau des ÖPNV. Für das gesamte Land Bayern hat sogar der CSU-Verkehrsminister für die nächsten acht Jahre einen Betrag von 3,1 Mrd. pro Jahr ausrechnen lassen, der „eigent­lich“ zusätzlich zu bereits laufenden Projekten in Ausbau und Renovierung von ÖPNV und S-Bahnen investiert werden müsste. (Für Niedersachsen liegen uns leider keine Zahlen vor).
Für den Landkreis Celle gilt: Für die außerhalb der Stoßzeiten und in den Schulferien zu wenig aus­gelastete CeBus hat das 9-Euro-Ticket zu einer erhöhten Nutzung geführt; und mit der Ausgleichszahlung durch den Bund (2,5 Mrd. bundesweit an alle Verkehrs­verbünde und die Regional-Bahnen) dürfte das Billig Ticket sogar eher ein temporäres Plus für CeBus bringen.

Marode Bahnstrecken, fehlendes und überlastetes Personal

Ganz scharfe Kritik am 9-Euro Ticket kommt von Seiten der Bahngewerkschaften. Denn schon vor dem 9-Euro-Ticket waren bestimmte Regionalzüge zu den Tagesrandzeiten und an den Wochen­enden überlastet. Die nun zusätzlich ein- und aussteigenden Fahr­gäste machten die Einhaltung der Haltezeiten oft unmöglich, so dass die Pünktlichkeit und die Erreich­barkeit von Anschluss­zügen sowohl der Regionalzüge als auch der Fernzüge (ICE und IC) auf das Niveau der Schnee­katastrophen-Winters 2010 absank. Verspätete Regionalzüge bremsen mangels Überhol- und Ausweichgleise die Fernzüge, bzw. der verspätete Regionalzug erreicht nicht mehr den Anschluss an den Fernzug.

Die von verblendeten Marktwirtschafts-Ideologen bewirkte Privatisierung der Bahn (Aktiengesellschaft seit 1994) führte in den letzten Jahrzehnten zu einer großflächigen Zerstörung der Bahn-Infra­struktur. Der Neubau einiger weniger Hoch­geschwindigkeitsstrecken und der Aufbau einer ICE-Flotte kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass 15.000 km Bahnnetz stillgelegt wurde. Ja, auch auf noch weiterbestehende Bahnstrecken wurden systematisch Ausweich- und Überhol­gleise abgebaut. In den meisten Fällen um den freigewordenen Grund an Immobilienhaie zu ver­scherbeln. Gleichzeitig sind ca. 1.100 (ca. 35%) der Bahnbrücken marode und müssten erneuert werden. Dasselbe gilt auf weiten Strecken für Schwellen und Gleisbett. Sowohl für die not­wendigen Reparaturen im Bestand, als auch für die Wiederherstellung von Ausweich- und Überholstrecken als auch den Bau neuer zusätzlicher Strecken, so wie für die Elektrifizierung von Dieselstrecken usw. bräuchte die Bahn nicht nur die derzeit oftmals zitierten 50 Mrd., sondern mindestens 150 Mrd. Euro.
Angesichts dessen schmeißt aus Sicht der besorgten Bahnmitarbeiter:innen die Politik mit einem 2,5 Mrd. Strohfeuer für das 9-Euro-Ticket das Geld zum Fenster raus. Und der derzeit besonders große Personalmangel bzw. hohe Krankenstand bei der Bahn liegt offen­sichtlich nicht nur an Corona. Wer lässt sich schon gerne als Mit­arbeiter:in des Schrottunternehmens Bahn tagaus tagein anpöbeln?

Fluch der Provinz: Was nicht da ist, kann auch für 9 Euro nicht genutzt werden

Selbst auf dem flachen Land, wo bislang der Pkw als selbstverständliche Voraussetzung und Garant der Mobilität galt, kommt angesichts dauerhaft steigender Treibstoffpreise die Liebe zum Automobil ins Wanken. Zumal sich Viele gar nicht leisten können, auf einen teuren E-Pkw umzu­steigen. Aber wo keine Bahn- oder Busanbindung existiert, oder wo der Bus nur zwei- bis dreimal am Tag und am Wochenende gar nicht fährt, hilft auch kein 9-Euro-Ticket. Wer die Verkehrswende ernst nimmt, weiß, dass 50 Mio. Verbrennungs-Pkws nicht durch 50 Mio. E-Pkws ersetzt werden können. Stattdessen muss der ÖPNV auch auf dem flachen Land zu einer gut nutzbaren Alter­native für Alle werden. Statt starrer Großbus-Linien oder zu deren Ergänzung müssen Shuttle-Dienste, zeitlich und räumlich flexible Ruf-Bus-Systeme sowie öffentlich gefördertes E-Car-Sharing auch auf dem Land bezahlbare Mobilität für Alle schaffen!

Das 9-Euro-Ticket – ein Signal, was eigentlich getan werden müsste!

Kurzum, das 9-Euro-Ticket hat sicherlich vielen Menschen bezahlbare und durch keine Bezahl- und Verkehrsbünde beschränkte Mobilität erlebbar gemacht. Auch wenn jetzt gefordert wird, das 9-Euro-Ticket zu verlängern oder andere preisgünstige Tarifzonen überschreitende Tickets ein­zuführen, ist das sicher nicht falsch. Würde man das bundesweit gültige 9-Euro-Ticket zum bis­herigen Preis weiterführen, läge der jährliche staatliche Finanzierungsbedarf bei ca. 10 Mrd. Euro, sagt das Verkehrsministerium. Allein durch die Abschaffung des Dienstwagen-Privilegs (6 Mrd. Euro) und der Steuervergünstigung für Diesel (8,2 Mrd. Euro) könnte das locker finanziert werden.