Interview mit „Solidarische Initiative Neuenhäusen“ zur Sanierung der Breiten Straße

Die Würfel sind gefallen. Auf der letzten Ratssitzung vor der Sommerpause entschied sich eine knappe Mehrheit von 20 gegen 19 Stimmen gegen eine Befassung mit den Sanierungsvarianten für die Breite Straße. Oberbürgermeister Dr. Nigge setzte sich so mit seiner Auffassung durch, dies sei eine Angelegenheit der Verwaltung – sprich: weder Rat, noch Bürger:innen sollten sich da weiter einmischen. Gebaut wird jetzt also jene Variante, die die „Entnahme“ (so die Sprachregelung der Verwaltung) aller alten Linden zur Voraussetzung hat.

Für den Erhalt der Linden hatte sich zuletzt auch die „Solidarische Initiative Neuenhäusen“ eingesetzt. Wir sprachen mit Kia und Nora.

??: Ein Argument seitens der Stadt ist, dass elf Bäume seien „abgängig“ seien. Und in der CZ behauptete Jens Hanssen (Fachdienstleiter Grün-, Straßen- und Friedhofsbetrieb), dass 31 weitere leichte bis mittelstarke Schäden aufweisen und deren Lebenserwartung laut externem Baumgutachter auf maximal 10 bis 15 Jahre geschätzt werden würde. Ihr habt euch daraufhin das Gutachten angeschaut. Mit welchem Ergebnis?

Nora: Gemeinsam mit einer Baumpflegerin habe ich das Baumgutachten im Rathaus eingesehen. Dem neunseitigen Gutachten 6420 des Sachverständigenbüros Venzke zufolge sind nur zwei Bäume als „abgängig“ eingestuft, nämlich die im April bereits gefällte Linde Ecke Ohagenstraße sowie die Linde vor der Mauer der Hausnummer 17. Diese zwei hatten als einzige Bäume die schlechteste Vitalitätsstufe 4 und waren als „nicht erhaltenswert“ klassifiziert. Dabei ist zu erwähnen, dass die vorletzte Klasse 3 gar nicht vorkommt. Alle sonstigen Bäume der Breiten Straße bewegen sich zwischen Stufe 0 (sehr gut), 1 und 2. Es heißt in der Zusammenfassung des Baumgutachtens wörtlich: „11 werden als nicht erhaltenswürdig eingestuft. […] Entweder ist die Vitalität nicht mehr ausreichend vorhanden oder es sind Vorschäden da.“ Das bedeutet, dass angesichts umfangreicher Baumaßnahmen diese elf bzw. nun noch neun Bäume jene seien, die als nächstes „abgängig“ werden.

Kia: Dieses Gutachten sagt also nicht, dass elf Bäume „abgängig“ sind, sondern nur zwei. Das finde ich wichtig festzuhalten. Elf Bäume sind anhand der Einschätzung, sie könnten irgendwann bald eventuell abgängig werden, als „nicht erhaltenswert“ markiert. Die Verwaltung hingegen will ungeachtet ihres vorwiegend guten bis sehr guten Zustands alle Bäume fällen lassen.

Nora: Wir haben den Eindruck, dass Rat und Öffentlichkeit hinsichtlich des Zustands der Bäume und des Ergebnisses des Gutachten belogen worden sind. Ohne dass das irgendwelche Konsequenzen hat. Und dann sehen wir Herrn Hanssen in der vorletzten Ratssitzung gewissermaßen auf dem Rückzug. Das sei „eine Aussage, die natürlich mit dem Gutachter abgestimmt und rückgekoppelt worden ist.“ Und weiter: „Der Gutachter war da etwas, etwas vorsichtiger in seiner Einschätzung. Ich bin da etwas pessimistischer.“ Bauchgefühl halt.

??: In dem Gutachten gibt es einige Empfehlungen, die in der Öffentlichkeit unbekannt geblieben sind.

Nora: Die Darstellung in der Öffentlichkeit, dass viele Bäume ohnehin krank seien, lässt sich im Baumgutachten nicht finden. Tatsächlich stellte die Baumpflegerin fest, dass beide Gutachten anstelle von Abholzung und Neupflanzung umfangreiche Maßnahmen zum Schutz der Bäume vorschlagen. Einige dieser Maßnahmen sind ironischerweise jene, die nach Aussagen von Anwohner:innen in den letzten Jahren vernachlässigt worden sind. So heißt es wörtlich: „Die Bruchsicherheit ist durch Totholzbildung an 13 Bäumen zweifelhaft, eine Kronenpflege sollte hier durchgeführt werden.“ Zu behaupten, dass über die Hälfte der Bäume schon fast tot sei, ist wirklich eine überzogene Darstellung und entspricht absolut nicht den Fakten, die das Baumgutachten bereithält. Das Baumgutachten lässt sich eher als ein Baum-Erhaltungs-Gutachten lesen.

??: Warum ist euch der Erhalt der Linden so wichtig?

Kia: Die zwei höchsten Linden der Straße sind 18 Meter hoch. Ihre Kronen verdunsten Wasser, spenden Schatten und schützen so Straße und Umgebung vor Hitze und Trockenheit. Sie filtern die Luft von Schadstoffen und produzieren Sauerstoff, und das um ein Vielfaches besser als junge Bäume. Sie haben sich lange im Ökosystem etabliert und bieten so Lebensraum für diverse Tier- und Pflanzenarten. Bäume, die älter als 40-50 Jahre sind, sollten erst recht geschützt werden. So fordern die Vertreter:innen der Deutschen Gartenamtsleiterkonferenz GALK, also die Kolleg:innen von Hanssen: „Altbäume sind unsere Klimaspezialisten […] Erhalt und Schutz von Altbäumen […] stellen damit zentrale Maßnahmen eines erfolgreichen Klimafolgenmanagements dar“.

??: Welche Argumente gibt es für die Fällung ?

Kia: Geld ist in zweierlei Hinsicht ein relevanter Aspekt. Erstens: Die Kronenpflege, sie wurde ja einige Jahre vernachlässigt, wodurch die Kronen und auch die Wurzeln weitergewachsen sind. Dies führte etwa bei der Bäckerei Pippel zu Schäden an Leitungen. Die Bausubstanz im Keller musste extra abgestützt werden. In der Wahrnehmung wird dadurch die Fällung schnell zur naheliegenderen Option, als Bäume zu erhalten. Die Instandhaltungskosten müssen allein von den Eigentümer:innen getragen werden. Zweitens sei Fällen und Neupflanzen die schnellere und günstigere Sanierungsvariante. Hier fürchten einige, dass die Kosten auf die Eigentümer:innen und ggf. auf die Mieten umgelagert werden könnten. Wir meinen: Um die Lebensqualität insgesamt in den Straßen zu erhalten, muss die Stadt mehr in die Pflege der Bäume investieren und hätte es in der Vergangenheit schon tun müssen.

Nora: Es gab Aussagen, dass das Engagement für den Erhalt des Baumbestands rein emotional geführt werde und Sachlichkeit zu vermissen sei. Man kann sogar einen Vorwurf daraus hören, dass unser Engagement unvernünftig sei, die Abläufe störe und man die Verwaltung einfach ihre Arbeit machen lassen solle. Diese Verurteilung unseres Engagements hinterlässt den Eindruck, dass wir Fragen über den Kern von Demokratie neu aufgreifen sollten. Wir alle wissen, dass das Artensterben und der Klimawandel der Erde zu schaffen machen und die Folgen auch schon jetzt und hier vor Ort spürbar sind. Wer vor diesem Hintergrund Klimafragen ignoriert, ist vielmehr gefährlich wenig emotional und unsachlich.

??: Es geht also um mehr?

Nora: Es geht auch um eine Haltung zur Klimakatastrophe, um eine Haltung zu demokratischem Miteinander, um die Frage, wer uns eigentlich repräsentiert. Es soll eine Bürger:innenbeteiligung gegeben haben? Wir erinnern uns bloß an die distanzierte online-Info-Veranstaltung der Stadt, wo Fragen zu den präsentierten Entwürfen gestellt werden konnten. Die Möglichkeit, online eine Meinung beizutragen, war auf der Webseite nach kurzer Zeit unangekündigt deaktiviert. Dazu wurden die Ergebnisse nicht transparent veröffentlicht. Herr Pippel sprach kürzlich von einer „Eigentümerbefragung“. Das ist erstaunlich – ist die Breite Straße doch von mehr Mieter:innen als Hausbesitzenden bewohnt. Als Bürgerbeteiligung oder gar demokratische Vorgehensweise empfinden viele dieses Vorgehen keinesfalls.

Kia: Die Bürger:innenfragen im Rat haben gezeigt, dass es seitens der Stadt nicht einmal eine detaillierte Kostenschätzung gibt. Dennoch rechnet Hanssen auf Basis von Erfahrungswerten mit Mehrkosten in Millionenhöhe, wenn die Bäume erhalten bleiben. Auffallend ist, dass der Neukauf von über 80 Linden in den Sanierungskosten der Variante 2b nicht mit eingeplant wurde, auch nicht deren Pflanzungen und die jahrelange Pflege. In der letzten Ratssitzung hat die Stadt mitgeteilt, dass diese Kosten bei mindestens 300.000 Euro liegen könnten. Vor diesem Hintergrund kann von einem Kostenvergleich zwischen allen Varianten nicht die Rede sein. Dazu kommen Sorgen der Anwohnenden in Bezug auf die Umsetzung des Schwammstadtprinzips, auf die die Verwaltung bislang keine fundierten Antworten liefern konnte. Beim Denkmalschutz verweist die Stadt auf die Kompetenz ihrer unteren Denkmalschutzbehörde, ohne sich mit den Bedenken detailliert zu beschäftigen. Mit Seriosität, Transparenz und Kritikfähigkeit hat das aus unserer Sicht nicht viel zu tun. Das Votum von 20:19 Stimmen mit der äußerst knappen Mehrheit der Fraktionen aus CDU, FDP, AFD und Unabhängigen im Rat spricht Bände. Diese von OB Nigge gewünschte Blockade ist nichts anderes als Basta-Politik.

??: Wie sieht es unter den Anwohnenden der Breiten Straße aus? Was sagen sie zu den unterschiedlichen Varianten?

Kia: Wir haben als Ökologie AG der Solidarischen Initiative Neuenhäusen zusammen mit den Parents for Future, der Celler Klima Plattform und attac Celle eine Umfrage in der Breiten Straße gestartet. Unsere Befragung von bislang 27 Haushalten ergab folgendes Bild: 17 sind für den Erhalt der Bäume, also eine klare Mehrheit - sechs sind unentschlossen und vier sprachen sich für Neupflanzungen aus. Bereits in der Online-Infoveranstaltung der Stadt gab es mehrfachen Widerspruch gegen die Baumfällungs-Pläne, per Wortbeiträgen und schriftlich. Heraus kam also ein anderes Bild als die Darstellung in der Celleschen Zeitung, wo behauptet wurde, dass die Mehrzahl die Verwaltungs-Variante unterstützen würde. Wir haben nicht alle Haushalte angetroffen, aber mit wem die Stadt gesprochen haben will, um zu solchen Behauptungen zu kommen, ist nicht nachvollziehbar.

Nora: Dies bestärkt uns, eine Perspektive aus der Gesellschaft, aus Neuenhäusen, weiterhin stark zu machen. Wir zeigen, dass ökologische und wirklich demokratische Entscheidungen für die Menschen in Neuenhäusen und darüber hinaus viel wichtiger sind, als die Behauptungen aus dem Rathaus den Anschein machen sollen. Und es ist erfreulich zu sehen, dass wir mit unserem Widerspruch gegen die Abholzung der alten Lindenallee mit vielen Anwohner:innen und Celler:innen zusammenstehen. Trotz des Ratsbeschlusses werden wir nicht aufgeben. Wir werden weiterhin von der Verwaltung Transparenz einfordern und unbequem bleiben.