Celler Querdenker packt seine Reden zwischen Buchdeckel

Wenn die Celler „Querdenker“ demnächst Eingang finden in die soziologische Forschung, so haben sie dies ihrem „Vordenker“ zu verdanken. Der pensionierte Studienrat Reinhardt Thomas, der zu ihren Versammlungen sein sogenanntes „Politik-Magazin >Celle am Mittag<“ beisteuert, hat die meisten seiner Beiträge jetzt in einem Buch versammelt. Titel: „Worte für Freiheit. Politische Reden der Jahre 2020 und 2021“.

Der in Celle geborene und heute in Burgwedel lebende Thomas stellt sich gern vor als „genauso alt wie die Bundesrepublik Deutschland“, aber „in einer besseren Verfassung“. Als ehemaliger Studienrat für Geschichte und Politik überschaue er seit Studienbeginn 1969 ein halbes Jahrhundert deutscher Gegenwartsgeschichte aus „sachkompetenter Perspektive“.

Als Format für seine samstäglichen Redebeiträge hat er das „Magazin Celle am Mittag“ konzipiert, das „live“ von den Kundgebungen aus „gesendet“ wird. Es fand anscheinend Zustimmung bei den Teilnehmenden, denn ab- oder ausgesetzt wurde es nicht.

Dabei ist die „sachkompetente Perspektive“ einigermaßen schräg. Am Kompaktesten findet sie sich in einem Beitrag vom Mai 2021 unter dem Titel „Despotie 2020“, gleichlautend vorgetragen als Rede bei einer Kreisverbandsversammlung der Partei „Die Basis“ – wir paraphrasieren mal:

Demokratien sind das Ergebnis von Revolutionen, die die Eliten ihrer Macht beraubt haben. Im Zuge einer weltweiten Konterrevolution hat sich eine winzige Gruppe von Kapitalisten die Macht zurückerobert und beherrscht den Globus. Jetzt ist ihr Ziel, Demokratien und Sozialsysteme zu zerschlagen und durch ein inhumanes System, den Trans-Humanismus, zu ersetzen. Dafür nutzen sie als Psycho-Strategie die Neuro-Lingustische Programmierung (NLP). Und das geht so: Die Menschen werden in Angst und Schrecken versetzt mit dem Märchen von einem Killer-Virus. Das Heilsversprechen der Obrigkeit besteht in einen Infektionsschutzgesetz, das zu Gedanken- und Verhaltensnormierung führen soll. Dieses Programm wird mit harten Sanktionen bewehrt. Die Konterrevolution erbaut so via Pandemie einen totalitären Staat nach dem Modell China.

Erstmal durchatmen. Eine Verschwörungsideologie vom Feinsten, die sich im Kern bei der „New World Order“-“Theorie“ bedient, die in Varianten das angebliche Ziel von Eliten und Geheimgesellschaften bezeichnet, eine autoritäre, supranationale Weltregierung zu errichten. Als besondere Zutat in diesem Mix: Mind-Control durch NLP.

Thomas und seine Fans inszenieren sich als Freiheitskämpfer gegen eine totalitäre Herrschaft. „Die gemeinsame Sache ist der Widerstand gegen den heraufziehenden Faschismus“, so Thomas. Die Massenbasis für diesen Faschismus „in neuem Gewand“, das sind für ihn jene, die sich unterwürfig zu Pandemie-Verordnungen verhalten würden. Die Maske ist dabei ihr einigendes Symbol. Einen „Führer“ allerdings hat er nicht identifiziert; die neue globale Elite hat sich da wohl noch nicht festgelegt.

Statt dessen soll’s „das Volk“ richten. „Wir sind das Volk. Wir sind der Souverän – und nicht die Regierung“, feuert Thomas seine Anhänger:innen an. „Brauen wir uns zusammen zu seinem Volkssturm! Seid ihr dabei?“ (Und alle: Ja?) Nur regelt das von ihm so geschätzte Grundgesetz allerdings, dass die Staatsgewalt repräsentativ ausgeübt wird, z.B. durch Bundestag und Bundesrat, Regierungen und Verwaltungen. Aber – so die Sicht des Demokratietheoretikers: Die Regierungen hätten das Grundgesetz gebrochen (indem sie nicht dem „Volkswillen“ gehorchen), und deshalb sei für Demokraten die Zeit gekommen für den Widerstand. Okay, irgendwann wird’s langweilig.

Vieles, wenn nicht das Meiste, was Thomas selbstgewiss vertritt, ist problemlos anschlussfähig an Weltbilder der AfD und der neuen Rechten. (Da braucht es nicht einmal die Stichworte „Gendergaga“, „Great Reset“, die er genauso aufruft wie den Hinweis darauf, dass man die Menschen glauben mache, die „irdischen Temperaturschwankungen“ verhindern zu können.) Das wahrscheinlich Kuriose dabei: Er selbst und viele, die ihm Woche für Woche zuhören, würden die Nähe zu rechts-extremistischen Weltbildern bestreiten.

Denn ja, es gehört auch zur linken DNA, Machteliten in ihren Interessen zu benennen. Wobei es aber im Kern zunächst einmal um störungsfreie Kapitalverwertung geht und nicht um irgendeine „Weltherrschaft“. Und ja: Demokratie hat entmachtet – und zwar den Adel, aber um bürgerliche Herrschaft an dessen Stelle zu etablieren. Wie „Gedanken- und Verhaltensnormierung“ im Kapitalismus gelingt, hat die Kritischer Theorie analysiert; die Pandemiepolitik als neuen Motor von „Gleichschaltung“ auszumachen, wirkt dagegen – sagen wir mal: unterkomplex. Was Thomas betreibt, enthält Elemente einer regressive Kapitalismuskritik; eine Kritik, die meint den Kapitalismus zu verstehen, wenn sie Motivsuche bei den Kapitalisten betreibt. Emanzipativ daran ist nichts.

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Dieses Bild des US-amerikanischen Streetart-Künstlers Mear One trifft den Geschmack (nicht nur) von "Celle-steht-auf". Titel: "False Profits", in deren Telegram-Gruppe es gepostet wurde. Am Tisch sitzen fünf Juden, darunter George Soros und Zbigniew Brezinski, und David Rockefeller, den Mear One wohl für einen hält. Die gespenstische Figurengruppe dahinter zeigt den Gründer des Illuminatenordens Adam Weishaupt, den Freimaurer Albert Pike und zwei Rothschilds. Kurzum: Die Welt wird von Juden und Freimaurern kontrolliert, die Verschwörung von Eliten.

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„Im Liberalismus des früheren Bürgertums, zumindest in seiner Ideologie, blieb für die meisten die grundsätzliche Abhängigkeit von der Gesellschaft verhüllt, etwa wie in der Theorie vom Individuum als der autonom konstituierten und frei sich erhaltenden Monade. Heute ist die Hülle gefallen. Die Prozesse der sozialen Kontrolle sind nicht länger solche eines anonymen Marktes, von dessen Gesetzlichkeit der Einzelne nichts weiß. Die vermittelnden Instanzen zwischen der Direktion der Gesellschaft und den Dirigierten schwinden zusehends, die Einzelnen sehen wieder unmittelbar den Verfügungen sich gegenüber, die von der Spitze ergehen. [...] Aber die Einsicht in die steigende Abhängigkeit wird ungemildert nur schwer ertragen. Gäben die Menschen sie offen zu, so könnten sie einen Zustand kaum länger aushalten, den zu ändern sie doch weder die objektive Möglichkeit sehen noch die psychische Kraft in sich fühlen. Darum projizieren sie die Abhängigkeit auf etwas, das von Verantwortung dispensiert: seien es die Sterne, sei's die Verschwörung der internationalen Bankiers. […] Selbst solche, die für normal gelten, und vielleicht sie besonders, akzeptieren Wahnsysteme: weil diese immer weniger von dem ihnen ebenso undurchsichtigen der Gesellschaft zu unterscheiden, aber einfacher sind.“
Theodor W. Adorno - Aberglaube aus zweiter Hand, GS 8, S. 172