„Bis kein Hahn mehr danach kräht?“

Am 26. August rief das „Junge Forum gegen Antiziganismus“ in Celle zu einer Demonstration unter dem Motto „Gerechtigkeit für Mandy Müller“ auf. Mandy Müller, eine junge Sintiza, ist seit 2008 vermisst; es ist davon auszugehen, dass sie ermordet wurde. Ein bis heute gerichtlich nicht geahndeter Feminizid. Die Rede von Thomas Gatter umfasst sowohl die Geschichte des Feminizids an Mandy Müller, die von antiziganistischem Rassismus strotzenden Polizei-Ermittlungen und die Verschleppung der juristischen Ahndung durch die Celler Staatsanwaltschaft als auch das Thema Antiziganismus in seiner Kontinuität seit dem Kaiserreich. Thomas Gatter ist ein jüdischer Historiker, forschte über Kolonialismus und die NS-Zeit und war bis 2011 Stadt- und Kreisarchivar in Nienburg/Weser. Seit 2011 ist er Vorsitzender des Arbeitskreises Gedenken der Stadt Nienburg.

Liebe Freunde,

vorhin auf der Demo hatte ich ein interessantes Gespräch mit einem Celler Bürger. Er sprach mich an: „Was macht ihr denn hier, wofür marschiert ihr?“ Ich habe es ihm erklärt. Er hörte ganz ruhig zu und fragte dann: „Kann man das unterstützen?“ Sicher kann man das unterstützen, habe ich ihm gesagt, jeder und jede kann das. Man kann sich zum Beispiel hinsetzen und an den Staatsanwalt einen Brief schreiben, dass man nicht damit einverstanden ist, dass der Fall Mandy verschleppt wird. Er meinte, das will er tun. Ob er das wirklich tut, meine lieben Freunde, ich weiß es nicht. Aber vielleicht ja. Und ich erzähle das hier, weil wir es alle tun können, ihr auch. Wenn der Staatsanwalt viele solche Briefe bekommt, dann wird er verstehen, dass nicht nur die Familie Gerechtigkeit für Mandy will, sondern sehr, sehr viele Menschen.

Ich freue mich sehr, dass so viele unserem Aufruf zur Demonstration und zum Protest gefolgt sind. Wir stehen hier, um zu fordern, was das Recht jedes Bürgers und jeder Bürgerin in der Demokratie ist: Gerechtigkeit. Wir fordern Gerechtigkeit nicht für uns selbst. Sondern wir fordern Gerechtigkeit für Mandy Müller. Ihr kennt alle die Geschichte:

Am 13. September 2008 ist Mandy Müller spurlos verschwunden. Sie war 18, gerade verheiratet, nach der Tradition. Sie fuhr von Nienburg mit ihrem Mann nach Celle. Eine Nacht später, am 14. September morgens, gab es sie im Haus ihres Mannes nicht mehr. Die Polizei in Nienburg/Weser, wo Mandy bis dahin wohnte, nahm die Ermittlungen auf. Schon nach kurzer Zeit ging es nicht mehr um eine Vermisste. Sondern der Verdacht lautete auf gewaltsamen Tod, wahrscheinlich Mord. So weit so schlecht. Aber dadurch was dann geschah, setzten die Behörden dem furchtbaren Verlust der Familie noch eine weitere tödliche Verwundung drauf. Im Grunde haben sie damit Mandy ein zweites Mal umgebracht.

Dieser Fall hat eigentlich zwei Kapitel. Das erste Kapitel ist das der Polizei.

[...] Liebe Freunde, was ich im Übrigen sagen möchte, wisst ihr alle. Weil es eure alltägliche Erfahrung ist. Jeden Tag sind Sinti in Deutschland von genau so viel alltäglichem und brutalem Rassismus betroffen wie Schwarze oder Migranten. Ihre Wohnungen werden ohne ersichtlichen Grund durchsucht. Sie werden auf der Straße angehalten und grundlos von der Polizei „überprüft“. Bei der geringsten Gegenwehr werden sie mit Polizeigewalt bedroht. Sie werden von Beamten im Dienst übelst mit Schimpfworten belegt. Mit ihren LKWs müssen sie ständig „Fahrzeugkontrollen“ über sich ergehen lassen und haben dadurch Einkommensverluste. Wenn ein Nachbar sich beschwert, weil es angeblich zu laut ist, kommt nicht etwa ein höflicher Schutzmann und bittet um etwas Rücksichtnahme, sondern es rollt gleich ein ganzes Einsatzkommando an.
Wundert es einen da, dass die polizeilichen Ermittlungen im Fall Mandy ein Witz waren? Wenn man in die Akten guckt: blanker Rassismus auf jeder Seite. Es wimmelt dort von abfälligen Bemerkungen über die Sinti. Der Familie werden niedere Beweggründe für die Heirat unterstellt. Absurde Anschuldigungen gegenüber dem Opfer und ihrer Familie werden erhoben. Beweismittel verschwanden aus der Obhut der Polizei. DNA Spuren, die heute hätten besser untersucht werden können als damals, sind spurlos beseitigt worden. Von wem nur? Aussagekräftigen Indizien wurde nicht nachgegangen. Das ist die deutsche Polizei, wie sie leibt und lebt.

Hier noch einmal ausdrücklich: was ich in diesen harten Worten kritisiere, bezieht sich auf die erste Mordkommission. Deren Arbeit war, soweit man es überhaupt polizeiliche Arbeit nennen kann, unter Niveau. Es gab dann nach viel Einsatz unsererseits eine zweite Mordkommission, die „MoKo Mandy 2.0“ in Nienburg, unter der Leitung des Kommissars Grunewald. Die hat unseren Glauben an die Polizei einigermaßen wiederhergestellt, weil sie fair und konsequent alle Fehler und Versäumnisse der ersten Ermittlergruppe aufgearbeitet und gutgemacht hat. Dafür sind wir Ihnen dankbar, Herr Grunewald.

Aber allgemein ist es so: die Täter, die im Visier stehen, sind immer die Sinti. Als eine Polizeibeamtin 2007 von den Rechtsradikalen der NSU getötet wurde, ermittelte die Polizei jahrelang vor allem gegen Sinti, die damals auf der Durchreise am Tatort in Heilbronn zufällig halt gemacht hatten. Insgesamt richteten sich 60 Prozent aller Ermittlungsaktivitäten im NSU-Fall gegen die Sinti. Wie wir alle heute wissen, waren die Täter deutsche Rechtsradikale.

Solche Gelegenheiten werden dann auch gern genutzt, um für die Zukunft vorzusorgen. Im Rahmen der massiven Ermittlungen wurden im NSU-Fall mehr als 3.000 DNA-Proben von Sinti und Roma genommen. Es wurden auch ethnische Profile angelegt, was offiziell verboten ist. Was aber natürlich gemacht wird. Wir haben das auch im Fall Mandy erlebt. Wenn man die Akten der ersten Ermittlungsgruppe liest, konzentrieren sich die Fragetechniken der Polizei oft mehr auf Verwandtschaftsbeziehungen als auf Aussagen zum Tatgeschehen.

Man nennt das neudeutsch Racial Profiling. Das hat eine lange Geschichte. Sinti und Roma wurden dem bereits im Kaiserreich ausgesetzt. Sie wurden zu einem Sicherheits- und Ordnungsproblem erklärt und unter Generalverdacht gestellt. Von da aus führte eine gerade Linie nach Auschwitz. Die Nationalsozialisten konnten wunderbar daran anknüpfen. Schon 1938 existierten bei der Kriminalpolizei über 31.000 Dossiers von Familienangehörigen, akribisch erfasst mit Fingerabdrücken, Lichtbildern und Stammbäumen. Da ging den Herrenmenschen dann Festsetzung und Deportation leicht von der Hand.

Da kann es einen nicht wundern, wenn ein Gewährsmann berichtete, auch auf einem Monitor der Nienburger Polizei einen solchen Stammbaum der Nienburger und Celler Sinti gesehen zu haben. Umgekehrt fragen wir die Mehrheitsgesellschaft: Wundert es euch, dass wir fürchten, es sind nur ein zwei Schritte wieder zurück in die Lager und nach Auschwitz?

Ich weiß nicht, ob wir den Kampf um Gerechtigkeit für Mandy Müller gewinnen können. Aber wer nicht kämpft, hat schon vorher verloren!
Wir müssen die Behörden in Polizei und Justiz zwingen, ihre Aufgaben auch zu erfüllen, auch dann, wenn das Opfer ein Angehöriger der Sinti-Gemeinschaft ist. Es darf doch keine Opfer zweiter Klasse geben!

Seit 2019 gibt es jetzt überall die so genannten Antiziganismusbeauftragten. Zuletzt jetzt auch einen bei der Bundesregierung. Übrigens eine hervorragende Wahl, einer der Anwälte der Nebenkläger im NSU-Prozess, Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler. Das kann vielleicht nützen. Aber nur, wenn es sich nicht nur um ein weiteres Amt mit einem dicken Gehalt handelt, sondern wenn wirklich Engagement dahintersteckt. Bei Herrn Daimagüler ist das sicher der Fall. Aber in Umfragen hat man herausgefunden, dass zwei Drittel in der Mehrheitsgesellschaft gar nicht wissen, was Antiziganismus ist. Da fängt es doch schon an. Was Antisemitismus ist, wissen inzwischen die meisten. Das wird in der Schule unterrichtet. Warum nicht auch, was Antiziganismus ist? Vielleicht weil die meisten Lehrer selbst antiziganistisch sind?

Im Fall von Mandy wurde zwölf Jahre lang ermittelt, und das auch nur, weil wir ab 2012 immer wieder Druck gemacht haben, das etwas geschehen muss. Die Mordkommission Mandy 2.0 hat dann in ihrem Abschlussbericht ganz klar den Täter benannt und die Staatsanwaltschaft aufgefordert, ihn in Haft zu nehmen. Damit hätten wir ja unser Ziel erreicht, dass der Verantwortliche auch wirklich zur Verantwortung gezogen wird. Aber wir und auch Kommissar Grunewalds Team haben nicht mit der Untätigkeit der Staatsanwaltschaft gerechnet. Und das ist das zweite Kapitel des Falls Mandy. Das Kapitel der Justiz.

Denn es geschah: NICHTS! Seit dem 30. Januar 2020 liegt der Fall Mandy in Celle auf dem Schreibtisch des Staatsanwalts. Weder hat er die Ermittlungsergebnisse in Frage gestellt, noch etwa fehlende Indizien oder Beweise angemahnt. Der Fall Mandy wird einfach verschleppt. Bis kein Hahn mehr danach kräht? Das darf nicht zugelassen werden. Die Familie von Mandy, ihre trauernden Eltern und ihr Bruder, aber auch die Öffentlichkeit, sie alle haben ein Recht darauf, dass die Wahrheit über Mandys Schicksal vor Gericht geklärt wird.
Auch der Antiziganismus der Justiz hat eine lange Geschichte. Nach dem Krieg wurden die Überlebenden, die aus den Lagern kamen, kaum besser behandelt als vorher. Noch bis in die Siebziger-Jahre lehnten deutsche Gerichte jegliche Entschädigung mit dem Argument ab, es wäre keine Verfolgung gewesen, sondern Kriminalität.

Auf der anderen Seite erleben wir auch heute noch, dass der Staat Kriminelle fördert, wenn er sie gebrauchen kann, während die Guten, die sich nichts zuschulden kommen lassen, gedeckelt werden und nicht vorankommen.

Liebe Freunde, kann sich jemand von euch an einen einzigen Fall bei den Ämtern oder vor Gericht erinnern, wo ein Sinto ohne Probleme sofort und vollständig zu seinem Recht gekommen ist? Ich kann es mir nicht vorstellen.

Aber wir geben nicht auf. Sinti gehen normalerweise nicht auf die Straße, heißt es im Flugblatt. Ihr seid aber heute auf die Straße gegangen, weil wir nicht akzeptieren können, dass das Verbrechen an Mandy Müller nicht aufgeklärt wird. Weil wir nicht akzeptieren können, dass die Gewalttat an einer jungen Sintiza den Staat einfach nicht interessiert. Und weil wir nicht akzeptieren können, dass ein Mörder frei herumläuft. Was ist, wenn er weitere Frauen umbringt?

Die Öffentlichkeit steht hinter uns. Fast 35.000 haben unsere Petition schon unterschrieben, und es werden immer noch mehr. Sie alle fordern von der Celler Staatsanwaltschaft, das Verfahren zu eröffnen, Anklage zu erheben, den Täter zu bestrafen!

Wir fordern mit ihnen: Gerechtigkeit für Mandy Müller. Sinti Lives Matter! Das Leben von Sinti zählt genau wie jedes andere!
Online Petition: https://www.change.org/p/gerechtigkeitf%C3%BCrmandy

Die Celler Ortsgruppe der „feministischen Organisierung: Gemeinsam kämpfen! Für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie“ unterstützt den Aufruf, die Celler Staatsanwaltschaft mittels Briefen dazu aufzufordern, den mutmaßlichen Täter in U-Haft zu nehmen und den Prozess in die Wege zu leiten.

Für den 25. November, den Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, ruft sie um 17 Uhr ab Gertrud-Schröter-Platz (ehem. Thaerplatz) in Celle zu einer Demonstration auf. Feminizide sind die Spitze des Eisbergs patriarchaler Gewalt gegen Frauen und weitere unterdrückte Geschlechter. Wir wollen uns lebend! Gewalt gegen Frauen, Mädchen und feminisierte Körper hat eine globale Struktur, von der weder Deutschland noch Europa ausgenommen sind. Unser Ansatz ist internationalistisch, antirassistisch, antikolonial und klassenkämpferisch gegen das Patriarchat. Unsere Herkunft und Identitäten mögen unterschiedlich sein, aber uns vereint das gemeinsame Streben nach einer Gesellschaft, die sich am Gemeinwohl statt an Profiten orientiert. Selbstorganisation ist unser Mittel, aber auch eines unserer vielfältigen Ziele.