Diskussion, Zusammenleben, Aktion

Beim Camp und den Aktionstagen von RHEINMETALL ENTWAFFNEN vom 30.8. bis 3.9. in Kassel waren auch etlichen Aktivist:innen aus Celle. Wir haben nachgefragt, welche Erfahrungen sie gemacht haben und welche Schlüsse daraus für eine antimilitaristische Praxis in den nächsten Monaten zu ziehen sind.

??: Die Aktionstage in Kassel fanden statt in einer komplizierten Situation. Rheinmetall und die deutsche Rüstungsindustrie sind nicht mehr die "bad guys". Sie sind angesichts der sogenannten "Zeitenwende" nicht nur durch explodierende Aktienkurse und Profite gesegnet, auch ihr "Image"-Problem sind sie in großen Teilen der Bevölkerung losgeworden. Auf der anderen Seite war die Beteiligung in Kassel größer als bei den Camps in Unterlüß. Wie ordnet ihr das ein?

!!: Wir selbst waren auch etwas unklar, wie die gesellschaftliche und öffentliche Reaktion auf unser Camp und die Aktionen sein würden, da unsere frühere Grundlage von 80% der deutschen Bevölkerung, die gegen Waffenexporte sind, nicht mehr existiert. Aber die Tage in Kassel haben uns gezeigt, dass die Gesellschaft hier nicht ganz so kriegsbegeistert ist, wie es in den Medien suggeriert wird.

Schon in den ersten Tagen während des Aufbaus gingen wir viel mit den Anwohner:innen im Westen Kassels in den Austausch, und die überwiegende Mehrheit war interessiert und offen uns gegenüber. Besonders migrantische Menschen waren erfreut über unsere Ideen und Sichtweisen. Und im Vergleich zu den vorherigen Camps in Unterlüß gab es fast keine Anfeindungen von der Nachbarschaft, sondern im Gegenteil Unterstützung, Interesse und Teilnahme.

Die öffentliche Berichterstattung und auch die Herangehensweise der Stadt Kassel war jedoch von vornherein schlecht und aburteilend. Die meisten Artikel der örtlichen Presse stellten uns als Chaot:innen und Ruhestörer:innen da.

Meine persönliche Einordnung ist, dass der öffentliche Druck in Richtung Kriegskurs und Militarisierung enorm ist und Menschen, die anderer Meinung sind, nicht zu Wort kommen oder sich nicht trauen. Aber die Dunkelziffer derjenigen, die mit der aktuellen Kriegspolitik nicht zufrieden ist, ist offensichtlich höher als ich vermutet habe. Das beruhigt mich ein wenig und gibt Hoffnung.

Und gleichzeitig werden die Auswirkungen der letzten Monate auch immer mehr spürbar: höherer Lebenskosten in allen Bereichen und Ignoranz gegenüber anderen Problemen und Krisen.

In dieser Situation kann die anhaltende Propaganda nicht mehr alle Menschen an einen Krieg verschiedener Staaten und ihrer wirtschaftlichen Interessen binden.

Ein weiterer Grund für die rege Teilnahme sehen wir in dem vielfältigen Programm, das verschiedenste Menschen ansprechen konnte, und dem Versuch des gleichberechtigten Miteinanders, das Leuten neue Chancen und Beteiligungsmöglichkeiten gab. Aber auch einfach die Tatsache, dass wir in einer bunten Stadt wie Kassel waren, wo viele Leute am Tag vorbeigeschaut haben.

??: Von einander lernen, sich vernetzen und öffentlichkeitswirksam agieren - so lässt sich vielleicht der Zweck der Aktionstage zusammenfassen. Gebt uns mal einen kleinen Eindruck davon, was im Camp gelaufen ist?

!!: Unser Camp hatte das Ziel, drei Schwerpunkte miteinander zu verbinden: Zum einen ist es der Aspekt der Bildung und Diskussion. Wir hatten verschiedenste Vorträge und Diskussionsmomente. Dabei war dieses Jahr vor allem spannend, dass es geklappt hat, internationale Perspektiven aus verschiedenen Teilen der Welt im Camp zu haben: So hatten wir einen Vortrag zu der langjährigen Unterdrückung aber auch dem Widerstand in Westpapua und Stimmen aus Mexiko, u.a. auch zu dem zerstörerischen Megaprojekt „Tren Maya“, in das deutsche Unternehmen verwickelt sind. Außerdem Freund:innen aus dem Baskenland, aus Sardinien und Australien, der Westsahara, dem Iran und Kurdistan.
Und gleichzeitig veranstalteten wir Vorträge zu den EU-Außengrenzen, die Militarisierung in der BRD, zur Ukraine, zu Desertation, viele zu feministischen Themen wie autonomer Organisierung, Feminizid, aber auch zu Männlichkeit und Krieg. Diskussionen gab es neben denen in den Vorträgen zu revolutionären Perspektiven und zur konkreten Aussichten antimilitaristischer Praxis.
Der zweite Schwerpunkt ist das Zusammenleben, das wir basisdemokratisch organisieren wollen und versuchen, alle Perspektiven mitzunehmen. Somit hatten wir tägliche Plena, wo wir Arbeiten verteilen, aber auch Probleme ansprechen, einen gemeinsamen Tagesrhythmus, kollektive Verantwortungsübernahme in den verschiedenen Aufgabenbereichen. Auch gab es autonome feministische Treffen und weitere, die sich spontan bildeten.
Und der dritte Schwerpunkt waren die praktischen Aktivitäten gegen die Rüstungsindustrie und die Militarisierung. Somit gab es neben der effektiven Blockade am Freitagmorgen auch eine Aktion zu Desertation, gegen die deutsche Bank, aber auch eine Spontandemonstration in Gedenken an den Transmann Malte, der während des CSD in Münster so brutal verprügelt wurde, dass er am 2.9.2022 im Krankenhaus verstarb.
Mit diesen verschiedenen Schwerpunkten war und ist es uns wichtig, zusammen das herrschende System, das kapitalistische Patriarchat anzugreifen. Wir sehen im Krieg und Militarismus einen starken Ausdruck dessen, und daher ist uns eine Verbindung der verschiedenen Kämpfe für Befreiung wichtig und aus unserer Sicht auch ein Stück weit gelungen.

??: Bei den Aktionen gab es ja eine gewisse öffentliche Aufregung zur Blockade gegen Krauss-Maffei-Wegmann (KMW). Vielleicht könnt ihr kurz dazu etwas sagen. Welche Ereignisse möchtet ihr sonst noch hervorheben?

!!: Am Rande der gemeinsamen Blockade versuchte die Polizei, einige von uns gewaltsam von unserem Anliegen abzuhalten. Verständlicherweise haben sich einige Angegriffene gewehrt. Was daraus in der Presse gemacht wurde, verstellt jedoch den Blick auf die Realität. Wir suchen keine direkte Konfrontation mit denen, aber wir wollen auch, dass über Gewalt geredet wird – und zwar über die Gewalt der Rüstungsindustrie. Wer beschäftigt sich damit, wie Menschen von Granaten und Minen aus Deutschland zerfetzt werden? Das Angehörige nicht mal die Körperteile der Kriegsopfer einsammeln können, weil deutsche Waffen so perfekt tödlich funktionieren. Wir fänden es wichtig, in der Berichterstattung ein Verhältnis zu wahren, und hoffen, dass Menschen auf ebenso auf die Gewalt blicken, die von Rüstungsindustrie ausgeht.
Ein Beispiel, das das Programm vom Camp beeindruckend abschloss, war die Performance der Gruppe „Splitter im Exil – Made in Germany“. Der Autor des Stückes hat selbst unzählige deutsche Granatensplitter in seinem Körper, als Folge eines staatliche Angriffs auf soziale Proteste im Iran in den 1980ern. Das war eine sehr emotionale Geschichte, und dazu nur ein beispielhafter Fakt:
Die Splitter wurden in Deutschland von einem Arzt als deutsche Splitter diagnostiziert. Nachfolgend gab es keine Infos von Militärmedizin dazu, aufgrund militärischer Geheimhaltung. Und: heutzutage werden die Granaten anders produziert - mit Plastiksplittern, damit sie über Röntgengeräte nicht mehr zu finden sind. Das ist die deutsche tödliche Rüstungsindustrie!

??: Die documenta fiftheen in Kassel war ja für euch auch ein Ausgangspunkt, den antimilitaristischen Kampf bei uns in einen Zusammenhang mit dem künstlerischen Aktivismus im globalen Süden zu stellen. Die dann dominierende Diskussion über antisemitische Stereotypen und Motive hat dies ja wahrscheinlich schwer gemacht. Hattet ihr dann trotzdem Kontakt zu beteiligten Künstler:innen?

!!: Wir hatten, vor allem im Vorhinein vereinzelt Kontakt zu Künstler:innen. Leider ist der Austausch aber nicht gut genug zustande gekommen. Das hat einerseits mit unseren Kapazitäten zu tun, da wir es nicht geschafft haben, uns in der Situation der westlichen Hetze gegen die Künstler:innen wirklich öffentlich zu positionieren. Das ist leider eine große Leerstelle bei uns gewesen.
Und auf der anderen Seite als Vermutung: Die Künstler:innen lagen so sehr unter Beschuss durch Medien und Öffentlichkeit, dass sie sich entweder enttäuscht abwenden von einer eurozentristischen, rassistischen deutschen Gesellschaft oder weitere Medienhetze vermeiden wollten.
Trotzdem hat es zumindest geklappt, dass es auf dem Camp u.a. einen spontanen Workshop eines Künstlers zu Intersektionalität, Awareness und Black Definition Matters im Camp gab.

??: Letzte Frage: Gibt's im nächsten Jahr wieder ein Aktionscamp? Und wenn ja, wo?

!!: Klar für uns ist: Wir werden weitermachen, denn Antimilitarismus ist notwendiger denn je. Und dabei finden wir es besonders wichtig weiterhin verschiedene Kämpfe miteinander in Verbindung zu betrachten. Da sehen wir besonders ein Potential in feministische und ökologischen Perspektiven für ein anderes Miteinander. Und das Bündnis „Rheinmetall entwaffnen“ hat zwar eine Schwerpunktaktion im Jahr, aber ist auch Teil von anderer Protesten und Aktionen, die über das Jahr verteilt passieren.

Ob es ein Aktionscamp oder andere Formate im kommenden Jahr gibt, müssen wir in den nächsten Monaten zusammen mit neuen Menschen und Gruppen herausfinden und freuen uns dabei über weitere Beteiligung.

Ein kleines Video gibt’s unter: https://www.youtube.com/watch?v=rsNXy2XShdU&t=943s