Deutsche Bahn pfeift auf Ergebnisse des Dialogforums

Mitte September ließ die Deutsche Bahn die Katze aus dem Sack. Statt eines bestandsnahen Ausbaus der Strecken im Raum Hamburg – Bremen – Hannover setzt sie auf Neubaustrecken. Sie pfeift auf das Ergebnis des Dialogforum Schiene Nord aus dem Jahr 2015. Auch für den Raum Celle hat diese Kehrtwende gravierende Auswirkungen. Im niedersächsischen Landtagswahlkampf stellte Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) sich verbal dagegen: Es würde keine Lösung gegen den Willen der Bevölkerung geben. Und wieso werden dann verschiedene Varianten geprüft?

Neubaustrecke durch die Heide?

Auf einem „Statustreffen“ des Projektbeirats Alpha-E am 15. September in Celle stellte Frank Limprecht, Leiter Großprojekte, Regionalbereich Nord der DB Netz AG, den aktuellen Stand der Planung vor:
• Ausbau der Bestandsstrecke mit Neubaustrecken parallel zum Bestand durch die Landkreise Uelzen und Lüneburg,
• eine Trasse in räumlicher Nähe zur A7 bis in den Raum Großburgwedel,
• eine Untervariante, die nördlich von Soltau von der A7-Variante abzweigt und entlang der B3 nördlich von Groß-Hehlen und in Höhe Hohe Wende auf die Bestandsstrecke trifft oder westlich von Groß-Hehlen und Boye als „Hauptbahnhofs-Umgehung“ geführt werden könnte (siehe Karte unten).

Die Cellesche berichtete - seitens der Bahn unwidersprochen -, dass nach Auffassung der Planer „nur die geplanten Neubautrassen [...] alle Kriterien (Kapazität, Pünktlichkeit, Nutzen-Kosten-Verhältnis, Deutschland-Takt) erfüllen. Favorisiert wird eine Bahntrasse durch den Landkreis Celle.“ (22.09.2022)

Vier Tage später wurden Rat und Verwaltung der Stadt Celle durch einen DB-Vertreter in die Planungen eingeweiht. Dabei wurde deutlich, dass die Neubaustrecke durch die Heide die Wunschvariante der Bahn ist.

Dialogforum – kleiner Rückblick

Zwischen Februar und November 2015 tagten im „Dialogforum Schiene Nord“ 94 Vertreter:innen von Bürgerinitiativen, Gemeinden, Städten, Landkreisen, Verbänden sowie hinzugezogene Sachverständige mehrmals in der Celler Union. Aufgabe der vom Land Niedersachsen initiierten Beteiligung war die Beurteilung der sog. Y-Trasse durch die Heide und hierzu entwickelter Trassenvarianten mit dem Ziel, für die Bundesverkehrswegeplanung eine Vorzugsvariante auszuwählen, die die Bedarfe insbesondere des Schienen-Güterverkehrs (SGV), aber auch des Personenverkehrs, bis zum Jahr 2030 deckt. Hintergrund: Nach Verkehrsprognosen wird der Güterumschlag der deutschen Seehäfen bis zum Jahre 2030 enorm zunehmen und damit die Anforderungen an den schienengebundenen Hafenhinterlandverkehr.

Seitens der Bürgerinitiativen aber auch der meisten betroffenen Landkreise und Städte wurden dagegen Natur- und Umweltschutzgesichtspunkte vorgebracht, die Zerstückelung der Landschaft, der Lärm – aber auch seitens der Städte, durch eine Neubaustrecke vom ICE-Verkehr abgekoppelt zu werden.

Alpha – ohne Neubau

Die „Alpha-Variante" wurde im Abschlussdokument des Dialogforums so zusammengefasst: 2-gleisiger Ausbau Rotenburg – Verden, 1-gleisige Ertüchtigung und Elektrifizierung der „Amerikalinie" im Abschnitt Langwedel – Uelzen, 3-gleisiger Ausbau Lüneburg – Uelzen und verschiedene sogenannte Blockverdichtungen (also die Erhöhung der Gleisabschnitte zur „Verdichtung“ der Verkehre). Nur das Alpha-Konzept, heißt es dort, komme ohne Neubaustrecken aus und gewährleiste, dass bereits vor dem Jahr 2030 nennenswerte Zusatzkapazitäten bereitgestellt werden könnten.

Die Bahn hielt sich eine Hintertür offen und wies darauf hin, „dass sie für den Fall, dass [...] die Leistungsfähigkeit der Infrastruktur überschritten wird, weitere Ausbaumaßnahmen beim Bund beantragen muss.“ Und weiter: „Wenn solche Maßnahmen notwendig werden sollten, würde dies in einem neuen Dialogforum mit den Betroffenen erarbeitet werden.“

Bahn verarscht Dialogforum

Gleichzeitig aber wurde im Abschlussdokument festgelegt: „Mit der Entscheidung für die Vorzugsvariante entfallen alle anderen Trassenvarianten und werden nicht weiter verfolgt.“ Und der seinerzeitige Staatssekretär aus dem Bundesverkehrsministerium Enak Ferlemann meinte: „Jetzt müssen Sie uns vertrauen, dass wir die [Lösung] auch vernünftig umsetzen. [...] Alpha-E [...] wird von uns so umgesetzt [...], keine Neubaustrecken, sondern es sind Ausbaustrecken und dabei muss es bleiben“. Im Rahmen einer sogenannten „Gläsernen Werkstatt“ sollten im weiteren alle Planungsschritte und Ergebnisse transparent dargestellt werden.

Vor dem Hintergrund des sogenannten Deutschland-Takts (D-Takt) begannen die Bahn-Planer aber damit, mehr Nachdruck auf den schnellen Personenfernverkehr zu setzen, was für sie bedeutet, den Mischverkehr von langsamen Güter- und schnellen ICE-Zügen aufzuheben. Die „Gläserne Werkstatt“ wurde für Alpha E zum „Schneewittchensarg“.

Deutschland-Takt rückt ins Zentrum

Der D-Takt hat mit Neubaustrecken und andere Infrastrukturmaßnahmen das Ziel, im Fernverkehr sogenannte Knoten jeweils zu den Minuten 0, 15, 30 oder 45 zu bedienen. Seit 2016 ist dies zum wichtigsten Projekt der Bahn geworden, mit dem Ziel bis 2030 die Zahl der Fahrgäste zu verdoppeln. Damit rücken die Interessen der großen Städte und jener Bahn-Kund:innen ins Zentrum, die den Fernverkehr nutzen (sollen). Dass damit – angesichts begrenzter Mittel – Berufspendler:innen und der ländlich/kleinstädtische Raum eher ins Hintertreffen geraten, dürfte eine negative Konsequenz sein.

Eine im D-Takt problematische Strecke ist Hamburg – Hannover. Die Fahrzeit auf der Bestandsstrecke auf eine Stunde zu drücken ist schwer, aber möglich. Das im Auftrag der Projektgruppe des Dialogforums arbeitende Büro Vieregg-Rössler hat deshalb Alpha E um den vierspurigen Ausbau zwischen Celle und Uelzen ergänzt. Alternativ hat das Büro eine sehr plausible Variante ins Spiel gebracht, nämlich statt des Hamburger Hauptbahnhofs den Bahnhof Hamburg-Harburg als Knoten auszuweisen. Gleichwohl ist der D-Takt zum gewichtigsten Argument der Bahn gegen Alpha E geworden.

Nutzen-Kosten-Faktor als Joker?

Neben umwelt- und naturschutzfachlichen, raumordnerischen und städtebaulichen Aspekten werden Vorhaben des Bundesverkehrswegeplan einer Nutzen-Kosten-Analyse unterzogen. Dabei werden alle positiven und negativen Wirkungen eines Projekts untersucht und monetarisiert, also geldlich bewertet. Unterm Strich muss – vereinfacht gesagt – der Nutzen höher sein als die Kosten. Ursprünglich hatte Alpha E diese Hürde genommen. Aber von Beginn an war der Bahn daran gelegen, dies zu hinterfragen.

Die Planer arbeiten deshalb beharrlich daran, die Kostenschätzungen für den Bestandsaufbau in die Höhe zu treiben, z.B. mit Annahmen zu einem unnötigen Total-umbau des Lüneburger Bahnhofs oder der Ablehnung von technisch möglichen Blockverdichtungen.

Wissing eiert rum

Das Interview mit Volker Wissing in der Celleschen zeigt an dieser Frage deutlich, dass dies auch für ihn zum Schlüssel werden kann: „Das Kosten-Nutzen-Verhältnis wird bei den einzelnen Varianten voraussichtlich unterschiedlich sein. Und dann müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir damit umgehen.“ Und weiter: „Wir haben drei Kriterien, die besonders wichtig sind: Das eine Kriterium ist das Interesse der Bevölkerung vor Ort. Das zweite Kriterium ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis. Und das dritte Kriterium ist die Leistungsfähigkeit der Strecke, um den Deutschlandtakt zu erfüllen - und am Deutschlandtakt will niemand rütteln. Bleiben zwei Punkte: das Interesse der Bevölkerung und das Kosten-Nutzen-Verhältnis.“ Auf die Frage, ob er Mehrkosten in Kauf nehmen würde, um Ausbauziele und Interessen der Menschen vor Ort in Einklang zu bringen, antwortete Wissing keinesfalls so eindeutig, wie die Überschrift suggeriert: „Gegen den Willen der Bevölkerung soll es keine Lösung geben.“ (30.09.2022)

Das Misstrauen der Bürgerinitiativen ist mehr als nachvollziehbar.

Unhinterfragte Wachstumsideologie

Kein vernünftiger Mensch hat etwas gegen die Stärkung des Schienenpersonenverkehrs und auch nicht gegen die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene. Aber hier lauern Fallen.

Neben dem vielleicht noch nachvollziehbaren Ziel des D-Takts spielt der Lobbyismus für den Hamburger Seehafen und dessen Hinterlandverkehr eine gewichtige Rolle. Beim Dialogforum im Jahr 2015 meldete sich Andreas Schmidt, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft niedersächsischer Seehäfen zu Wort: „Die Prognose, die hier zugrunde liegt, ist letzten Endes der Wachstumsprozess der Weltwirtschaft. Entweder wir wollen an diesem weiter teilnehmen zum Wohlstand unserer Volkswirtschaft und unserer Bürger oder nicht.“

Die Klimakatastrophe spielte 2015 in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle. Aber heute? Für die Planer der Bahn, das Verkehrsministerium und die Seehafen-Lobby ist die Wachstumsideologie unhinterfragbar. - Und auch der unbedingte Wille, für Hamburg – Hannover zum Stundentakt zu kommen, ist ein Fetisch. Warum nicht in 75 Minuten?

Takt vor Tempo

Auf einer Konferenz zum Thema „Klimabahn“ im Mai in Stuttgart, ausgerichtet vom Aktionsbündnis Bahn Bürgerinitiativen Deutschland stand auch der D-Takt auf dem Prüfstand. Es handele sich dabei um eine überzogene, einseitige Bevorzugung des Hochgeschwindigkeits-Fernverkehrs. Alternativ wurde ein Konzept „Takt vor Tempo“ diskutiert. Beispielhaft wurde auf den „Nadelöhr-Bereich“ Lüneburg – Celle verwiesen. Wenn dort alle Züge (also ICE, Metronom, Güterzüge) das gleiche Tempo, z.B. 120 km/h fahren würden, könnte die Durchlässigkeit der Strecke extrem gesteigert werden. Wenn dann statt eines ICE jede Stunde, Personenzüge im Viertelstundentakt fahren würden, wäre dies für die meisten Fahrgäste ein Gewinn – auch an Zeit, weil Wartezeiten sich verkürzen.

Celle – was geht?

Im Landkreis Celle wird die Planung seit 2015 kritisch begleitet durch das Aktionsbündnis gegen Trassenneubau. Dominiert war es von Beginn an durch Aktive aus dem Raum Bergen; aktuell sind im erweiterten Vorstand auch Vertreter aus Scheuen und Hustedt vertreten. Selbstverständlich spielen „Not in my backyard“-Motive eine größere Rolle als z.B. Wachstumskritik. So war bei einer Info-Veranstaltung in Groß-Hehlen schon erstaunlich bis bizarr, wie sich Boyes Ortsbürgermeister Gevers (CDU), ein Eiferer für die Ostumgehung, sich nun um „die Natur“ sorgt. Trotzdem ist es ja richtig.

Die Informationsarbeit der Bürgerinitiative – wie z.B. Anfang Oktober bei einer Veranstaltung in Groß-Hehlen – ist kenntnisreich und zugleich bissig. Ihr Verhinderungskonzept besteht darin, möglichst viele Menschen für eine Positionierung gegen Neubau zu gewinnen und über die (kostenlose) Mitgliedschaft in der BI den Vertretungsanspruch für die Region zu untermauern.

Die planende DB Netz AG ist eine 100 % Tochter der Deutschen Bahn AG, die sich sich vollständig im Eigentum der Bundesrepublik, vertreten durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr, befindet. Erstaunlicherweise richtet sich die Kritik weder an die alte noch an die neue Bundesregierung. Kirsten Lühmann etwa war als SPD-Wahlkreisabgeordnete bis vor einem Jahr im Aufsichtsrat der Bahn AG. Der Bundestagsabgeordnete Henning Otte (CDU) zeigt sich immer wieder gern auf Veranstaltungen der BI. Kritisiert werden sie nicht.

Der größte Verbündete dürfte sich in der Landesregierung haben. Und das nicht aus besonderer Zuneigung für die betroffene Region, sondern schlicht resultierend aus der Konkurrenz der niedersächsischen Seehäfen zu Hamburg. Und der Hinterlandverkehr der Häfen in Wilhelmshaven und Emden braucht keine Trasse durch die Heide.

Die Bahn hat angekündigt, bis Ende 2022 die Ergebnisse der untersuchten Varianten dem Bundesverkehrsministerium vorzulegen. Dann entscheidet der Bundestag über Umsetzung und Finanzierung der Vorzugsvariante.

Mehr Infos auf:
https://trassenabsage.de/
https://beirat-alpha.de/
https://www.hamburg-bremen-hannover.de
https://klimabahn-initiative.de/