Eine lokale Befragung
- So konnten Kneipengespräche früher einmal laufen: „Das ist ja wohl coolste Bandname: OZSWMK!“ - „Häh?“ – „Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs, ne Indie-Formation aus Hamburg.“ „Einspruch. Neben der bolschewistischen Kurkapelle ist da ja wohl zuerst die Linkssentimentimentale-Transportarbeiter-Brigade zu nennen …“
- Früher, ja früher war mehr Lametta, und es gab früher auch viel mehr Kneipen hierzulande. Und die Leute gingen auch dorthin; die Jungen aber auch die Alten. Menschen trafen einander ohne eine dezidierte Verabredung – es war nur ungefähr absehbar, auf wen man/frau dort treffen mochte; - es wurde gewissermaßen offen eingeladen und sich angeboten. Zum Reden oder Schweigen; manchmal auch Beides zugleich und grundiert mit teils fragwürdigem Trinkverhalten.
Früher meint hier die Zeit, um die herum Johann Cruyff der beste Fußballer der Galaxie war und einmal gar Vizeweltmeister wurde.
- Wir Überlebenden von damals sitzen heute wohl vor den Trümmern geborstener Beziehungen und geplatzter Träume; oder zur Couchpotato mutiert, kurzbehost und übergewichtig im Klappstuhl vorm eigenen Wohnmobil in irgendeinem Naherholungsgebiet. Jedoch auch damals hieß es gelegentlich schon von Dichters Hand:
Wie viele sind wir eigentlich noch /-der dort an der Kreuzung stand, war das nicht von uns einer, jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt.
Wie viele sind wir eigentlich noch.
-war das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Platte /Jetzt soll er Ingenieur sein.
Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte. Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.
-wer sind wir eigentlich noch /Wollen wir gehen?
Was wollen wir finden /Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden
(Th Brasch, 1973)
- Nun, die Kneipe war seinerzeit der öffentliche Ort, an welchem die Leute privat sein konnten, ohne dieses Verschwinden. Ganz im Gegenteil: Es konnte nach Herzenslust polemisiert, revoltiert werden, ähnlich wie in den vulkanischen Zeiten des „Romanischen Cafés“ im Berlin seligen Angedenkens einhundert Jahre zuvor.
Der öffentliche Raum, verprivatisiert von Weltverbesserern, Filmkritiker: innen, musikalisch Innovativen, Lyrisch Begabten und Fußballexpert:innen.
Ach, es gibt Zeiten, da fliegen mehr Antworten durch die Luft, als Fragen auf dem Tisch liegen.
Für das Café, insbesondere aber für die Wirtschaft, das Gasthaus, die Bar und die Kneipe war Notzeit noch stets Blütezeit. Haben wir denn gar keine Not? Und wer ist das - WIR?
Erfreulich groß ist doch gegenwärtig noch ist der Haufe von Leuten, die sich projektbezogen abmühen in Umwelt-, Kultur-, Verkehrs-, Friedens- und Fortschrittsdingen.
- Doch wo, wo ist das freie Spiel? Der genialische Pass in den freien Raum?
Wo ist der Cruyff-Spirit unserer Tage? Wo der Blick für die mitspielenden Leute?
Wir haben nun doch dieses unselige „vernünftige Doppeljahrhundert“ (1789 – 1989) eigentlich lang genug hinter uns - wo ist denn die Denke der Gegenwart oder der Zukunft gar? Ein Denken, das nicht nach ewig alten gedankenschweren Ideologien schmeckt. Von Leuten, die keine Fragen mehr zu haben scheinen, die immer alles zu wissen glaubten und denen doch der Weltenlauf im gegebenen Augenblick so überraschend in die Quere kommt?
„Diese chaotische Masse von materiellen Errungenschaften, Sitten, Gewohnheiten und Vorurteilen, die wir Zivilisation nennen, hypnotisiert uns und verleitet uns zu der falschen Vorstellung, daß der menschliche Fortschritt bereits seine größten Erfolge erreicht habe. Auf einmal erinnert uns der Krieg daran, daß wir immer noch auf allen vieren laufen, und daß wir immer noch nicht über das barbarische Zeitalter unserer Geschichte hinausgekommen sind.“
Antid Oto alias L. Trotzki, 1912 in der Zeitung Kijewskaja Mysl
Liebe Lesende der revista - wie denkt ihr das?
Mail bitte an sheldon.cooper[at]live.de