Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt

Kapitalismus ist nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Gesellschaftsform. Von dieser Grundlage aus beschreibt die US-amerikanische Politologin Nancy Fraser, wie dieses System Demokratie, Fürsorge und den Planeten verschlingt und „was wir dagegen tun können“ – so eine Übersetzung des Untertitel des Originals.

Für theorie-affine Linke ist das jetzt nicht neu, aber: Nancy Fraser gelingt, was sie in einem Interview mit dem Magazin Jacobin als Prämisse ihrer Arbeit benannte: eine kohärente und überzeugende Gegenerzählung anzubieten, mit der sich sich viele Menschen für einen emanzipatorischen Wandel gewinnen lassen.

„Wie der Ouroboros, der seinen eigenen Schwanz frisst, ist die kapitalistische Gesellschaft darauf ausgerichtet, ihre eigene Substanz zu verschlingen. Sie ist ein wahrer Dynamo der Selbstdestabilisierung, der regelmäßige Krisen auslöst, während er routinemäßig, die Grundlagen unserer Existenz auffrisst.“

Dieses Bild trifft das Gefühl vieler Menschen in den Metropolen der früh industrialisierten Staatenwelt – vor allem hinsichtlich der Klimakatastrophe. Mit dem Blick auf die US-amerikanische Gesellschaft und den globalen Süden könnte sie aber auch unsere Perspektive auf Rassismus, Sorge-Arbeit und „Demokratie“ erweitern.

Die radikale Linke in Deutschland hat ja spätestens seit Klaus Viehmanns Text „Drei zu Eins: Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus“ aus dem Jahr 1990 eine Ahnung davon, dass es eine mehrfache und gleichzeitige Unterdrückung bzw. Diskriminierung aufgrund der geschlechtlichen, ethnischen und klassenspezifischen Zugehörigkeit gibt („Triple Oppression“). Theoretiker:innen der Partei „Die Linke“ knüpften vor gut zehn Jahren insoweit daran an, als sie die Idee einer „Mosaik-Linken“ propagierten, die aus der Integration dieser verschiedenen Unterdrückungen in einem gemeinsamen Projekt verbinden wollten. Die Idee wurde im realpolitischen Raum von Sarah Wagenknecht als „Lifestyle-Linke“ denunziert, was die Partei gerade so unattraktiv macht für alle, die an gesellschaftlicher Transformation interessiert sind.

Wenn Marx/Engels vor 175 Jahren im Kommunistischen Manifest schrieben: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, präzisiert Nancy Fraser dahingehend: "Die „Grenzkämpfe“ gegen Rassismus, gegen Sexismus, gegen die Ausbeutung von Natur „prägen die Struktur kapitalistischer Gesellschaften in entscheidendem Maße.“ Schauen wir auf die einzelnen „Hintergrundgeschichten“, die sie analysiert.
Warum ist der Kapitalismus strukturell rassistisch? „Hinter Manchester liegt Mississippi“, so Nancy Fraser – und das nicht bloß in historisch-materialistischer Analyse. Kapitalakkumulation besteht immer in Exploitation (Ausbeutung) und Expropriation (Enteignung). Ausgebeutet werden „Weiße“ (Lohnarbeiter:innen), bei den (zusätzlich) Enteigneten handelt es sich bis heute fast ausnahmslos um People of Color. „Praktisch alle nichtbesitzenden Menschen in den Postkolonien werden [heute] über Staatsschulden enteignet“.

Der Kapitalismus ist angewiesen auf unbezahlte Reproduktionsarbeit – auch Care-Ökonomie oder Fürsorge-Arbeit. In unterschiedlichen Phasen kapitalistischer Entwicklung hat dies zu Konflikten und Kämpfen geführt, die in der Tendenz Emanzipationsbestrebungen von Frauen beförderten. In der aktuellen Phase des Finanzkapitalismus tut sich nach Auffassung Frasers erneut eine „Betreuungslücke“ auf. Die soziale Reproduktion gerät dabei, so Frasers These, von zwei Seiten unter Druck: Auf der einen Seite würden soziale Schutzmechanismen ausgehöhlt, auf der anderen Seite würden Frauen in die Lohnarbeit gedrängt (bzw. diese für sie geöffnet). Der Bereich der Produktion zeige sich dabei geschlechtsegalitär, die Reproduktion würde gleichzeitig als „rückständiger Rest“ markiert. Ihre Perspektive scheint hier sehr us-amerikanisch geprägt, weil dort Kinderbetreuung und Altenpflege in weit geringerem Maße als staatliche Aufgabe betrachtet werden. Interessant ist ihre Beobachtung, dass – im Unterschied zum Fordismus – heute ein (in der Regel männliches) Einkommen zur Reproduktion einer Familie nicht mehr reicht, d.h.: Die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden pro Haushalt, die für den Unterhalt einer Familie erforderlich sind, ist trotz aller Produktivitätsfortschritte nicht gesunken, sondern gestiegen ist Und durch diese Mehrbelastung entsteht eine „Betreuungslücke“, die in den USA geschlossen wird durch Arbeitsmigrantinnen, die dann ihrerseits vor den gleichen Problemen stehen. Nancy Fraser geht es dabei nicht darum, die alte Hausfrauenehe zu adeln. Worum es ihr aber geht, ist die Bedeutung der Care-Arbeit eben nicht nur für das Kapital, sondern im Gegenteil für eine andere Gesellschaftsordnung hervorzuheben.

Das vom Umfang und Bedeutung wichtigste Kapital hat die Überschrift: „Die Natur im Rachen: Warum Umweltpolitik ökotrophologisch und antikapitalistisch sein muss“. Der ökologische Widerspruch im Herzen der kapitalistischen Gesellschaft besteht darin, dass die kapitalistische Wirtschaft „systemisch darauf ausgerichtet ist, von einer Natur zu profitieren, die sich nicht wirklich unbegrenzt selbst erneuern kann“. „Der Kapitalismus. Der die Natur gleichzeitig braucht und vernichtet, ist auch in dieser Hinsicht ein Kannibale, der seine eigenen lebenswichtigen Organe verschlingt.“

Um die ökologische Krise begrenzen zu können, braucht es – aus Frasers Sicht – also eine klar antikapitalistische Politik. Die sieht sie bei den meisten Bewegungsansätzen bisher nicht. Wir müssen uns über folgendes klar werden:

„Das System gibt Kapitalisten Motiv, Mittel und Gelegenheit, den Planeten zu plündern und zu verwüsten. Sie, und nicht die Menschen im Allgemeinen, haben uns den Klimawandel beschert – aber nicht aus Zufall oder schlichter Gier. Vielmehr ist die Dynamik, die ihr handeln bestimmt und zu diesem Ergebnis geführt hat, in die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft selbst eingebrannt.“

Das erläutert sie stimmig: strukturell, historisch und politisch. Aber was verbirgt sich hinter dem Begriff „transökologisch“?

Fraser – und das ist der Grundtenor ihres Buches – insistiert darauf, dass die ökologischen Bewegungen sich mit den „Grenzkämpfen“ um Antirassismus, soziale Reproduktion und „Demokratie“ zu einem gegen hegemonialen Projekt zusammenfinden müssen.

Der letzte Zusammenhang, den sie untersucht, ist die „Krise der Demokratie“. Ihre Diagnose: Der Finanzkapitalismus erzwinge eine Ära des „Regierens ohne Regierung“, also eine Herrschaft ohne das Feigenblatt demokratische Zustimmung, geprägt durch transnationale Strukturen, die niemandem Rechenschaft schuldig sind und überwiegend im Interesse des Kapitals handeln. Der erfolgreiche Rechtspopulismus biete keine Lösungen, sondern stecken mit den Kräften unter einer Decke, die die globalen Probleme verursacht hätten.

Im letzten Kapitel entwickelt Fraser Ideen dahingehend, was „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ bedeuten könnte:

„Er muss eine neue Gesellschaftsordnung erfinden, die nicht „nur“ die Klassenherrschaft überwindet, sondern auch die Asymmetrien zwischen den Geschlechtern, die rassistische/ethnische/imperialistische Unterdrückung und die politische Herrschaft in den unterschiedlichsten Bereichen.“

Das ist ja auch Bestandteil theoretischer Diskussion in Deutschland. Fraser Buch kann trotzdem bereichernd wirken, und zwar weil weil sie aufmerksam macht auf die Möglichkeit gesellschaftliche Dynamik durch sich verbindender „Grenzkämpfe“. Denn so bietet sie eine Perspektive gegen die Vorstellungen einer Totalität des Kapitalismus, die sich in dem Satz des Philosophen Frederic James ausdrückt: „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.“

Aber klar – und so endet das Buch: „Doch jetzt kommt der schwierige Teil: die Umsetzung dieser Lektion in die soziale Praxis. Es ist an der Zeit, endlich herauszufinden, wie man die Bestie aushungern und dem kannibalistischen Kapitalismus ein für alle Mal ein Ende machen kann.“

Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Suhrkamp Berlin 2023, 282 Seiten, 978-3-518-02983-1, 20 EUR