Eine menschenleere Celler Innenstadt am frühesten Morgen. Fünf link(s-radikal)e Laternen stehen in der Dämmerung beieinander und be­ginnen ein Gespräch.

Oma Lilo: Wusstet ihr, dass die Raster in der Außenfassade von Karstadt mit 1,20 mal 1,20 Meter in etwa dem Fachwerkraster der umliegenden Bebauung entspricht?

Die Dicke: Irgendwie haben sich die Celler:innen ja irgendwann auch an die „Bausünde“, wie es lange hieß, gewöhnt.

Der lange Lulatsch: Und jetzt: Ist das Kunst oder kann das weg?

Oma Lilo: Unter Denkmalschutz steht das Gebäude wohl nicht. Aber wer braucht heute so eine Immobilie?

Der lange Lulatsch: Ist schon merkwürdig, vor 20, 30 Jahren hätte so ein Leerstand die Fantasie vieler, auch gerade junger Leute beflügelt.

Klein Jonas: Naja, Räume gibt’s anscheinend genug. Dazu gehört ja auch das Internet, nicht nur zum Kaufen, sondern auch für alles rund um Unterhaltung.

Oma Lilo: Ich hab’s. Celles tolle Wirtschaftsförderung sollte sich schnellstens darum bemühen, dass unsere kleine Stadt Cannabis-Modell-Region wird. Und dann „Alles unter einem Dach“: Pflanzen, Ernte, Verkauf, Konsum. Ein touristisches Highlight.

Die Dicke: Strom über PV-Anlagen auf dem Dach und an den Fassaden. Und Bürger:innen-Beteiligung über den „1. Celler Cannabis Club von 2023“ (CCC 23). Für Insider: 23.

Der lange Lulatsch: Ein wahrhaft transformativer Traum. Slogan für Stadtbroschüren: „Kiff in Celle, an der Quelle.“

Der Besserwisser: Da halte ich es für wahrscheinlicher, dass Rheinmetall das Karstadt-Gebäude als Modellhaus nutzt – für die neuesten Produkte der Sicherheits-Ökonomie, gewissermaßen als Zoo für Panther, Leo und Marder. Auch das würde Gäste aus aller Welt anlocken.

Der lange Lulatsch: Vielleicht würde ja die Union schon als Ausstellungs-Raum reichen, dann auch direkt neben dem Fürstenhof … connect & contract, oder so.

Die Dicke: Wieso Union?

Der lange Lulatsch: Hat sich das nicht herumgesprochen. Nigge überlegt, wie zu hören ist, das Millionengrab „zuzuschaufeln“. Weil die Stadt sonst wohl demnächst 20 Millionen und mehr investieren müsste.

Die Dicke: Da kann sich ja Bürger Müller freuen. Auch späte Erfolge sind Erfolge.

Oma Lilo: Wie wahr. 50 Jahre Anti-AKW-Bewegung hat’s gebraucht. Und – kleiner Treppenwitz der Geschichte: In dem Moment, wo’s vielleicht die größte Zustimmung zu AKWs in der Bevölkerung seit 40 Jahren gibt, wird abgeschaltet. Was Hegel wohl dazu sagen würde?

Die Dicke: Philosophie zählt ja gerade nicht so viel. Habermas, Precht und Welzer gelten ja als Lumpenpazifisten, wenn sie öffentlich in Erwägung ziehen, dass es vielleicht keine so schlechte Idee ist, den Krieg in der Ukraine baldmöglichst zu beenden.

Der Besserwisser: Ich bin in Teilen beeindruckt von Raúl Sánchez Cedillo.

Der lange Lulatsch: Du meinst: „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“.

Der Besserwisser: Ja. Was ich wichtig finde, ist die Perspektive von den Interessen der subalternen Klassen her, in der Ukraine und in Russland, aber auch weltweit. Denn vom Krieg profitieren nur die herrschenden Klassen.

Die Dicke: Die NGO „Oxfam“ hat gerade öffentlich gemacht: Die Reichen werden immer reicher: In den letzten drei Jahren hat das reichste Prozent der Weltbevölkerung rund zwei Drittel des weltweiten Vermögenszuwachses kassiert, in Deutschland gingen sogar 81 Prozent an das reichste Prozent. Gleichzeitig leben 1,7 Milliarden Menschen in Ländern, in denen die Lohnentwicklung die Inflation nicht ausgleicht. 828 Millionen Menschen – etwa jede:r Zehnte auf der Erde – hungern.

Klein Jonas (hat nebenbei auf seinem Smartphone gesucht und liest vor): „95 Lebensmittel- und Energiekonzerne haben ihre Gewinne im Jahr 2022 mehr als verdoppelt. Sie erzielten 306 Milliarden US-Dollar an Übergewinnen und schütteten 257 Milliarden US-Dollar (84 Prozent) davon an Aktionär:innen aus.“

Der lange Lulatsch: Und andererseits ist das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung für mehr als doppelt so viele Kohlenstoffemissionen verantwortlich wie die Menschen, die die ärmste Hälfte der Menschheit ausmachen. Für die 19 Millionen US-Bürger:innen oder die vier Millionen Chines:innen, die zu diesem oberen einen Prozent gehören — sowie für alle anderen, die ein Nettovermögen von über 10.055.337 $ besitzen —, könnte also schon gelten, was Extinction Rebellion im April auf einem Transparent am Berliner Adlon in die Welt verkündete: „We can’t afford the super-rich.“

Oma Lilo: Warum machen sie’s eigentlich immer in Englisch?

Klein Jonas: Wir können uns die Superreichen nicht leisten.

Oma Lilo: Ich verstehe das schon. Aber diese vermeintliche Weltläufigkeit wirkt für einen Großteil der 99 % wahrscheinlich nur schnöselig.
Klein Jonas: Schnöselig?

Oma Lilo: Junge, arrogante, von sich eingenommene Menschen halt.

Der lange Lulatsch: Ich denke auch, dass das eine klassistische Note hat, was vor dem Hintergrund der Zahlen dann zum schlechten Witz wird.

Der Besserwisser: Die Schwäche von Fridays, Letzte Generation und Extinction Rebellion besteht ja gerade darin, dass sie die Ursache der Klimakatastrophe in der „Gier“ der Reichen sehen, aber nicht in einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das diese Gier erst ermöglicht. Sie adressieren ihre Forderungen an einen Staat, der Kapitalverwertung organisiert, also Wachstum von Überflüssigem durch Ausbeutung, Enteignung und Raub an der Natur.

Klein Jonas: System Change, not Climate Change. Ist es das nicht?

Der lange Lulatsch: Die Parole ist nicht schlecht. Aber, das auch als Kritik an unserer Reichtums-Diskussion: Es geht am Ende nicht um den ökologischen Fußabdruck von Elon Musk, also nicht um „die“ Reichen, sondern darum, die Konfrontation mit dem Kapital zu suchen.

Oma Lilo: Dann mache ich das Thema mal rund. Einen Tag nach Woodstock (1969) war David Crosby, einer der größten Kiffer ever, in der Dick Cavett Show im US-amerikanischen TV. Cavett fragte, ob’s etwas gäbe, das er schon immer mal im TV loswerden wollte? Crosby meinte, er würde gern was zu Umweltzerstörung sagen – ich verkürze mal: „Der einzige Weg, dies zu beenden ist, Öl- und Autokonzernen ihr Geschäft zu verbieten.“ Er zählte dabei etliche der Konzerne auf. Cavetts halbwegs witzige Reaktion: „Vier davon sind meine Sponsoren.“