Im Jahr 1983 war der Versuch, nach langen Jahren wieder eine umfassende Volkszählung (VZ) durchzuführen, zunächst vom Bundesverfassungsgericht wegen Datenschutzbedenken gestoppt worden. Das Urteil gab dann die Basis dafür ab, was seitdem als „informationelles Selbstbestimmungsrecht“ gilt. Doch auf der Grundlage dieses Urteils startete die CDU/FDP-Bundesregierung 1987 einen zweiten Versuch. Sie sah sich mit einer rasant sich entwickelnden Boykottbewegung konfrontiert. Auf den Protest reagierte die Staatsgewalt mit den üblichen Reflexen von Überwachung und Kriminalisierung. Die massenhafte Androhung von Zwangsgeldern ließ die Boykottbewegung am Ende einbrechen. So hatte die Kampagne zwar einen erstaunlichen Mobilisierungseffekt, der aber schnell verpuffte und kaum nachhaltige Wirkungen hinterließ. Der Umgang mit „den eigenen Daten“ wurde mit der wenig später einsetzenden Digitalisierung der Welt geradezu fahrlässig, und gegen die vielfältigen staatlichen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen regte sich seitdem zumeist nur bei „den üblichen Verdächtigen“ Kritik. Erst in den letzten zwei, drei Jahren ist wieder etwas von Sensibilität breiter Bevölkerungsteile mit der Datensammelwut zu bemerken. Die auch neue Form von (Online-)Protesten brachte immerhin einen Zwischenstop in Sachen Datenvorratsspeicherung.


Schon 1983 war die „Celler Initiative gegen die Volkszählung und anderen Datenmißbrauch“ auf eine ungewöhnliche Resonanz gestoßen. Zur Gründungsveranstaltung auf Anregung der „Alternativen Grünen Liste“ waren Mitte März etwa 200 Interessierte geströmt; 50- 60 Leute organisierten in der Folge Infostände und die Verteilung von Flugschriften. Nach dem Stop der VZ durch das Bundesverfassungsgericht feierte die Initiative ihren Erfolg mit einem dem Verfassungsschutz zugeschriebenen Dankesschreiben so:

„Liebe Celler VoBo-Initiative, Euch gebührt der innige Dank unserer Behörde. Durch Eure Arbeit habt Ihr doch tatsächlich innerhalb kürzester Zeit eine für Celler Verhältnisse erschreckend große Zahl von Boykottwilligen mobilisiert. Sicher, wir hatten schon damit gerechnet, daß die ewigen Nörgler und Randalierer, von denen es in Celle eine verschwindend kleine, völlig isolierte Minderheit gibt, sich gegen die Volkszählung auflehnen würden. Wenn ich mir als Verfasser dieser Zeilen eine persönliche Bemerkung erlauben dürfte, haben diese Krawallbrüder unserer Demokratie gute Gründe, Angaben über ihre zwielichtige Existenz dem Staat vorzuenthalten. Dann waren alle Mitarbeiter unseres Stabes jedoch völlig entsetzt, als unter den ca. 800 Teilnehmern Eurer Veranstaltungen – ein Kollege hat die genauen Zahlen – bisher scheinbar unbescholten gebliebene Bürger in großer Zahl erschienen. […] Einer unserer Fotografen hatte wirklich nicht mit einem solch starken Andrang auf Euren Info-Stand in der Fußgängerzone gerechnet. Sein Assistent mußte zum Nachladen der Kamera mehrmals eine nahegelegene Drogerie aufsuchen. Es sollten doch ausnahmslos alle Interessenten ins rechte Bild gerückt werden. […] WENN WIR DÜRFTEN WIE WIR KÖNNTEN … ORWELL WÜRDE STAUNEN. Gruß und Kuß Euer Verfassungsschutz.“ (Celler Zündel, 5/1983, S. 10)

1987 ging die Volkszählung dann in die zweite Runde, die Bewegung musste erneut ihre Mobilisierungskraft beweisen – und nun verstanden die staatlichen Stellen keinerlei Spaß mehr.

Unter der Überschrift „kontrollieren – kriminalisieren“ gab der Celler Zündel in der Februar-Ausgabe 1987 den Startschuss für die Celler Kampagne und stellte Fragen:

„Wozu dieser große Aufwand? Sollen die erhobenen Daten, wie lauthals propagiert, tatsächlich im Sinne des Bürgers/ der Bürgerin verwendet werden? Weiß der Staat nicht bereits ohne Volkszählung, daß Millionen von Menschen arbeitslos sind, daß billiger Wohnraum fehlt, daß soziale Einrichtungen notwendig sind. Doch was wird gemacht, um diese Mißstände zu beseitigen – nichts! Wozu werden die Daten der Volkszählung wirklich benötigt? Statistik ist nicht wertfrei, sondern abhängig von der herrschenden Macht und deren Interessen. Mit Hilfe der Volkszählung soll die Gesellschaft in wesentlichen Bereichen für Staatsund Kapitalinteressen planbar und rationalisierbar gemacht werden.“ Die Volkszählung wird im weiteren als Instrument der „Krisen- und Kriegsplanung“ sowie als „Steinchen auf dem Weg in den totalen Überwachungsstaat“ beschrieben.

Am 5. Februar luden Grüne und „Unabhängige Initiative“, der seinerzeitige Zusammenschluss von Autonomen und radikalen Linken, zu einer Infoveranstaltung ins Le Bistro (heute GDS) ein. Es kamen rund 150 Besucher_ innen, und es gründete sich die „Volkszählungsboykott- Initiative“. Wöchentlich fanden Plena im Le Bistro statt, bei denen regelmäßig 20-30 Leute aus einem Aktivist_innenpool von rund 60 Menschen teilnahmen.

Die Motive der Gegner_innen waren sehr breit gefächert. Während in den Flugblättern und Infobroschüren eine politische Kritik am Überwachungsstaat im Zentrum stand, war es bei vielen Bürger_ innen wohl eher eine diffuse Angst vor dem „Blick in ihr Schlafzimmer“.

Besonderes Interesse fanden deshalb weniger die Argumentationen gegen den staatlichen Erfassungswahn und die dahinterstehenden Interessen, sondern eher die praktische Frage: Wie kann ich risikolos die Volkszählung boykottieren? Für einen kurzen Zeitraum wurden zehntausende Menschen so dann doch eher zu Verwaltungsrechtsexpert_ innen, denn zu Gegner_innen staatlicher Politik. - Eine bei Zweitausendeins erschienene Broschüre mit Rechts- und Verhaltenstipps (Verena Rottmann/Holger Strohm: "Was Sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können") verkaufte sich über 250.000mal.

Die Celler Kampagne lief vor allem über Informationsstände in der Innenstadt und diverse Veranstaltungen. Mit rund 150 Teilnehmer_ innen am besten besucht war am 1. April eine Veranstaltung mit Jürgen Täger vom Institut für Rechtsinformatik der Uni Hannover. In der Städtischen Union beantwortete er die Fragen unter dem Motto „Was Sie schon immer über die Volkszählung wissen wollten“. Schon im März hatte es im Le Bistro einen so genannten „Volkszähl-Abend“ mit dem ironisch gemeinten Titel „... und bitten um Ihr Verständnis“ gegeben, bei dem mit Sabine Roisch, eine Mitarbeiterin der Landtagsgrünen, eine Einführung gegeben hatte und anschließend ein in der Celler Boykottinitiative mitarbeitender Rechtsanwalt auf Detailfragen Auskunft zu geben versuchte. Hier platzte der Saal aus den Nähten, es waren deutlich mehr als 100 Besucher_innen. Nur 50-60 Teilnehmer_innen hatte dagegen eine Veranstaltung mit dem hannoverschen Rechtsanwalt Schindler zum Thema „Ausländer und Volkszählung“. Dabei war diese Bevölkerungsgruppe individuell am ehesten durch die Datenschnüffelei gefährdet – illegaler Aufenthalt, falsche Meldeangaben etc. waren schon damals Strategien von Asylbewerber_ innen, sich den ausgrenzenden Lebensalltag in der Bundesrepublik angenehmer zu machen bzw. drohenden Abschiebungen zu entgehen.

Eine breite Außenwirkung erzielte die VoBo-Initiative insbesondere durch die massenhafte Verteilung von Flugblättern. Von einem vierseitigen Info wurden in Stadt und Landkreis 7000 Exemplare unter die Leute gebracht. Die Argumentation war in weiten Teilen politisch, auch wenn insbesondere die „Schnüffelei“ denunziert wurde. So heißt es:

„Sie sehen, die Datensammelwut ist grenzenlos und macht auch vor Ihren sensiblen persönlichen Daten nicht halt. Dabei werden die konkreten Verwendungszwecke, denen diese Daten dienen sollen, nicht angegeben. Der Staat sammelt Ihre Daten „auf Vorrat“. [...] 1970 hat die letzte VZ stattgefunden, jedes Jahr werden im Rahmen des Mikrozensus umfangreiche Datenerhebungen vorgenommen. Tatsache ist, daß diese Erhebungen weder dazu beigetragen haben, Arbeitslosigkeit zu verringern, den Bau anonymer und menschenfeindlicher Wohnsilos in den Städten zu verhindern, Kindergärten und Schulen dort zu bauen, wo sie dringend benötigt werden. Im Gegenteil, Kindergärten fehlen an allen Ecken und Enden, Schulen sind zusammengeschlossen worden und zu „Schulzentren“ zusammengefaßt worden; oft verbunden mit langen Anfahrtswegen für die Kinder! Und das alles mit unseren Daten!“ (aus: Was Sie schon immer über Volkszählung wissen wollten – Flugblatt vom März 1987)

Wie überall im Land wurden die Boykottwilligen aufgefordert, ihre unausgefüllten Haushalts- und Personenfragebögen bei Boykottsammelstellen abzugeben. Hierfür diente das Büro der Grünen in der Bredenstraße als Anlaufstelle. Die Bilanz der eingesammelten Bögen war Mitte Juni eher ernüchternd; in der Stadt Celle waren Mitte Juni 683 unausgefüllte Fragenbögen abgegeben worden. Insgesamt hatten aber rund 3.000 Celler_ innen (4,3 %) bis zum 10.8. ihre VZ-Bögen nicht zurückgegeben, bei ca. 15 % der Haushalte waren Nachfragen notwendig. Dies ging aus einer 19 Punkte umfassenden Ratsanfrage der Grünen hervor. (Die Grünen informieren, 09/1987)

Immerhin wurde mit dem „Altpapier“ noch eine schöne Aktion durchgeführt. Am 27. Juni hingen in Poststraße und Zöllnerstraße Hunderte von unausgefüllten Bögen an einer zwischen die Laternenpfeiler gespannten Wäscheleine. Die Cellesche Zeitung schrieb: „Die Freiwillige Feuerwehr wurde gerufen und von der Polizei gebeten, die unwillkommene „Zier“ der Innenstadt zu entfernen (was dann auch unter den Augen einer Polizeistreife und mittels Stehleiter geschah.) Wieweit die „Dekoration“ des Celler Stadtzentrums mittels Volkszählungsbogen strafbar sein könnte, konnte noch nicht in Erfahrung gebracht werden.“ (CZ, 29.06.1987)

Und die Stadt Celle entblödete sich nicht, dem Ortsverband der Grünen die Kosten der „Maßnahme zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr“ in Rechnung stellen zu wollen. Für „Ausgeführte Arbeiten für die Beseitigung des verkehrsgefährdenden Zustandes: Leine entfernt, da nicht gestattet und unfallträchtig“ wurden 136,54 DM berechnet. (Schreiben der Stadt Celle vom 24.09.1987) Die Grünen nahmen es mit Humor: „Über Ihre SOGGebührenrechnung haben wir zunächst herzhaft gelacht. Zweifellos eine originelle Idee der durch die Steuerrefom belasteten Stadtkasse nun Gebühren für die Beseitigung einer „an Leuchten aufgehängte[n] Wäscheleine mit Plakaten“ zu erheben. Nur, wie kommen wir zu der „Ehre“. Wäre es nicht logischer, die Parteien der Regierungskoalition um einen Obolus zur Sicherung der Gemeindefinanzen zu bitten? […].“ (Schreiben des OV der Celler Grünen vom 28.09.1987) Gezahlt wurde übrigens nicht.

Weitaus aggressiver und tatsächlich kostenträchtig waren jene staatlichen Maßnahmen, die darauf zielten, den Boykottelan mit Zwangsgeldern, Strafandrohungen und am Ende sogar einer Hausdurchsuchung zu brechen. Aber im einzelnen:

Die Staatsmacht wollte sich mit den Protesten nicht so einfach abfinden und offenbarte, dass die Meinungsfreiheit Grenzen kennt. Am 31. März widerrief die Stadt eine schon erteilte Standgenehmigung; Begründung: Bei den beiden vorherigen Ständen sei Infomaterial verteilt worden, in dem zum Boykott aufgerufen worden sei. Die Grünen riefen das zuständige Verwaltungsgericht Stade an. Ergebnis: Zwar wurde ihnen mit Eilbeschluss die Möglichkeit eingeräumt, einen Stand zu errichten, aber mit der Maßgabe, „daß solches Infomaterial, welches seinem Inhalt und Sinn nach deutlich zu einem Boykott der Volkszählung 1987 aufruft, nicht ausgelegt, verteilt oder in ähnlicher Weise angeboten werden darf.“ (2 VG D 28/27 vom 3.4.1987) Damit sah das Gericht die grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit gewahrt.

Selbstverständlich hielt sich die Initiative nicht an diese Vorgabe. Die Stadt verhängte daraufhin aufgrund des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten eine Geldbuße in Höhe von 200 DM. Interessant ist in der Begründung, dass die Stadt Widerworte gegen den ermittelnden Polizeiobermeister „strafverschärfend“ wertete: „Ihre Einlassung vor Ort gegenüber dem POM Sch.[...] ist nicht geeignet, den Vorwurf zu entschuldigen und wurde bei der Höhe der Geldbuße besonders berücksichtigt. Sie waren der Meinung, sich nicht an Verfügungen oder Beischeide halten zu müssen, weil die durch die Volkszählung ermittelten Daten mißbräuchlich verwendet werden könnten und es dringend der Aufklärung der Bevölkerung bedarf.“ (Schreiben der Stadt Celle vom 31.03.1987)

Die Stadt nahm den Bußgeldbescheid zwar im Mai zurück, aber gab das Verfahren an das Niedersächsische Landesverwaltungsamt ab, das sich inzwischen als zentrale Verfolgungsstelle etabliert hatte. Von dort wurde dem Standanmelder am 24. April die Einleitung eines Ermittlungsverfahren mitgeteilt. Die Vorwürfe: „Nach meinen Feststellungen sollen Sie seit Januar 1987 in Celle öffentlich dazu aufgefordert haben, die gesetzlich vorgeschriebene Teilnahme an der zum 25.05.87 stattfindenden Volkszählung zu boykottieren. Sie sollen insbesondere in dem Flugblatt mit dem Titel „Die Grünen informieren“ mit der Nummer 1/1987 als Verantwortlich Zeichnender im Sinne des Presseberichts [sic!] es zugelassen haben, daß dieses Flugblatt öffentlich verteilt wurde. Darin wird durch zwei Abbildungen und der Aufforderung, Fragen im Zusammenhang mit der Volkszählung nicht zu beantworten, offen zum Boykott aufgerufen. Darüberhinaus luden Sie zum 05.02.87 zu einer öffentlichen Veranstaltung u.a. zu dem Thema Boykottmöglichkeiten ein.“ (Schreiben des Landesverwaltungsamts vom 24.04.1987)

Diese Verfahren wurden letztendlich alle eingestellt; aber der OV der Grünen hatte nicht unerheblich Rechtsanwalts- und Prozesskosten zu tragen.

Die Grünen gerieten wegen ihrer vorbehaltlosen Unterstützungskampagne – sowohl auf der Straße wie auch im Celler Stadtrat und den Gemeinderäten in Winsen und Bergen – zunehmend ins Visier. Nur so ist zu erklären, dass die Staatsanwaltschaft schließlich sogar die Durchsuchung des Parteibüros anordnete. Aufgrund eines Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlusses des Amtsgerichts Celle beehrte der Ermittlungsdienst des Polizeireviers Celle am 20. Mai die Büroräume. Statt die ab 17 Uhr angegebene Öffnungszeit abzuwarten, bohrte man schon eine Stunde vorher einfach das Türschloss auf. Selbstverständlich war dann bei der Durchsuchung kein Vertreter oder Nachbar dabei, sondern einzig ein Vertreter der Stadt. Der Beschlagnahmebeschluss richtete sich auf „sämtliche Exemplare der Druckschrift „Celler Zündel“, Untertitel „Der Letzte, das war's!“, soweit diese sich im Besitz der bei ihrer Verbreitung mitwirkenden Personen befinden oder öffentlich zum Kauf angeboten werden, ferner die Beschlagnahme der Platten, Formen, Drucksätze, negative oder Matritzen, die zur Herstellung der S. 8-11 gedient haben.“ Doch die Polizei beschränkte sich nicht auf die 13 noch vorhandenen Exemplare, sondern beschlagnahmte weitere Broschüren und Flugblätter. In einem Schriftsatz von Rechtsanwältin Eisele heißt es dazu: „Die Mitnahme dieses Materials zur Volkszählung 1987 durch die Polizei belegt, daß es bei der Durchsuchung in Wirklichkeit nicht um die Durchführung eines Strafverfahren gegangen ist, sondern um die polizeiliche Unterdrückung der politischen Meinungsfreiheit bezogen auf die Volkszählung 1987.“

Auch gegen Flugblattverteiler_innen wurde vorgegangen. Gegen einen der „üblichen Verdächtigen“ verhängte das Amtsgericht Hannover am 8. Februar 1988 ein Bußgeld in Höhe von 300 DM (zuzüglich Verfahrenskosten). Tatbestand: Das ordnungswidrige Verteilen von Flugblättern am 14. März 87 in der Celler Innenstadt. Zum Verfahren war es erst durch die Anzeige - besser Denunziation – eines Polizeibeamten gekommen: Ihm sei der Beschuldigte "eindeutig bekannt", dieser habe Flugblätter "aktiv verteilt", während andere Leute hinter einem Info-Tisch "nur auf Kundschaft gewartet" hätten. Daran, ob er das inkriminierte Flugblatt vom Beschuldigten erhalten habe, konnte sich der Polizeiobermeister nicht erinnern, aber: Wenn es so in den Akten stünde, "dann muß ich das wohl von ihm erhalten haben". Für den Richter war es beim Urteil nicht entscheidend, ob in dem vierseitigem Flugblatt direkt zum Volkszählungsboykott aufgerufen worden sei. Entscheidend sei, wie es im "Gesamtzusammenhang" mit den "bildlichen Darstellungen" beim unbedarften "Empfängerhorizont" ankomme. (Vgl. Schlaglichter 02/1988)

Gegen den Ratsherrn der Grünen, Reinhard Rohde, erstattete das Landesverwaltungsamt schließlich noch Anzeige wegen "Aufrufs zur Sachbeschädigung" (das Abschnippeln der Nummern auf den VZ-Bögen). Das Verfahren wurde eingestellt. Überregional machte das Celler Oberlandesgericht in diesem Zusammenhang Schlagzeilen. Es befand in einem anderen Fall im Januar 1988, dass, wer dazu aufgerufen habe, die Kennziffer auf einem Volkszählungsbogen abzuschneiden, sogar eine Straftat begangen habe. Warum das Zerschneiden eines unausgefüllten Fragebogens eine Sachbeschädigung sein soll, begründete das Gericht so: "Es liegt eine erhebliche Substanzverletzung vor, weil mit der Kennziffer verschiedene Zwecke verfolgt werden. Für den Staat bedeutet es einen unverhältnismäßigen Aufwand, ohne die Kennziffer seine Ziele zu erreichen".

Die einzelnen Boykottwilligen hatten sich im Sommer 1987 mit Zwangsgelddrohungen auseinanderzusetzen. Bis Mitte August hatte die Stadt Celle 1400 so genannte Heranziehungsbescheide verschickt. Im ersten Schritt wurden 200 DM Zwangsgeld angedroht, falls die Erhebungsbögen nicht bis zu einem bestimmten Datum eingehen würden, im zweiten Schritt 400 DM. Daraufhin gaben selbstverständlich viele ihre – wie auch immer – ausgefüllten Bögen ab. Die Celler Boykottinitiative hatte sich schleichend verabschiedet - durch die Abstimmung der Füße —, nachdem sie Tausende von Flugblättern verteilt, Informationsstände, Veranstaltungen, Beratungen usw. durchgeführt hatte. Eine öffentliche Auswertung am 27. August besuchten nur noch 30 Aktive. Unbestritten war, dass die VZ politisch nicht gekippt werden konnte und dass der Plan, durch massenhafte Widersprüche die Justiz lahmzulegen, gescheitert war.

Für das Scheitern der Boykottbewegung war mit entscheidend, dass sich im Grunde genommen nur die Grünen, linksradikale Gruppierungen und einige Bürgerrechtsorganisationen hinter den Widerwillen der Bürger_innen stellten. Bei Gewerkschaftsführungen und der SPD obsiegte die Staatsräson. Auf der anderen Seite stellt die Boykottbewegung 1987 ein interessantes Beispiel für die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition dar. Die Grünen sorgten im Stadtrat mit Anfragen und „Aktuellen Stunden“ für Informationen und mediale Aufmerksamkeit, die – im weiten Sinne – „Autonomen/ Linksradikalen“ übernahmen die außerparlamentarische Organisierung.

Für die Stadt Celle beliefen sich die Kosten für die Volksaushorchung übrigens auf 515.075,27 DM. Unter Einbeziehung kalkulatorischer Kosten (nicht gezahlte Mieten, Benutzung der städtischen Büromaschinen etc) errechnet die Stadt 606.500 DM (je Einwohner_in 8,63 DM). Erstattet wurden vom Land nur 241.464,25 DM. Entgegen den Empfehlungen der VoBo-Initiative wurden auch Zwangsgelder gezahlt: 33.300 DM konnte die Stadt hier auf der Einnahmenseite verbuchen. (Die Grünen informieren, 08/1988)