Die Kürzungsorgie gegenüber den Erwerbslosen ist in eine neue Runde gegangen.
Fünf Euro mehr beim Regelsatz für Erwachsene, die Regelleistung bei Kindern wird nicht erhöht. Die zusätzlichen Sonderleistungen für Kinder und Jugendliche lassen einen Bürokratiedschungel erwarten. Doch die Proteste bleiben weitgehend aus.
Wir sprachen mit zwei Vertretern der „Erwerbsloseninitiative Celle“. Sie gibt seit September 2004 einmal im Monat als Beilage zur lokalen Ausgabe von ASPHALT das Infoblatt „Vorsicht Falle“ heraus. {jcomments on}
??: Fünf Euro mehr ab Januar. Was habt ihr gedacht, als Ursula von der Leyen diesen Aufschlag ausgewürfelt hatte?
!!: Wer die Diskussion im Vorfeld verfolgt hat, musste nicht überrascht sein. Die Betroffenen fühlen sich selbstverständlich verhöhnt. Die ersten Reaktionen, die wir mitbekommen haben, liefen darauf hinaus, dass sie sich diese fünf Euro in den Allerwertesten stecken könnten.
??: Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts haben zunächst alle eine deutliche Erhöhung der Regelsätze erwartet. Warum ist das nicht eingetreten?
!!: Es hätte in der Tat die Chance bestanden, eine gesellschaftliche Diskussion darüber zu führen, was ein menschenwürdiges Leben beinhaltet. Aber kaum jemand, weder Parteien, noch Gewerkschaften oder Kirchen haben die Ausgrenzung einer wachsenden Armutsbevölkerung in dieser Phase überhaupt thematisiert. Es wurde einfach abgewartet, was die Regierung tut. Und die hat ungestört ihr statistisches Betrugsmanöver durchgezogen.
??: Worin besteht die Kritik an der Neufestsetzung?
!!: Entscheidend für die Berechnung der Hartz IVSätze ist, welche Haushalte als Vergleichsmaßstab herangezogen werden. Bisher waren es die untersten 20 Prozent aller Einkommensbezieher, ohne die Hartz IVund Grundsicherungsbezieher. Jetzt wurde politisch entschieden, in dieser Vergleichsgruppe nicht nur all diejenigen zu belassen, die ergänzend Hartz IV oder Grundsicherung erhalten, weil ihr Lohn oder ihre Rente nicht reichen, sondern auch noch all die Haushalte, deren Einkommen sogar noch unter den Hartz IV-Sätzen liegen. Als selbst danach die Ergebnisse nicht passgerecht waren, wurde einfach festgelegt, statt der untersten 20 nur noch die untersten 15 Prozent zu berücksichtigen. Es wurde manipuliert, bis das Ergebnis passte.
??: Menschenwürde und Teilhabe an der Gesellschaft spielt also keine Rolle?
!!: Nein. Es geht allein um ein Statistikmodell. Das unterste Siebtel der Einkommenshierarchie bildet den Maßstab. Das Existenzminimum richtet sich so aus an der gesellschaftlich vorhandenen Armut. Mit den Hartz- Gesetzen ist ja der Niedriglohnsektor massiv ausgeweitet worden und damit einhergehend Armut. Wenn dann die Bemessung des gesellschaftlichen Existenzminimums am Konsumverhalten dieser Armutsbevölkerung ausgerichtet wird, kann dies zu nichts anderem führen als zu weiterer Verarmung, weiterer Mangelernährung und weiterer Ausgrenzung. Auf der Oldenburger Erwerbslosendemonstration hat dies ein Redner bildlich so auf den Punkt gebracht: „Wenn die untersten Schichten der Gesellschaft so verarmt sind, dass sie sich kein Obst und keine Bücher mehr leisten können, dann folgt nach diesem Modell daraus, dass Obst und Bücher nicht zum Existenzminimum gehören.“
??: Welche Chancen gibt es, diesen Teufelskreis zu zerbrechen?
!!: Ein zentrales Problem ist die gesellschaftliche Spaltung. Wer in der letzten Zeit mit Bekannten über Hartz IV diskutiert hat, hat mitbekommen, wie wirkmächtig die Parolen der BILD sind – selbst bei denen, die sie nicht lesen. Einerseits herrschen völlig irrige Vorstellungen darüber, wovon Erwerbslose tatsächlich leben müssen, andererseits zieht die Propaganda, wonach wer arbeitet, mehr haben müsse, als die, die nicht arbeiten. Nur ist ihre Konsequenz daraus fast nie, gegen Lohndumping zu reden, sondern die Ansprüche der Erwerblosen auf ein menschenwürdiges Leben zu negieren. Und selbst die Niedriglöhner, jederzeit in Gefahr selbst wieder erwerbslos zu werden, missgönnen der Hartz IVEmpfängerin z.B. die 100 Euro für jedes Kind zum Schuljahresbeginn.
??: Bevor wir zu den Kindern kommen – was sind die falschen Vorstellungen, die sich Menschen aus den Mittelschichten über Hartz IV machen?
!!: Was kriegen wir zu hören: „359 Euro? Mehr habe ich doch auch nicht.“ Wenn wir dann fragen: „Taschengeld oder Haushaltsgeld“? Meist ist es das Haushaltsgeld, aber es wird dabei vergessen, dass Telefon und Internet, Versicherungen, Strom, Zeitungsabos usw. alles zusätzlich vom Konto abgebucht wird. Getankt wird mit der Kreditkarte, Bahntickets werden im Internet gekauft, für Geburtstage wird was vom Konto abgehoben. Da ist aber bei Hartz IV-Abhängigen nix drauf! Häufig kommt auch das Argument, während des Studiums sei man doch auch mit BAFöG zurechtgekommen. Und – fragen wir: Nebenbei gejobbt? Derartige Einkünfte werden bei Hartz IV angerechnet, also größtenteils abgezogen. Und was nie bedacht wird: Wer ein auskömmliches Einkommen hat, hat ein festes Fundament an Kleidung, an Möbeln, Elektronik etc. – damit ist es bei langjähriger Erwerbslosigkeit vorbei. Und mit Kindern wird das Ganze dann entwürdigend, wenn kaum noch einer der alltäglichen Wünsche erfüllt werden kann.
??: Für die Kinder hat sich Ursula von der Leyen doch die Chipkarte ausgedacht.
!!: Da möchte ich noch kurz was zu dem Regelsatzwahnsinn sagen: Was hat es mit realen Bedürfnissen zu tun, wenn in den neuen Regelsätzen für die Ernährung eines 13-jährigen Kindes 27 Euro und 47 Cent pro Monat weniger enthalten sind als für ein 14-jähriges Kind? Das Festhalten an den bisherigen Regelsätzen für Kinder ist einfach nur noch eine große Missachtung ihrer grundlegenden Bedürfnisse.
??: Wie steht ihr zur Chipkarte?
!!: In der Tat muss es nicht immer nur mehr Geld sein. Wir sind durchaus mit Sachleistungen einverstanden, gern nach dem skandinavischen Vorbild, auf das sich von der Leyen mit ihrer Chipkarte so gern bezieht. Wir sind schwer dafür, dass alle Kinder gemeinsam lernen bis zur zehnten Klasse, dass der Transport zur Schule nichts kostet, dass sämtliche Schulmaterialien bezahlt werden, dass es ein gesundes und kostenloses Mittagessen für alle Kinder in der Schule gibt, dass alle Kinder bis Nachmittags professionell und liebevoll betreut werden. Solche Sachleistungen für alle nehmen wir gerne, denn eine solche soziale Infrastruktur würde tatsächlich die weitere Spaltung der Gesellschaft stoppen und Integration voranbringen. Dafür aber braucht es keine Chipkarte, mit denen die armen Kinder nur noch mehr diskriminiert und ausgegrenzt werden.
??: Hättet Ihr eigentlich vor 6 Jahren gedacht, dass es „Vorsicht Falle“ noch im Jahr 2010 geben muss?
!!: Nein. Die ursprüngliche Absicht war, die Monate vor Einführung des Sozialgesetzbuches II (SGB II), also „Hartz IV“, die Betroffenen zu informieren und vielleicht ein bisschen über den Januar 2005 hinaus. Denn es war abzusehen, dass es nicht sofort zu einer rechtssicheren Umsetzung kommen würde. Wir hatten zwischendrin immer mal wieder die Hoffnung, dass wir unsere Arbeit würden einstellen können. Aber „Pustekuchen“, wie man so sagt.
??: Woran liegt es, dass es immer noch Streit um die Auslegung der Gesetze beziehungsweise die Ausführung durch die Behörden gibt?
!!: Oberflächlich betrachtet entstehen die Konflikte dort, wo der Gesetzgeber es unterlassen hat, klar zu definieren, was „angemessen“ ist, z.B. bei den Kosten der Unterkunft. Dann ist das SGB II in etlichen Aspekten so kompliziert, z.B. bei Zuverdienstfragen, dass weder Erwerbslose noch Sachbearbeiter da durchgeblickt haben. Da waren und sind dann am Ende die Sozialgerichte gefragt, die mit ihren Entscheidungen so etwas wie Rechtssicherheit schaffen müssen.
??: Absicht oder Dummheit des Gesetzgebers?
!!: Eindeutig Absicht. Überall dort, wo Regelungen nicht eindeutig sind, kommt Macht zum Tragen. Und die Erwerbslosenverwaltungen standen von Beginn an unter dem Druck, den Kostenfaktor „Erwerbslose“ runterzuschrauben. Da es nicht durch Vermittlung in Arbeit geht, werden andere Wege gesucht. Und das heißt exzessive Leistungseinschränkungen z.B. bei den Obergrenzen für die Wohnkosten – und auch Kürzungen bei den Regelleistungen durch Druck und Sanktionen.
??: Ihr informiert regelmäßig über neue Beschlüsse der Sozialgerichte. Warum schält sich da nicht irgendwann eine klare Linie heraus?
!!: In manchem war das ja so. Wir haben etliche Beschlüsse gegen den Landkreis Celle durchgesetzt, der bei uns für die Kosten der Unterkunft zuständig ist. Aber selbst, wenn an dem einen oder anderen Punkt scheinbar Klarheit geschaffen ist, hat der Landkreis immer wieder versucht, dies zu unterlaufen. Und selbstverständlich gibt es eine unabhängige Gerichtsbarkeit nur im Sozialkundeunterricht. Gerade zuletzt haben wir den Eindruck, dass die Sozialgerichte sich nach der Melodie richten, die aus dem Chor von Politik und Medien herauszuhören ist.
??: Ich muss gestehen, dass ich bei „Vorsicht Falle“ manchmal den Eindruck habe, Ihr schreibt für Jurist_ innen, so kompliziert ist für mich die Materie. Wie kommt das bei den Betroffenen an?
!!: Wahrscheinlich ähnlich. Aber zunächst mal liefern wir einen Hinweis. Dann müssen die Betroffenen überlegen, ob die geschilderte Sachlage mit ihrer konkreten Situation zusammenpasst. Und wenn sie das bejahen, können sie für das weitere Vorgehen die Beratungsstellen aufsuchen. Manche versuchen auch direkt, unsere Tipps umzusetzen. Und darum geht es uns: einen Beitrag zur Selbstermächtigung der Erwerbslosen zu leisten.
??: Wie schätzt Ihr den Erfolg eurer Arbeit ein?
!!: „Gefühlt“ haben wir den Eindruck, dass Erwerbslose in Stadt und Landkreis Celle besser informiert sind als in anderen Regionen und sich gezielter und erfolgreicher gegen rechtswidrige Bescheide wehren können.
??: Wie lange wird es Eurer Infoblatt noch geben?
!!: Vielleicht kann mit der bevorstehenden Abschaffung der getrennten Aufgabenwahrnehmung mehr Rechtssicherheit in Celle einkehren. Denn die größeren Probleme hat bisher der Landkreis Celle verursacht. – Was aber ein zur Zeit noch nicht überschaubares Problem werden wird, sind die Sachleistungen für Kinder. Denn da wird es über Monate wieder eine Unklarheit geben, welche Leistungen von wem beansprucht werden können.
??: Eine letzte Frage zur Organisation der Erwerbslosen: Ihr nennt Euch ja „Initiative“, aber seid es gar nicht im eigentlichen Sinne, oder?
!!: Wir machen tatsächlich ausschließlich Beratungsarbeit auf Basis des Flyers und der Internetpräsenz. In Celle gibt es als Selbsthilfeorganisation vor allem das Bündnis Soziale Gerechtigkeit. Aber auch das ist eine vergleichsweise kleine Gruppe. Regional existiert das „Bündnis arbeitssuchender Niedersachsen“, das auf fachlicher Ebene versucht, die Initiativen zu vernetzen. Wichtig wären aber in der Tat Organisationsformen, die sich nicht nur an den Zumutungen abarbeiten, sondern gesellschaftlich intervenieren. Da ist aber vor Ort zur Zeit nichts in Sicht. Langzeiterwerbslosigkeit führt – aus materiellen und psychologischen Gründen – in der Regel zum Rückzug aus gesellschaftlichen Aktivitäten, das betrifft dann auch die ureigensten Interessen