Die yezidischen Kurden sind in Celle die größte Migrant_innengruppe. Sie lebt heute in einem weitgehend spannungsfreien Nebeneinander zu alteingesessenen „Biodeutschen“ wie auch zu anderen migrantischen Gruppen. Die Religion ist in den vergangenen Jahren für die Yezid_innen in Deutschland zunehmend ins Zentrum ihrer Identität gerückt. Die religiös fundierte Endogamie, also das Gebot nur innerhalb der yezidischen Gemeinschaft heiraten zu dürfen, bedeutet dabei nicht nur für viele Yezid_innen selbst eine Belastung, sondern dürfte auch ein "Integrations"-Hemmnis sein. 

Über die Hintergründe und die Möglichkeiten des Wandels der Religion in der europäischen Diaspora führten wie ein Interview mit der Religionswissenschaftlerin Prof. Dr. Dr. Ina Wunn (Foto rechts), zur Zeit Professorin an der Universität Bielefeld mit dem Arbeitsschwerpunkt „Religion und Migration“.

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??: Als ich vor rund 30 Jahren meine ersten Kontakte zu Yeziden hatte, war deren Identität vor allem dadurch bestimmt, dass sie sich als Kurdinnen und Kurden definierten. Ihr Symbol waren die kurdischen Nationalfarben, und bei einer Frage nach dem „Engel Pfau“ hätten viele abgewinkt. Dieses Verhältnis hat sich im vergangenen Jahrzehnt umgekehrt. Der nationale Befreiungskampf in der ehemaligen Heimat verliert an Interesse, die religiöse Identität gewinnt die Oberhand. Wie lässt sich dies erklären?

!!: Als die Yeziden nach Deutschland kamen, waren sie eine tatsächlich verfolgte Minderheit und zusätzlich noch inmitten der innertürkischen Auseinandersetzung zwischen linksgerichteten und konservativ-religiösen Kräften. Die Yeziden haben sich als Kurden auf die Seite der Linken geschlagen und gerieten in den Bürgerkrieg in Kurdistan. Inzwischen gibt es für die hiesigen Yeziden diesen Druck nicht mehr; man behauptet sich auch in Deutschland nicht mehr so stark gegen eine türkische Mehrheit als Kurde. Stattdessen geht es hier nun um die Identität als (Neu-)Deutscher mit nicht-deutschen Wurzeln: Wer bin ich, was macht mich anders als die alteingesessenen Deutschen, aber auch anders als die türkischmuslimischen und kurdisch-muslimischen Einwanderer? Und hier ist es das Yezidentum, das identitätsstiftend wirkt, wobei die meisten Yeziden außer den Heiratsvorschriften und der Zugehörigkeit zu einem Peschiman [Priester] kaum wissen, was das Yezidentum eigentlich ausmacht.

??: Nach manchen Konflikten mit der deutschen Obrigkeit (Stichwort PKK) und der "biodeutschen" Bevölkerung (Stichwort Jugendkriminalität) ist in den vergangenen 10, 15 Jahren ein weitgehend spannungsfreies Nebeneinander entstanden. Ein Integrationshemmnis sind aus meiner Sicht bis heute die deutlich schlechteren Schulchancen der Jugendlichen mit yezidischem Familienhintergrund. Dafür ist, das weisen alle Studien aus, zunächst einmal das selektive deutsche Schulsystem verantwortlich. Aber es gibt auch noch Unterschiede zwischen verschiedenen Zuwanderergruppen. So sind Kinder aus asiatischen Familien in Celle „erfolgreicher“ als Kinder aus yezidischen Familien. Gibt es da kulturelle Hintergründe, die zu bedenken wären?

Grabstätte von Scheich Adi im irakischen Lalish!!: Die schlechteren Schulergebnisse sind auch darauf zurückzuführen, dass die Eltern mit dem Schulsystem in Deutschland und der Bedeutung eines guten Schulabschlusses für die berufliche Laufbahn nicht vertraut sind oder waren. Die Großelterngeneration bestand aus Analphabeten; das Analphabetentum war ursprünglich religiös verankert - nur die oberste Kaste durfte den heiligen Text studieren, wobei das Yezidentum sowieso weniger eine schriftgestützte Glaubensreligion ist, sondern eine sogenannte ethnische Religion, in der religiös begründete und im sozialen Kontext überlieferte Vorschriften das Miteinander regeln. Schriftgestützte Bildung steht daher traditionell nicht hoch im Kurs. Auch gelten hier recht altertümliche Männlichkeitsvorstellungen, die in bildungsfeindliches Machogehabe münden. Dies ist jedoch nicht typisch yezidisch, sondern trifft auf viele Ethnien und Gruppen im südlichen und östlichen Mittelmeergebiet zu, in denen vor allem der Begriff der Ehre wichtig ist. Ehre macht sich dann bei Männern an Tapferkeit, bei Frauen an Jungfräulichkeit fest.

??: Aus persönlichen Kontakten weiß ich um die Probleme, die die Heiratsregel - insbesondere bei yezidischen Frauen - hervorruft. Deshalb hatte ich vor einigen Jahren schon mal aufgemerkt, als ich in einem Aufsatz die These las, dass eine Formalisierung oder Säkularisierung der Religion einen "Ausweg" bieten könnte.

!!: Natürlich wird Säkularisierung einen Ausweg bedeuten, und langfristig werden Säkularisierungstendenzen auch das Yezidentum erfassen; aber da die Yeziden ihr Yezidentum noch brauchen, um ihre eigene Identität damit zu definieren, wird das zunächst einmal kein Ausweg sein. Es wird vielmehr etwas anderes stattfinden: Das Yezidentum wird von einer ethnischen Religion, die sich über die Geburt und die Zugehörigkeit zu einer Kaste - wie der Hinduismus - definiert, zu einer Glaubensreligion. Dazu gehört, dass junge Leute nun intensiv nach den Glaubensgrundlagen des Yezidentums suchen, diese in den Vordergrund stellen und die Heirats- regeln als überholt darstellen. Letztlich passiert also etwas Ähnliches wie bei der Reformation unter Luther: Religion wird von einer ordnenden Kraft zu einer Frage der persönlichen Glaubensüberzeugung. Religion wird also intellektualisiert und vor allem theologisiert. Vielleicht ist das sogar das Entscheidende: Wir können von einer intensiven Theologisierung des Yezidentums sprechen. Dadurch erfolgt dann eine Abwertung des regulativen Anteils der Religion, oder, wieder theologisch ausgedrückt: des orthopraktischen Teils, der in den Hintergrund rückt. Irgendwann wird man also nicht nur zwischen unterschiedlichen Kasten heiraten, sondern auch zum Yezidentum konvertieren können.

??: Das Yezidentum zeigt sich geprägt durch ein Kastenwesen und das Endogamiegebot, also die Anforderung nur in der eigenen Ethnie bzw. sogar Kaste heiraten zu dürfen. Wie lässt sich diese „Regel“ erklären? Und auf der anderen Seite: Welche Probleme bringt sie in der Diaspora hervor?

!!: Kurden sind ein indoeuropäisches Volk, und dieses kennt Kasten. Ursprünglich gab es die Einteilung in Priester, Krieger und Bauern. Bei den Indern sind dies heute noch die Großkasten der Brahmanen, Kshatriyas und Vaishyas; in Europa hat sich die Ständeordnung bis ins Mittelalter erhalten. Bei den Yeziden wurde diese Ständeordnung überlagert durch ihre Religion, die durch den Gründer eines Mystikerordens, Sheik Adi, ihr heutiges Gesicht bekam. Mystikerorden sind hierarchisch organisiert. An der Spitze steht der Pir, darunter die Sheiks, und zuletzt die Murids. Kastenwesen und Ordenshierarchien haben sich dann überlagert, so dass der Pir heute die weltliche Spitze (Kshatriya), die Sheiks und Peshimame die „Brahmanen“ und die Murids die Vaishyas bzw. den Bauernstand bilden. Eine Besonderheit bei den Yeziden ist, dass die Standesbezeichnungen auch auf bestimmte Stämme verteilt sind, sodass jeder Stamm einen Teil der Oberschicht stellen konnte. Letztlich sorgte die Regelung also in einer Umwelt, die über Jahrhunderte zwischen verschiedenen muslimischen Reichen heftig umkämpft war, für innere Stabilität und garantierte das Überleben dieser Gruppe. Heute, in der Diaspora, ist das Verhalten sinnlos – hier wäre statt einer Religion, die ethnischen Zusammenhalt und soziales Verhalten definiert und absichert, eher eine Bekenntnisreligion sinnvoll, die mit so genannten anderen Sinnanbietern konkurrieren kann.

??: Wir erleben in den vergangenen Jahren, dass das Endogamiegebot zur größten Belastung innerhalb der Celler yezidischen Community geworden ist. Nahezu jede Familie muss mittlerweile damit leben, Kinder – insbesondere junge Frauen – zu „verlieren“. Nach außen pochen manche in der Öffentlichkeit auftretende Vertreter unter dem Aspekt der Religionsfreiheit weiter auf die Unantastbarkeit der Regel. In Gesprächen mit jungen Yezidinnen und Yeziden höre ich deshalb eine eher resignative Haltung heraus, die sich ein Aufbrechen des Endogamiegebots frühestens für die Kinder ihrer Kinder vorstellen können. In Ihrem Beitrag für die „Zeitschrift der Ezidischen Akademie“ beschreiben Sie eine andere Tendenz. Welche Möglichkeiten haben ethnische Religionen, sich in der Diaspora zu wandeln?

!!: Jede Religion reagiert auf ihre Umwelt, indem sie sich den Bedürfnissen der Mitglieder anpasst; d.h. jede lebendige Religion ist wandlungsfähig und wandelt sich. Auch das Christentum heute hat mit dem mittelalterlichen Christentum nur noch wenig gemein. Heute sind es junge yezidische Intellektuelle, z.B. Mitglieder der Ezidischen Akademie in Hannover, die sich intensiv mit ihrer Religion auseinandersetzen, nach ihren schriftlichen und historischen Grundlagen fragen und versuchen, das „Eigentliche“, welches häufig ein ethisches Element ist, in ihrer Religion zu finden.

??: Ihr Aufsatz endet mit der These, dass sich das Yezidentum als offene Religion erweisen werde. Welche Schritte wären hierbei denkbar?

!!: Ich sehe durch mein Gespräch mit aktiven Vertretern dieser Religion, dass der Wandel, sprich die Theologisierung, sehr intensiv verfolgt wird, so dass junge intellektuelle Yeziden heute ein ganz anderes Verhältnis zu ihrer Religion haben als noch die Elterngeneration.

??: Gibt es Religionen, die sich in vergleichbarer Situation als anpassungsfähig erwiesen haben?

!!: Historisch gesehen hat das Judentum, ebenfalls ursprünglich eine ethnische Religion, gleichfalls durch seine Diasporaerfahrung (Vertreibung aus Palästina nach dem römisch-jüdischen Krieg) den Schritt von der ethnischen zur Bekenntnisreligion geschafft.



Der angesprochene Aufsatz von Ina Wunn: Yezidentum in Deutschland - eine ethnische Religion im Wandel In: Zeitschrift der Ezidischen Akademie, Ausgabe 03 , S. 8-11 . Hannover 2009 / Forum für Diskussionsbeiträge zum Ezidentum; findet sich hier. Die Ezidischen Akademie findet sich hier.