Kreisverwaltung verhält sich von Beginn an rechtswidrig

Wohnen ist ein Grundbedürfnis und elementarer Bestandteil der Daseinsvorsorge für alle Menschen. Seit Jahren aber werden in Celle Hartz IV-Berechtigte und Leistungsbezieher*innen nach dem SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) von der Kreisverwaltung in Angst und Schrecken versetzt. Sie ist in der Konstruktion „Jobcenter im Landkreis Celle“ zuständig für die „Kosten der Unterkunft“, also Kaltmiete, Nebenkosten und Heizkosten. Diese müssen „angemessen“ sein, um in voller Höhe erstattet zu werden. Und da nimmt das Übel seinen Ausgang. „Angemessen“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Das ist für die Kreisverwaltung seit Einführung der Hartz IV-Gesetzgebung Grundlage dafür, die Betroffenen in großem Umfang und rechtswidrig um die Erstattung ihrer vollen Wohnkosten zu – sagen wir’s mal deftig – bescheißen. Hunderte Menschen und Familien haben deshalb seitdem ihr gewohntes Wohnumfeld verlassen müssen oder zahlen die Lücke aus ihrer Regelleistung.

Mit einer seit Januar neu geltenden „Mietwerttabelle“ sind erneut – nach Angaben der Landkreises – 101 Haushalte aufgefordert, ihre Mietkosten zu senken. D.h. umziehen in eine günstigere Wohnung oder die Lücke selbst bezahlen, wie es – nach Angaben der Kreisverwaltung am 31.12.2018 schon 250 Haushalte taten. (Wir halten die Zahlen für viel zu niedrig, siehe dazu auch die letzte revista). Dabei ist die Art und Weise wie die Kreisverwaltung meint, die Mietobergrenzen bestimmen zu können, seit Beginn rechtswidrig. Dies schildern wir im Folgenden und zeigen, wie man/frau sich wehren kann.

Rechtswidrig … zum Ersten

Zu Beginn der neuen Gesetzgebung machte es sich die Kreisverwaltung einfach. Anscheinend ziemlich willkürlich wurden Beträge für die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft festgesetzt. Vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (künftig LSG) wurde diese Verfahrensweise schon im Dezember 2005 in einem Eilverfahren als rechtswidrig angesehen. Die Kreisverwaltung ignorierte dies jedoch und ging den langen Weg durch die Gerichtsinstanzen – um schließlich vom LSG am 11. März 2008 dazu verurteilt zu werden, als angemessene Kosten der Unterkunft einen Betrag entsprechend der Wohngeldtabelle 2009 zuzüglich 10 % zu gewähren.
Die Wohngeldtabelle bildet eine Grundlage zur Gewährung einer anderen Leistung, nämlich des Wohngeldes, auf das Haushalte mit geringem Einkommen (die nicht Hartz IV beziehen) schon seit 1965 einen Anspruch haben. Die Wohngeldtabelle bildet die Obergrenze der Angemessenheit ab – gestaffelt nach Haushaltsgrößen und Mietenstufen, die die Unterschiede der Wohnungsmärkte berücksichtigen (also z.B. Großstadt und Kleinstadt).

Da diese Wohngeldtabelle nicht strittig ist, haben die Sozialgerichte sich immer wieder auf den Standpunkt gestellt, dass sie dort zu Grunde zu legen ist, wo es keinen Mietspiegel oder andere schlüssige Konzepte zur Bewertung der Mietkostensituation vor Ort gibt. In der Rechtsprechung hat sich durchgesetzt, auf die Werte der Wohngeldtabelle dann noch 10 % aufzuschlagen, um so zum Beispiel Preisentwicklungen bei Neuvermietungen zu berücksichtigen. Sinn und Zweck dieses Vorgehens wird in Gerichtsurteilen immer wieder klar benannt: „Auch um Leistungsempfängern und den Sozialleistungsträgern zur Bestimmung des Begriffs der Angemessenheit klare und eindeutige „Richtlinien“ an die Hand zu geben“. Dies wird jedoch von der Kreisverwaltung Celle konsequent ignoriert.

Warum wendet dann die Kreisverwaltung nicht diese Regelung an? Sie ist in den allermeisten Fällen günstiger für die Hartz-IV- und Grundsicherungs-Empfänger*innen.

In weiteren Blindflügen gibt deshalb Landrat Wiswe seitdem Wohnungsmarktgutachten in Auftrag, die jeweils Kosten in Höhe von 50.000 € bis 80.000 € verursachen, aber das Gegenteil von Rechtssicherheit schaffen. Kein einziges hat bisher die Anforderungen erfüllt, die das Bundessozialgericht im Juni 2008 für Wohnungsmarktgutachten vorgegeben hat.

Rechtswidrig … zum Zweiten

Durch Beschlüsse des Sozialgerichts Lüneburg (künftig SG) wurde im Juli und August 2009 in Bezug auf die Celler Mietwerterhebung entschieden: „Das Gutachten enthält gravierende Mängel, die sich durch das gesamte Gutachten ziehen. Es ist in sich nicht schlüssig.“

Folge war, dass von Seiten der Kreisverwaltung als angemessene Kosten der Unterkunft ein Betrag bis zur Wohngeldtabelle 2009 zuzüglich 10 % als angemessene Kosten der Unterkunft zu berücksichtigen war.
Wer jetzt annimmt, dass die Praxis in Bezug auf die angemessenen Kosten der Unterkunft nunmehr rechtskonform anpasst worden wäre, wird enttäuscht. Die Kreisverwaltung ging erneut den langen Instanzenweg, um beharrlich an seiner rechtswidrigen Praxis festzuhalten. Man weiß eben, dass sich nicht alle Betroffenen wehren – und so „spart“ man halt unterm Strich Geld. (Foto rechts: Ulrich Wockelmann)

Rechtswidrig … zum Dritten

Das Kalkül der Kreisverwaltung ist dadurch geprägt, dass gerichtliche Entscheidungen im Hauptsacheverfahren erst erfolgen, nachdem wieder eine neue Mietwerterhebung oder eine neue Festlegung über die Kosten der Unterkunft erfolgt ist. Dies muss alle zwei Jahre geschehen. Gerichtsverfahren in Hauptsacheverfahren können aber gerne drei bis vier Jahre dauern. So hat z.B. das SG im Oktober 2014 entschieden:

„Da im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners kein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der angemessenen Unterkunftskosten (mehr) existiert und dem Gericht keine ausreichend anderen aktuellen Erkenntnisse zur Bestimmung der angemessenen Unterkunftskosten vorliegen, ist auf die Höchstwerte des § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10 % zurückzugreifen …“.

Das SG Lüneburg hatte bereits im Februar 2014 dargelegt, dass die Mietwerterhebung 2009 keine sachgerechten Werte in Bezug auf die Kosten der Unterkunft darstellt, und darauf verwiesen, dass das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in einem Beschluss vom November 2013 ebenfalls erhebliche Zweifel daran geäußert hat, dass die Celle Mietwerterhebung 2009 den Anforderungen des Bundessozialgerichts an ein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der angemessenen Unterkunftskosten im Grundsicherungsrecht genügt. In weiteren Klageverfahren erklärte sich die Kreisverwaltung jeweils bereit hat, Kosten der Unterkunft nach § 12 Wohngeldgesetz (also Wohngeldtabelle) zuzüglich 10 % zu gewähren.

Völlig eindeutig führte das SG Lüneburg im Januar 2017 erneut aus: „Das zur Beurteilung der Angemessenheit von Unterkunftskosten herangezogene Mietwertgutachten vom 01.04.2009, das im Auftrag des Beklagten von der Firma Analyse & Konzepte GmbH erstellt wurde, dürfte – wie in bereits mehreren anderen von dem erkennenden Gericht geführten Verfahren – keine tragfähige Grundlage für die Bestimmung der Angemessenheit sein. Auch das erkennende Gericht hat im Hinblick auf die Validität der Datengrundlage der Überprüfbarkeit der erhobenen Daten sowie der angewandten Berechnungsmethoden erhebliche Zweifel, dass das Mietwertgutachten den Anforderungen des Bundessozialgerichts an ein „schlüssiges Konzept“ entspricht und einer Überprüfung standhält.“

Obwohl von Anfang der Kreisverwaltung die Erkenntnis hätte vorliegen müssen, dass die Mietwerttabelle 2009 rechtswidrig ist, hat sie einer Veränderung nur in den gerichtlich anhängigen Verfahren zugestimmt und Anerkenntnisse durchgeführt, damit keine hochinstanzlichen Entscheidungen erzielt werden konnten – und so gegenüber den anderen Haushalten nichts geändert werden musste. Faktisch war aber die Mietwerttabelle 2009 als auch deren Fortschreibung, die bis zum 31.12.2014 angewendet wurde, in vollem Umfang rechtswidrig.

Rechtswidrig … zum Vierten

Verwaltungsverfahrenstechnisch konformes Handeln der Kreisverwaltung hätte dazu führen müssen, dass eine Überprüfung der offensichtlich fehlerhaften Bescheide durch den Landkreis Celle hätte stattfinden müssen, um denHilfeempfänger*innen den ihnen zustehenden Betrag an Kosten der Unterkunft zu gewähren. Die vorenthaltenen gesetzlichen Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII dürften einen Betrag in Höhe von jährlich 500.000 bis 1.000.000 Euro betragen.

Aber zum 1. Januar 2015 ging die Kreisverwaltung in eine neue Runde. Der Endbericht trug den Namen Festlegung der Angemessenheitsgrenze gem. SGB II und SGB XII für den Landkreis Celle, wurde von der Beratungsfirma Forschung und Beratung aus Hamburg erstellt und im Jahre 2016 aktualisiert, so dass diese Berechnungsgrundlagen bis zum 31.12.2018 zur Beurteilung der Kosten der Unterkunft herangezogen wurden.

Wieder setzte der Landkreis auf die lange Verfahrensdauer beim SG Lüneburg und ließ es nicht zu Urteilen im Hauptsacheverfahren kommen - erneut, indem Anerkenntnisse durchgeführt wurden oder im Rahmen von Vergleichsvereinbarungen Leistungen für die Kosten der Unterkunft nach der Wohngeldtabelle zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10 % anerkannt wurden.

Im Februar 2019 – inzwischen war eine neue Mietwerttabelle in Kraft gesetzt – erklärte ein Prozessvertreter des Jobcenter gegenüber dem SG Lüneburg, „dass z.Zt. mit dem Landkreis Celle Gespräche geführt werden, ob auch durch die Rechtsfortschreibung das neue Konzept möglicherweise keinen Bestand haben kann. Für diesen Zeitraum besteht im Jobcenter Celle die Möglichkeit für die streitbefangenen Zeiträume nach der Wohngeldtabelle + 10 % Kosten der Unterkunft anzuerkennen.“

Dieses Anerkenntnis bezieht sich auf Klageverfahren, die seit Juli 2017 bzw. März 2018 anhängig sind – und im konkreten Fall ging es um Kosten der Unterkunft für den Zeitraum von März 2017 bis Februar 2018, in dem nunmehr Kosten der Unterkunft nach der Wohngeldtabelle + 10 % anerkannt wurden.

Demnach ergibt sich, dass die Mietwerttabelle 2015 und auch die Aktualisierung der Mietwerttabelle, die bis zum 31.12.2018 vom Landkreis Celle angewendet wurde, in vollem Umfange rechtswidrig ist.

Rechtswidrig … zum Letzten ???

In all den Jahren hat die politische Kontrolle – also der Kreistag – versagt. Aber auch nie hat die Kreisverwaltung in öffentlichen Sitzungen eingestanden, dass sie sich seit über einem Jahrzehnt an offensichtlich rechtswidrigen Grundlagen orientiert.

Das neue Mietwertgutachten, dass entgegen jeder Alltagserfahrung vielfach die ab 1.1.2019 geltenden Mietobergrenzen sogar gesenkt hat, war allerdings von Beginn an in der Kritik der Kreistagsfraktionen von SPD, Bündnis ‚90/Die Grünen, Die Linke und FDP. Leider hat es aktuell nicht den Anschein, als würde nach den Abstimmungsniederlagen im Sozialausschuss im Februar weitere Kritik folgen. Aber:

Jetzt wird es Zeit, aus der skandalösen Situation die Konsequenzen zu ziehen und den Landkreis Celle zu verpflichten, endlich als angemessene Kosten der Unterkunft die maßgebliche Wohngeldtabelle zuzüglich 10 % anzuwenden
Dem betrügerischen Treiben der Kreisverwaltung muss ein Ende gesetzt werden. Schon im Februar 2019 hat ein Prozessvertreter des Jobcenters gegenüber dem Sozialgericht Lüneburg wie oben zitiert, sich schon dahingehend geäußert, dass das neue Konzept möglicherweise keinen Bestand haben kann. Dies wurde nunmehr vom Sozialgericht Lüneburg im Beschluss S 32 SO 6/19 ER am 09.05.2019 bestätigt. Dort lautet es

„Denn Fragen rund um die Erstellung schlüssiger Konzepte durch die Behörden bedürfen einer eingehenden und meist zeitintensiven Prüfung. Bei den in der Vergangenheit erstellten Mietwertkonzepten der Antragsgegnerin waren von Seiten des Landessozialgerichts (L 9 AS 510/13 und L 9 AS 1143/14) Mängel festgestellt worden, die zu der Nichtanwendbarkeit und zur Heranziehung der Wohngeldtabelle zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10 % führten […] Bei Abwägung des Interesses der Antragstellerinnen an der Gewährung tatsächlicher Unterkunftskosten – hier weiteren 37,00 € monatlich – mit den Interessen der Antragsgegnerin an einer rechtmäßigen und nur dem gesetzlichen Höchstmaß entsprechenden Leistungsgewährung überwiegt das Interesse der Antragstellerinnen.“

Der Landkreis Celle wurde somit vom Sozialgericht Lüneburg verpflichtet, die tatsächlichen Kosten der Unterkunft in voller Höhe bei den Sozialleistungen zu berücksichtigen.

Die Forderung kann jetzt nur lauten, sofortige Rücknahme des aktuellen Mietwertgutachtens und Aufhebung sämtlicher Leistungsbescheide ab dem 01.01.2018, in denen Leistungsempfänger betrogen wurden mit der Sicherstellung der rückwirkenden Gewährung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft entsprechend eines zu berücksichtigenden Höchstwertes nach der Wohngeldtabelle + 10 %. Dazu wäre die Kreisverwaltung im Rahmen eines redlichen, bürgernahen und rechtskonformen Handelns verpflichtet.

Sämtlichen Betroffenen, bei denen die Kosten der Unterkunft nicht in voller Höhe übernommen werden, ist zu empfehlen, gegen rechtsmittelfähigen Bescheide Widerspruch einlegen und einen Überprüfungsantrag für den vergangenen Zeitraum stellen. Daneben ist es erforderlich, dass ein Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung durchgeführt wird, und wenn ein ablehnender Widerspruchsbescheid vorliegt, eine Klage.

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Was können Betroffene tun?

Zu empfehlen ist, dass sämtliche Betroffene, bei denen die Kosten der Unterkunft nicht in voller Höhe übernommen werden, gegen den rechtsmittelfähigen Bescheid Widerspruch einlegen und einen Überprüfungsantrag für den vergangenen Zeitraum stellen. Daneben ist es erforderlich, dass ein Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung durchgeführt wird.

Beim Vergleich der Mietwerttabelle 2019 des Landkreises Celle für einen Einpersonenhaushalt und der Angemessenheitsgrenze nach dem Wohngeldgesetz zuzüglich 10 % ergibt sich, dass höhere Kosten der Unterkunft lediglich im Bereich der Stadt Celle zu erzielen wären, laut Mietwerttabelle Landkreis Celle 380 €, Wohngeldtabelle 386,10 €.

Bei den Zweipersonenhaushalten wäre ein höherer Wert Wohngeldtabelle + 10 % in den Gemeinden Bergen, Eschede, Faßberg, Hermannsburg, Loheide und Unterlüß gegeben, nämlich anstatt Mietwerttabelle Landkreis Celle 380,00 €, Wohngeldtabelle + 10 % 415,80 € und bei den Zweipersonenhaushalten ergibt sich bei der Stadt Celle ein höherer Wert, nämlich Mietwerttabelle Landkreis Celle 410,00 €, Wohngeldtabelle + 10 % 520,30 €.

Ab Dreipersonenhaushalten ist immer die Wohngeldtabelle + 10 % höher. Die Differenz liegt z. B. Bergen, Eschede, Faßberg und Unterlüß Mietwerttabelle Landkreis Celle 405,00 €, Wohngeldtabelle + 10 % 495,00 €, Flotwedel, Lachendorf, Wathlingen, Wietze und Winsen Mietwerttabelle Landkreis Celle 479,00 €, Wohngeldtabelle + 10 % 495,00 € und für die Stadt Celle ergibt sich Mietwerttabelle Landkreis Celle 501,00 €, Wohngeldtabelle + 10 % 619,30 €.

Bei allen weiteren Haushalten, vier Personen, fünf Personen, sechs Personen etc. ist immer die Wohngeldtabelle + 10 % wesentlich höher.

Also sollte sich bei der o. g. Haushaltskonstellation und den Kosten der Unterkunft ergeben, dass nicht die tatsächlichen Kosten der Unterkunft anerkannt werden, kann im Rahmen eines Überprüfungsantrages gegen alle Bescheide, die für den Zeitraum ab dem 01.01.2019 ergangen sind, Rechtsmittel eingelegt werden und der höhere Betrag bis zur Wohngeldtabelle + 10 % gefordert werden.

Wir haben entsprechende Musterschreiben auf unsere Internetseite gestellt, auch für einen Überprüfungsantrag ab den 01.01.2018 – siehe https://www.revista-online.info/index.php/archiv/online-archiv/273-musterantraege